Das chinesische Beispiel
Grundsätzliches zur asiatischen Produktionsweise

von Fritz Kramer

9/2017

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Die Geschichte ist für Marx ein Prozeß zunehmender Individuation und Abstraktion, zunehmender Lösung« von Individuum und Gemeinwesen, Natur und Gesellschaft (64). Ist dieser Prozeß In einzelnen Gesellschaf­ten Afrikas (65) und Amerikas(66) kaum in Gang gekom­men, und hat er sich in Europa voll entfaltet, aus der Gentilgesellschaft durch antike und feudale Produktionsweise im Kapitalismus vollendet, so ist er in Asien und Teilen Afrikas und Amerikas in der Form der asiatischen Produktionsweise stagniert (67).

In der APW ist die Beziehung des Individuums zum Eigentum, d. h. hier dem Grund und Boden, vermittelt durch die Gemeinschaft, nur insofern der Einzelne zur Gemeinschaft gehört, hat er Zugang zum Boden, der Eigentum der Gemeinschaft ist. Das gilt einerseits für das wirkliche Stammgemein­wesen, andererseits für das fiktive Gemeinwesen, den asiatischen Staat. Die Gesellschaft ist in zwei Klassen gespalten, die Bauern und die Bürokratie; die einen pro­duzieren und die anderen eignen sich das Mehrprodukt an. Die Produktionseinheit ist das Dorf als wirkliches Gemeinwesen, als kollektiv wirtschaftende Einheit. Die Distribution des Mehrprodukts erfolgt durch den Staat, der insofern ein fiktives Gemeinwesen ist, als er die Produktion nicht wirklich kontrolliert und die Dörfer unter sich weder durch Tausch noch sachlich zu einem zusammenhängenden Produktionssystem verbunden sind.

Alles Land ist nominell Staatseigentum, der Boden also nur im Besitz der Dörfer, was nichts anderes bedeutet, als daß der Staat Anspruch auf das Mehrprodukt hat, oder daß alle Rente Steuer ist. Der Staat eignet sich das Mehrprodukt meist in natura an und verteilt es teils als Revenue an die Bürokratie, teils verwendet er es als Fonds für öffentliche Arbeiten, vor allem Wasseranlagen und Krieg(68); denn das ist seine eigentliche Funktion, auf die er seine Macht stützen muß, wenngleich diese Funktion weder hinreicht zur Erklärung seiner Entstehung noch zu der seiner Erhaltung.

Der Despot (Herrscher oder Kaiser) ist die Personifikation des fiktiven Gemeinwesens. Der Zusammenhang der Gemeinschaft beruht auf teils wirklicher, teils fiktiver Verwandtschaft. Zwar mögen Herrschende und Beherrschte oft In derselben Sippengemeinschaft zusammengefaßt sein, was den Klassenantagonismus wesentlich verdunkelt: Aber der Despot, als Sohn des Himmels und Vater des Reiches ist reine Fiktion. Die Produktion ist bestimmt durch die Verschiedenheit der Arbeitsperiode und Produktionsperiode, die in der Agrarkultur natürlich ist. Während der Zeit, wo der Bauer nicht in der Lindwirtschaft tätig sein kann, widmet er sich der Hausindustrie, produziert also selbst Arbeitsmittel, Kleidung usw.

Der geringe Überschuß wird an Bootsleute, Fischer usw. getausht. Die Arbeitsteilung ist wenigg entwickelt, selbständiges Handwerk oder Manufaktur können sich nur rudimentär ausbilden, des Handel ist beschränkt, im wesentlichen auf Luxusgüter für die herrschende Klasse. Daraus resultiert die große Beständigkeit und Stagnation der APW. Die Produktionsbasis ist durch ihre naturalwirtschaftllche Form selbstgenügsam und stabil, ähnlich die Form des Staates.

