»Culture War« und progressiver Neoliberalismus
Der Erfolg der »Homo-Ehe« hat wenig mit den Kämpfen von Lesben und Schwulen, aber viel mit der Geschichte des Neoliberalismus zu tun.

Von Georg Klauda

9/2017

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Die Einführung der Ehe für alle erscheint vielen als Erfolg der Lesben- und Schwulenbewegung. Tatsächlich aber steht die »Homo-Ehe« im Gegensatz zu den hochfahrenden Utopien, die diese Bewegung seit den 1970er Jahren unterhielt. Zwar verfügte sie immer auch über einen integrationistischen Flügel, der sich einfach nur in die bestehenden Institutionen assimilieren wollte, ohne diese als solche in Frage zu stellen. Doch als Volker Beck (Grüne) die Forderung Ende der 80er Jahre im Dachverband der bundesdeutschen Schwulengruppen zu popularisieren versuchte, stieß er noch immer auf dieselbe Zurückweisung der Mehrheit, die sich stattdessen eine »neue Lebensformenpolitik« auf die Fahnen geschrieben hatte: Die Ehe sollte entprivilegiert und Verwandtschaftsrechte von dieser konservativen »Keimzelle« entkoppelt werden. Noch stärker war die Ablehnung im Lesbenring, der in der bürgerlichen Ehe eine patriarchale Institution erblickte, die bekämpft gehörte.

Wag the Dog

Doch Volker Beck hatte der Bewegung immerhin das Bewusstsein voraus, dass es in der Politik nicht auf das Wünschen und Wollen von Minoritäten, sondern auf die Mobilisierung gesellschaftlicher Großmilieus ankommt. Ohnehin hatte es sich bei der Schwulenbewegung um die bis dato wohl erfolgloseste politische Veranstaltung aller Zeiten gehandelt: 100 Jahre lang wurde gegen den antihomosexuellen Strafrechtsparagraphen 175 agitiert. Ohne jedes Kampfmittel, wie es der Arbeiterbewegung mit ihrer Möglichkeit zum Streik zur Verfügung stand, ein, so schien es, beinahe aussichtsloses Unterfangen. Als in den 1960er Jahren endlich eine Liberalisierung anstand, profitierten Homosexuelle eher kollateral von der Umwälzung des gesamten Sexualstrafrechts. Als schützenswertes Rechtsgut galt in den Novellen von 1969 und 1973 nicht mehr länger die Bewahrung einer religiös verbrämten Sittlichkeit, sondern das Prinzip der sexuellen Selbstbestimmung. Während die »Unzucht mit Tieren« gleich komplett freigegeben wurde, ohne dass sich hinter dieser Forderung jemals eine soziale Bewegung versammelt hätte, mussten Schwule weitere 25 Jahre mit einem diskriminierenden Sondergesetz leben. Nennenswerten Widerstand brachte die Schwulenbewegung auch hiergegen nicht auf die Beine.

Und auf einmal, so hören wir, soll sie so schlagkräftig gewesen sein, die »Homo-Ehe« auf die öffentliche Agenda zu setzen und sie zu seinem zentralen Streitpunkt im politischen Wettbewerb der Parteien zu machen? Etwa – wie Jens Dobler in dem neuen Sammelband »Politiken in Bewegungen« (Männerschwarm Verlag 2017) suggeriert – weil sie sich erfolgreich professionalisiert und ihren radikalen Kinderträumen entsagt hatte? Hier wird abermals ein grundlegender Zusammenhang auf den Kopf gestellt und so getan, als ob in der Politik »der Schwanz mit dem Hund wedelt«. Zu fragen wäre vielmehr, welche Interessen mehrheitsgesellschaftliche Akteure daran hatten, sich eine minderheitenpolitische Forderung herauszupicken, die ja nicht einmal unter Lesben und Schwulen auf sonderlichen Enthusiasmus stieß. Dazu muss man die Geschichte nacherzählen, allerdings ausnahmsweise einmal nicht aus der Froschperspektive der »Bewegung«, sondern aus der des Staates selbst.

