Editorial
Watte & Schaum


von Karl Mueller

9/2017

trend
onlinezeitung

'Die Bücher' des Marxismus sollen studiert werden. Doch muss das
im Zusammenhang mit der konkreten Situation unseres Landes geschehen.

Mao – Gegen die Buchgläubigkeit

Im letzten Editorial schrieben wir im Hinblick auf die Erstellung eines "neues Drehbuch" als Metapher für das revolutionäre Programm:

"Das Leninsche Parteikonzept gilt nostalgisch eingestellten Kommunist*innen heute nach wie vor als adäquate Antwort darauf. Dem konnten wir beide uns nicht anschließen, da die klassensoziologischen und -kulturellen Bedingungen, die dieser Theorie zugrundeliegen, sowie die Formen der damaligen kapitalistischen Verwertung der Ware Arbeitskraft nebst dazugehöriger politischer Spielregeln heute durch andere Formen abgelöst wurden. An diesem Punkt angekommen, brachen wir unser Gespräch ab und beschlossen eine Denkpause einzulegen, um diesen Faden, der im doppelten Sinne ein "Roter Faden" dieses Drehbuches ist, in einem Folgespräch fundierter wieder aufnehmen zu können."

Für die Septemberausgabe bekamen wir zwei Texte mit der Bitte um Veröffentlichung, die thematisch dort anknüpfen, wofür wir uns eine Denkpause genommen haben.

In ihren Thesen skizzieren W. Bücker und W.R. Gettèl die objektive Überreife des "Spätkapitalismus" und wenden sich von da aus dem "subjekten Faktor" zu.  Für diesen gesellschaftskonstitutiven Zusammenhang formulieren sie quasi programmatisch:

"Mit drei Illusionen ist primär aufzuräumen: dass das bürgerliche Parlament Tribüne der Revolution sei; dass durch Reformen eine gerechte Gesellschaftsordnung erreicht werden könne; dass die Partei alten Typs die Vorhut des Proletariats sei."

Und für die Organisationsfrage schlagen sie folgende Alternative zur Leninschen Partei vor:

"Das Proletariat der führenden westlichen Länder hat eine lange historische Phase bürgerlicher Demokratie hinter sich. Es wird keinen Sinn darin sehen, sich altbackenen Parteireglementierungen unterzuordnen, die basisdemokratische Strukturen ausschließen. Die aber sind notwendig, die Komplexität heutiger Verhältnisse zu erfassen. Allwissende Funktionäre, die zwar verstehen, sich jahrzehntelang an der Macht zu halten, sind Relikte aus vergangenen Zeiten. Innerparteiliche Demokratie und hierarchische Machtverhältnisse sind miteinander nicht vereinbar ....  Eine Partei, die eine höhere, eine sozialistische Demokratie anstrebt, muss sie hier und heute schon vorleben. Hält sie aber einen Sozialismus hoch, der mit Demokratie nichts zu tun hatte, und bleibt bei ihrem grundsätzlich nicht veränderten Parteiapparat, hat sie einer westlich geprägten Gesellschaft im Grunde nichts Neues, geschweige denn Erstrebenswertes zu sagen."

Auch die Gruppe "Klassenstandpunkt" sieht das bürgerliche Parlament nicht mehr als einen Kampfplatz für das Proletariat an und ruft daher anläßlich der anstehenden Bundestagswahlen zum Wahlboykott auf. Doch anders als Bücker und Gettèl ziehen sie daraus die entgegengesetzte Konsequenz. Die Partei des Proletariats soll kein Wahlverein sein, sondern durch eine "Kampfmaschine des Proletariats zur Eroberung der politischen Macht mittels des revolutionären Krieges" ersetzt werden. Da es diese Kampfmaschine in der BRD nicht gibt, fühlen sie sich berufen, diese aufzubauen.

Übrigens ideengeschichtlich verweist das Prädikat "Kampfmaschine" allerdings nicht auf ein dialektisch-materialisches Denken, sondern auf ein bürgerlich-mechanistisches Weltbild in der Lesart von Thomas Hobbes, der in dem als Maschine organisierten Staat den Demiurg für die Massen sah. 

Während Bücker und Gettèl deutlich bemüht sind, ihre Ansichten diskussionsfähig zu machen, indem sie auf die objektiven Veränderungen in der kapitalistischen Produktionsweise der letzten Jahrzehnte eingehen und damit eine klassensoziologische Ableitung für ihr Organisationmodell formulieren, haben diesbezüglich die neomaoistischen Genoss*innen vom "Klassenstandpunkt" nur hohle Phrasen zu bieten, die zu allem Überfluss noch dazu dienen, alle Revolutionär*innen als "Unkraut" und Reformisten*innen als "Feinde" zu bezeichnen.

Wir haben lange mit uns gerungen, ob wir dieses Papier überhaupt veröffentlichen, war es uns doch mit der Bitte zugesandt worden, es einer "weiteren Diskussion" zuzuführen. Dazu ist es allerdings keineswegs geeignet. Denn wer die gegenwärtigen Widersprüche in dem von Kriegen geprägten Weltimperialismus mit Schriften aus den 1980er Jahren buchgläubig meint begriffen zu haben und (peruanische) Volkskriegserfahrungen des vorigen Jahrhunderts zur weltweit richtigen Strategie für den revolutionären Klassenkampf ernennt sowie als Minizirkel meint, die einzig richtige  "Demarkationlinie" für die Gewinnung proletarischer Massen gefunden zu haben, bei dem sehen wir derzeit  keine Anknüpfungspunkte für eine solidarische Diskussion über revolutionäre Strategie und Taktik. Wir dokumentieren daher diese Schmähschrift, zu der das Prädikat "Watte im Hirn und Schaum vorm Mund" gut passen würde, nur zu Zwecken der Abschreckung.

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In dieser Ausgabe gibt es ansonsten dank der anderen Autor*innnen keine weiteren "Watte & Schaum"-Ergüsse, sondern echte Highlights. Standardmäßig gehören Bernard Schmids Texte dazu. Diesmal besonders hervorzuheben sein Aufsatz über die  Arbeitsrechts-„Reform“ unter Emmanuel Macron.

Auch Max Brym lieferte wieder interessante Information zur Lage in Kosova.

Georg Klauda stellte uns freundlicherweise seinen bearbeiteten und neu eingeleitetenr Ausschnitt aus dem Beitrag in: Politiken in Bewegung: Die Emanzipation Homosexueller im 20. Jahrhundert zur Verfügung.

Und last not least wollen wir hier auf Fritz Kramers nahezu verschollenen Text zur asiatischen Produktionsweise aufmerksam machen, auf den wir durchen Diskussion im "Arbeitskreis Kapitalismus aufheben (AKKA)" über die Oktoberrevolution gestoßen sind.

Und zum Abschluss noch ein wenig Statistik von der Rankingseite: https://www.alexa.com/topsites/category/World/Deutsch/Medien/Alternative_Medien
(Stand:3.9.2017)