Der Inhalt der Regierung ist unbeständig, nur betrifft der Dynastienwechsel weder die Form der Produktion noch des Staates. Die Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse ist dem Prinzip nach offen, bestimmt sich nach der Leistung, die durch Schulen und Prüfungssystem streng und genau erforscht wird. Nur hat das Wissen, das die Grundlage des Beamtentums ist, ziemlich wenig mit den tatsächlichen Funktionen der Beamten, also der Verwaltung, zu tun, ist vielmehr vor allem Herrschaftsideologie, wie z. B. der Konfuzianismus: Die materielle Form der Landwirtschaft erfordert weniger physische Kraft als Erfahrung, Daher verfügen die Alten über eine hohe Autorität. Diese drückt sich, da die Struktur der Gemeinschaft durch Verwandtschaft bestimmt wird, im autoritativen Gefüge der Sippengemeinschaft aus, das prinzipiell den Jüngeren dem Älteren und die Frau dem Mann unterordnet, in gewissem Maße sogar dann, wenn der Jüngere der herrschenden, der ältere der beherrschten Klasse angehört. Diese Autoritätsstruktur, die durch den Ahnenkult und das konfuzianische Ritual religiös Überhöht wird, findet ihre Spitze im Herrscher, der allerhöchsten Autorität. Die Loyalität ihm gegenüber ist höchstes und absolutes Gesetz, freilich nur der Idee nach, denn in Wirklichkeit hat der Herrscher kaum praktischen Einfluß, der einer Person schon durch den Umfang einer so großen und wenig oder einfach strukturierten Gesellschaft unmöglich ist. Die absolute Loyalität gilt weniger dem Herrscher als herrschender Person als dem Herrscher als Personifikation des fiktiven Gemeinwesens.

Solche Gesellschaften müssen und können mit einem Minimum an Gewalt den Klassenkampf unterdrücken und Herrschaft und Ausbeutung sichern. Gleichwohl handelt es sich bei der asiatischen Bürokratie um eine herrschende Klasse, auch da, wo sie die Ausbeutung Überhaupt nicht auf Privateigentum stützt. Sie versteht sich auch selber so, wobei freilich der Klassenantagonismus weniger den Eigentums- als den Herrschaftsverhältnissen entspringt: "Schon als Himmel und Erde entstanden", sagt Hsun Ch'ing, gab es einen Unterschied zwischen oben und unten, und als der erste König den Staat begründete, war die Gesellschaft gespalten. Zwei Edelleute können einander nicht dienen und zwei Männer aus dem Volke einander nicht die Arbeit zuweisen. Das ist die Mathematik des Himmels".  In diesen Worten ist sehr klar ausgedrückt, daß der Klassenantagonismus als natürlicher und ewiger begriffen wird. Er wird mit der Natur, mit Himmel und Erde, identifiziert, er wird nicht und kann nicht als ökonomisch bestimmter gesellschaftlicher Widerspruch begriffen werden. An der Wurzel dieser notwendigen Beschränkung des Klassenbewußtseins liegt die tatsächlich fehlende Lösung von Natur und Gesellschaft.

Der Reichtum der asiatischen Gesellschaft hängt wesentlich ab von der richtigen Versorgung mit Wasser, bei gegebenem Stand der Produktivkräfte. Überschwemmung und schlechte Bewässerung sind daher nicht einfach Naturkatastrophen, sondern weitgehend Folge schlechter Verwaltung. So erscheinen natürliche und gesellschaftliche Prozesse als identisch. Dies ist zugleich eine entscheidende Stütze der Herrschaft im Bewußtsein des Volkes: Eine gute Ernte erscheint als Verdienst, als Ausdruck von Stärke des Herrschers, was sie freilich absolut nicht ist, teilweise aber Verdienst einer richtigen Verteilung gesellschaftlicheer Arbeit, wofür der Herrscher wieder ein Symbol ist.

Die asiatische Produktionsweise dominierte in allen großen asiatischen Ländern vom vorderen Orient bis (Rußland und) Japan zumindest bis zum Einbruch des Imperialismus. Das heißt aber nicht, daß mit der asiatischen Produkttonswelse auch nur eins dieser Länder schon vollständig beschrieben wäre. In China (69) z.B. zeigten sich, von der asiatischen Produktionsweise dominert, Tendenzen einer antiken, dann feudalen, dann bürgerlichen Produktionsweise, die aber alle der asiatischen untergeordnet blieben.