»Progressiver Neoliberalismus«

In den 1980er Jahren begann unter Reagan und Thatcher, teils auch unter Kohl, ein massiver Angriff auf die Gewerkschaften als Institutionen der alten Arbeiterbewegung, eine Zertrümmerung des Sozialstaats und eine Umverteilung von unten nach oben in einem bisher nicht gekannten Ausmaß. Flankiert wurde diese neoliberale Offensive auf die Arbeiterrechte durch sozialpopulistische Kampagnen, die sich gegen Homosexuelle und Immigrant_Innen richteten und darauf zielten, den Konservatismus in der Arbeiterschaft für den Kampf gegen ihre eigenen Interessen zu mobilisieren. In Großbritannien etwa wurde 1988 mit der Section 28 (»No promotion of homosexuality«) ein Verbot erlassen, im Unterricht akzeptierend über homosexuelle Lebensformen zu sprechen – nicht unähnlich dem Gesetz gegen »Homopropaganda« 2013 in Russland. In den USA umwarb Ronald Reagan die christlichen Fundamentalisten, die gerade begonnen hatten, sich auf nationaler Ebene zu organisieren, um als Moral Majority für ihr Recht auf Diskriminierung von Schwarzen und Homosexuellen zu kämpfen. Gleichzeitig signalisierte der Präsident durch seine völlige Untätigkeit im Angesicht der Aids-Krise, dass das epidemische Sterben unter diesen Minderheiten ihn nicht im Mindesten interessierte. Die kulturelle Offensive der Konservativen war in den USA so erfolgreich, dass die moralische Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Beziehungen, entgegen dem allgemeinen Wertewandel im Zuge der sexuellen Revolution der 1960er Jahre, in den 1980ern sogar wieder unter das Niveau der 1970er Jahre sank.

In den 1990er Jahren schafften es die im weitesten Sinne sozialdemokratischen Parteien, diese neokonservative Hegemonie zu brechen, indem sie in die liberalen bürgerlichen Schichten vordrangen. Das Konzept dafür hieß »New Labour« in Großbritannien, »New Democrats« in den USA und »Neue Mitte« in Deutschland. Es bestand darin, den Thatcherismus beziehungsweise die Reaganomics als neues Paradigma zu akzeptieren und die in der Wirtschaftspolitik fehlende Differenz zwischen links und rechts auf der Ebene der kulturellen Politik neu zu erzeugen. Während Rot-Grün Hartz IV einführte und Bill Clinton das Recht auf Bezug von staatlicher Unterstützung für bedürftige Familien auf eine lebenslange Obergrenze von fünf Jahren beschnitt, dienten symbolpolitische Setzungen wie die Homo-Ehe und die Frauenquote in Führungspositionen zunehmend als Ausweis, dass man nach wie vor eine progressive Alternative darstellte. Linkssein wurde in Begriffen der Werte des postmateriellen Bürgertums vom Kampf gegen soziale Ungleichheit in die Anerkennung von kultureller Differenz redefiniert. Analog vollzog sich in den Universitäten der als »cultural turn« bezeichnete sagenhafte Aufschwung der Kultur- und der beinahe ebenso markante Niedergang der Sozialwissenschaften.

Diese Entwicklung verleiht den neuen sozialen Bewegungen einen merkwürdig affirmativen Touch. Ihre Kritik an anderen, eher symbolisch verfassten Formen der Unterdrückung wird enteignet für die Legitimation der neoliberalen Wende in den Parteien der ehemaligen Arbeiterbewegung und der jetzt arrivierten »Neuen Linken«. Vollends komplettiert wird der »Sieg« der Schwulenbewegung allerdings erst durch den Erfolg von David Camerons Konzept der »Red Tories«, das auf den kulturellen Wertewandel reagiert, indem es seinen Wählern einen modernisierten, schwulenfreundlichen und geschlechtergerechten Konservatismus präsentiert. Während Drogenabhängigen, Alkoholkranken und Dicken der Entzug von Hilfsleistungen angedroht wird, kann sich der britische Premier durch die Öffnung der Ehe gleichwohl als Vertreter einer sozial inklusiven Politik inszenieren. Allerdings ist die Rebellion gegen diese Modernisierung des Konservatismus bereits in vollem Gange, wie man am rasanten Aufstieg rechtspopulistischer, homophober und immigrantenfeindlicher Parteien und Bewegungen erkennen kann – der amerikanischen »tea party«, UKIP in Großbritannien, der AfD und Pegida in Deutschland.

Relativ geschickt haben die »blairistisch« orientierten Sozialdemokraten Anfang der 2000er Jahre für gleichgeschlechtliche Paare lediglich ein Institut minderen Rechts, die eingetragene Lebenspartnerschaft, geschaffen. »Die Homo-Ehe ist erst der Anfang«, prognostizierte damals die Queer-Theoretikerin Sabine Hark. Allerdings handelte es sich eher um einen Anfang ohne Ende. Durch die Minderberechtigung der Lebenspartnerschaft geriet die Debatte um Gleichstellung mit der Ehe zu einem jahrzehntelangen Tauziehen, an dem sich eine kulturelle Differenz, ein Kampf um »Werte«, inszenieren ließ, in dessen Schatten sich der scheinbar alternativlose neoliberale Umbau der Gesellschaft vollzog. Da wiederkehrende Umfragen jedoch belegten, dass die Konservativen den von ihnen in den 1980er Jahren eröffneten Wertekonflikt auf lange Frist verlieren würden, wagten die Red Tories knapp zehn Jahre nach der Einführung der »civil partnership« den Befreiungsschlag und räumten das leidige Thema durch die Öffnung der Ehe endlich vom Tisch.

Blue vs. Red Labour

Die Verknüpfung der lesbisch-schwulen Erfolgsgeschichte mit dem Siegeszug des Neoliberalismus gibt allerdings auch einem neuen linkskonservativen Populismus Auftrieb, der auf den Diebstahl seines politischen Markenkerns mit einer ressentimentgeladenen Politik reagiert, die darauf zielt, die vergrätzten Teile der Arbeiterklasse mit denselben ideologischen Mitteln an sich zu binden, derer sich auch die Rechte bedient. Hierfür steht in Britannien das Label »Blue Labour«, das sich nach der Wahl Ed Milibands in den Parteivorsitz zeitweise anschickte, zum ideologischen Ersatz für Blairs abgewirtschaftete »New Labour«-Strategie zu werden. So macht Ian Geary als einer der Vordenker und Protagonisten von Blue Labour die Beschäftigung mit Themen wie Immigration und »Schwulenehe« für die Entfernung der Labour Party von den »konservativeren Instinkten des britischen Volks« und somit indirekt für den Verlust von ca. 4,5 Millionen Stimmen aus der Arbeiterschicht seit dem Wahlsieg Blairs im Jahre 1997 verantwortlich. Tatsächlich kann diese Beschuldigung vor allem als Kaschierung der eigenen Rolle im neoliberalen Projekt gelesen werden, für dessen Übernahme die Labour Party seit Jahren von ihrer ehemaligen Stammwählerschaft abgestraft wird. Blue Labour antwortet darauf mit einer melancholischen Bezugnahme auf die Arbeiterbewegung vor 1945, die ihr aber zugleich als Mittel dient, die Sozialstaatskritik von New Labour nur unter anderem ideologischen Vorzeichen zu reproduzieren. Die neoliberale Zerstörung des von Premier Attlee nach dem Krieg geschaffenen Wohlfahrtssystems wird dabei keineswegs in Frage gestellt, sondern von Blue Labour geradezu als Möglichkeit gefeiert, sich auf die alten Werte der Arbeiterbewegung wie Solidarität und wechselseitige Kooperation zurückzubesinnen und sie aus der bürokratischen Klammer des »Big State« zu befreien. Ähnlich wie Cameron in seinem Konzept der »Big Society« setzen auch die Blue-Labour-Strategen nicht mehr allein auf den Markt und das »eigenverantwortliche Individuum«, sondern auf Prinzipien kommunitärer Selbstaktivierung und zivilgesellschaftlichen Engagements. Je mehr aber der ideologische Appell an »Familie, Glaube und Flagge« als Ausweg aus dem Dilemma wachsender sozialer Unsicherheit erscheint, desto kritischer wird der angemaßte Ausbruch von Schwulen und Feministinnen daraus betrachtet.