In den Poren der asiatischen Produktionsweise kann sich eine Händlerklasse aus Sippenlosen bilden, die zu keiner Gemeinschaft gehören. Diese bleibt aber unemanzipiert, wenn nicht, wie in Japan in der Tokugawa-Zeit, bestimmte Momente zusammenwirken. Besonders aber enthält die asiatische Produktionsweise außer dem eigentlichen Klassenwiderspruch noch einen anderen: den Widerspruch zwischen Herrschaft und Aneignung des Mehrprodukts durch eine Klasse und dem Fehlen des Privateigentums, das sonst die Bedingung jeglicher Klassengesellschaft ausmacht. Der Mechanismus, in dem z.B. in der chinesischen Gesellschaft sich dieser Widerspruch entwickelte, folgt wieder Verwandtschaftsbeziehungen. Um die Zentralisierung der Bürokratie zu garantieren, ist es notwendig, daß die Distribution des Mehrprodukts an die Bürokratie von oben nach unten, vom Zentrum zur Peripherie erfolgt. Die Erhebung von Steuern geht aber den umgekehrten Weg, was die Möglichkeit von Unterschlagung, Bestechung und überhaupt umfassender Korruption der Bürokratie von vornherein enthält. Da der so von einzelnen Beam­ten zusammengescharrte Wert mit den jeweiligen Fa­milien geteilt werden muß, setzt sich - auf nicht ganz klare Weise - die Käuflichkeit des Grund und Bodens durch, so daß die herrschende Klasse, die Gentry aus zwei Teilen besteht, den privaten Grundbesitzern, die ihre Revenuee aus Rente haben, und den Beamten, die ihre Revenue aus Steuern haben. Beide Teile sind meist durch Verwandtschaft verbunden. Wegen ständiger Erbteilung wird der private Besitz periodisch zu klein, die Familien verarmen, daher müssen sie einen Beamten hervorbringen, der den Familiereichtum wieder erneuert usw. So dehnt sieh der private Teil des Grund und Bodens aus, seine Ausdehnung bleibt aber von der Bearbeitung abhängig. Zugleich versuchen die Grundbesitzer, den Bauern durch Wucher und Pachterhöhung einen wachsenden Anteil am Gesamtprodukt abzupressen. Für die Sicherung ihrer Herrschaft und ihres Eigentums ist die Verwaltung, der Staat, zuständig, der nicht unbedingt ein Interesse an einer überhöhten Ausbeutungsrate hat, da das die Sicherheit des Staates gefährdet. Wird nämlich die Ausbeutung zu hoch, sinkt das Lebensniveau der Massen, womöglich durch Hungerkatastrophen, schlechte Ernten und sofort, verstärkt, unter das Existenzminimum, verlassen die Bauern ihre Dörfer und rotten sich in Banden zusammen. Erstreckt sich die Not auf das gesamte Reich, so auch die Rebellion.

Das chinesische Reich ist in 2000 Jahren von etwa 7 großen Bauernrevolutionen erschüttert worden (70). Daneben gab es sehr viele lokale Aufstände; der Übergang vom Banditentum zur organisierten Rebellion ist fließend. Notwendig für die Rebellion war ein ständiger Zustrom aus den Dörfern, die Schaffung autonomer territorialer Basen und die ständige Ausdehnung dieser befreiten Gebiete, in denen die Rebellen die stark gesenkten Steuern selber einzogen. Das konnte aber nur erfolgreich sein, wenn die Mitarbeit der lokalen Notablen gewonnen werden konnte. Wo dies gelang, konnte die Revolution siegen, die Dynastie stürzen und ihre eigene errichten.