Die Rechnung von Blue Labour, die Krise des Neoliberalismus mit einer neuen, konservativen Wertedebatte zu kitten, ist nicht aufgegangen. Stattdessen wurde die Labour Party von Aktivist_innen einer »neuen neuen Linken« überrannt, die mit ihrem Kandidaten Jeremy Corbyn das Thema soziale Ungleichheit nach 35 Jahren wieder zurück ins politische Zentrum hievte. Der US-Politologe Peter Beinart diskutiert diese Entwicklung mit Blick auf ähnlich überraschende Erfolge, welche sozialistische Kandidaten wie Bill de Blasio und Bernie Sanders bei den Vorwahlen der Demokratischen Partei in den USA erzielten. Den wesentlichen Grund dafür sieht er im Linksrutsch der zwischen 1980 und 2000 geborenen »Millenniums-Generation«, welche die Hauptlast der Einsparungen in der Bildungspolitik, der zunehmenden Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen und schließlich der Finanzkrise zu schultern habe. Zwar führe soziale Depravierung nicht automatisch zu einer Orientierung nach links, sondern könne die Betroffenen auch anfällig für den Appell an nationale, rassistische und heteronormative Privilegien machen. Allerdings reagiere diese Generation, so Beinart, »auf fast jede Streitfrage im Culture War drastisch liberaler als Senioren und erheblich liberaler als die Generation der Reagan-Clinton-Ära«. Dies liege nicht zuletzt daran, dass diese Alterskohorte auch in sich selbst viel diverser sei und zu 40 Prozent einer ethnischen oder hautfarbenbezogenen Minorität angehöre. Erst durch die Kombination dieser Faktoren werde das Verhalten der »Millennials« verständlich: »Ihre wirtschaftliche Notlage in einem Zeitalter limitierten Schutzes durch die Regierung und ihre Resistenz gegen rechten kulturellen Populismus sind es, die am besten erklären, warum die Angehörigen der Millenniums-Generation in Bezug auf ökonomische Fragen so weit nach links tendieren.«

Die Funktionalität des Culture War für die Ära neoliberaler Umverteilungspolitik hat sich in Britannien und den USA nach 35 Jahren offenkundig erschöpft. Allerdings sollte man nicht übersehen, dass eine Reihe von Lesben und Schwulen längst auch ein persönliches Interesse an der Fortschreibung ihrer zuletzt immer profitableren Rolle im neoliberalen Kulturkrieg entwickelt haben und bereit sind, sich an der Formulierung »neuer hautfarbenbezogener, ethnischer und sexueller Spaltungslinien« (Beinart) zu beteiligen. Die in der Lesben- und Schwulenbewegung seit Mitte der 1990er Jahre andauernde Debatte um die angeblich besondere Homophobie bestimmter Bevölkerungsgruppen bietet hierfür eine Steilvorlage. 2006 bewies der LSVD Berlin-Brandenburg mit seiner Forderung, den sogenannten Muslimtest aus Baden-Württemberg zu importieren, dass er bereit war, in der Einwanderungsdebatte die Seiten zu wechseln und selbst zum Element einer gegen die Bürgerrechte gerichteten Politik zu werden. Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Dringlichkeit, lesbisch-schwule Organisationen nicht nur mit einer intersektionalen Analyse zu konfrontieren, sondern auch den beschränkten Charakter einer Emanzipation herauszuarbeiten, die kaum mehr als der »Trostpreis für Progressive« in einer Zeit war, die sich ansonsten vor allem durch die Erosion sozialdemokratischer Parteien, den Krieg gegen die Armen und die wachsende Eskalation des sozialen Unterschiedes zwischen oben und unten auszeichnete.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Er  ist ein bearbeiteter und neu eingeleiteter Ausschnitt aus dem Beitrag von Georg Klauda in: Politiken in Bewegung: Die Emanzipation Homosexueller im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Andreas Pretzel und Volker Weiß. Hamburg: Männerschwarm Verlag, 2017. In gekürzter Form erschien er im ak 629 vom 15.08.2017.