Im Bündnis mit den Notablen lag aber zugleich die Beschränkung: die herrschende Klasse konnte nicht vernichtet werden, da sie sich in den Reihen der Revolution selber befand. Zerbrach aber das Bündnis, scheiterte die Revolution. Dennoch war der Wechsel in der Spitze der herrschenden Klasse wichtig als Wechsel im Inhalt der Regierung: die neue Dynastie war bauernfreundlich und hatte die Unterstützung der Massen, indem sie die öffentlichen Arbeiten förderte, diente sie dem Volke, indem sie die Verwaltung stärkte und den privaten Grundbesitz bekämpfte, senkte sie die Ausbeutung der Massen.

Das ist der Sinn des '"rastlosen Dynastienwechsels", von dem Marx meinte, daß er sich bloß in der himmlischen Wolkenregion abspiele: die Bauernrebellion und der Wechsel der Dynastie nimmt die Feudalisierungstendenz, die Ausbildung des Privateigentums, zurück, die freilich bald darauf aufs neue einsetzt. Dies gilt auch dann, wenn die Rebellion der Bauein niedergeworfen wird. Dann  wird nämlich die Dynastie nach einiger Zeit von einem mächtigen
General gestürzt, der sie vielleicht vorher gegen die aufständischen Bauern geschützt hatte.

Da die Dynastie im Auftrag des Himmels regiert, ist jede Rebellion Verrat - es sei denn, sie ist erfolgreich. Dann ist der Auftrag geändert, die Rebellion ist gerechtfertigt. Die Revolutionen des chinesischen Reiches sind also links, weil sie die Lage des Volkes verbessern, und rechts zugleich, weil sie den historischen Fortschritt zurückwerfen und die asiatische Produktionsweise restaurieren. Dies ist ein spezifisches Dllemma der asiatischen Gesellschaft, das daraus resultiert, daß die asiatische Produktionsweise eine frühe Klassengesellschaft ist, in der der Antagonismus zwischen Herrschenden und Beherrschten nur  schwach ausgebildet ist und von den Bauern nicht als ein besonderes Produktionsverhältnis durchschaut, weil  er mit der Natur identifiziert wird.

Die japanische Gesellschaft hat dies Dilemma nicht anders als durch die brutalste Ausbeutung und Knechtung der Massen, durch die asiatische Form des Faschismus, und die Revolution von oben lösen können. China hat den Weg dialektischer Kooperation von Zentralgewalt und Volk unter ständiger Bekämpfung alte Privatisierungs- und Privilegierungstendenzen eingeschlagen.

Anmerkungen

(64) Siehe Grundrisse a.a.O.; Tökei, a.a.O.; Thomson, Die esten Philosophen = ders. a.a.O. Bd.2;  G. Childe, Social Evolution, London 1951. Die von der Sowjet-Wissenchaft beeinflußten Marxisten hängen meist einem leeren Schematismus an, der seinen Anfang schon bei Engels hat und unter dem Andrang von Fakten bloß modifiziert wurde; Zusammenfassung bei I, Sellnow, Grundprinzipien einer Periodisierung der Urgeschichte, Berlin 1961, S, 90-110 und passim.

(65) und (66) sind entfallen

(67)  Vgl. u. a. Premiere societé de classes et mode de production asiatique, Recherches internationales à la lumiere du marxismc, 57-58, 1967; Sur le mode de production asiatique, CERM, Paris, 1969; B. Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur, und Demokratie, Ffm. 1969

(68) "When water-benefits are developed, there will be good results in agriculture, and when there are good results in agriculture, the state's treasury will be enriched," (1671) Zit. bei Chi Ch'ao-ting, Key economic areas in Chinese history. N.Y. 1963 (Nachtdr.) S. 1 und passim.

(69) Siehe besonders Ghi, a.a.o. ;  K.A. Wittfogel. Wirtschaft und Gesellschaft Chinas, 1. Teil, Produktivkräfte, Produktions- und Zirkulationsprozess, Lpz. 1931.

(70) Vgl, Fitzgerald, Revolution in China, Ffm.1968

(71) a.a.O. S. 29

Quelle: Leseauszug aus: Fritz Kramer, Über den Sozialismus in China und Russland und die Marxsche Theorie der Geschichte, in: Rotes Forum Nr. 3/1970, hrg.v. SDS Heidelberg, S.13-15