Die Geschichte ist
für Marx ein Prozeß zunehmender Individuation und
Abstraktion, zunehmender Lösung« von Individuum und
Gemeinwesen, Natur und Gesellschaft (64). Ist
dieser Prozeß In einzelnen Gesellschaften Afrikas
(65) und Amerikas(66) kaum in Gang gekommen, und
hat er sich in Europa voll entfaltet, aus der
Gentilgesellschaft durch antike und feudale
Produktionsweise im Kapitalismus vollendet, so ist
er in Asien und Teilen Afrikas und Amerikas in der
Form der asiatischen Produktionsweise stagniert
(67).
In der APW ist die
Beziehung des Individuums zum Eigentum, d. h. hier
dem Grund und Boden, vermittelt durch die
Gemeinschaft, nur insofern der Einzelne zur
Gemeinschaft gehört, hat er
Zugang zum Boden, der
Eigentum der Gemeinschaft
ist. Das gilt einerseits für das wirkliche
Stammgemeinwesen, andererseits für das fiktive
Gemeinwesen, den asiatischen Staat. Die
Gesellschaft ist in zwei Klassen gespalten, die
Bauern und die Bürokratie;
die einen produzieren und die anderen eignen sich
das Mehrprodukt an. Die Produktionseinheit ist das
Dorf als wirkliches Gemeinwesen, als kollektiv
wirtschaftende Einheit. Die Distribution des
Mehrprodukts erfolgt durch den Staat, der insofern
ein fiktives Gemeinwesen ist,
als er die Produktion nicht wirklich kontrolliert
und die Dörfer unter sich weder durch Tausch noch
sachlich zu einem zusammenhängenden
Produktionssystem verbunden sind.
Alles Land ist
nominell Staatseigentum, der Boden also
nur im Besitz der Dörfer,
was nichts anderes bedeutet, als daß der Staat
Anspruch auf das Mehrprodukt hat, oder daß alle
Rente Steuer ist. Der Staat eignet sich das
Mehrprodukt meist in natura an und verteilt es
teils als Revenue an die
Bürokratie, teils verwendet er es als Fonds für
öffentliche Arbeiten, vor allem Wasseranlagen und
Krieg(68);
denn das ist seine eigentliche Funktion, auf die er
seine Macht stützen muß,
wenngleich diese Funktion weder hinreicht zur
Erklärung seiner Entstehung noch zu der seiner
Erhaltung.
Der
Despot (Herrscher oder Kaiser) ist die Personifikation
des fiktiven Gemeinwesens. Der Zusammenhang der
Gemeinschaft beruht auf
teils wirklicher, teils
fiktiver Verwandtschaft. Zwar mögen Herrschende und
Beherrschte oft In derselben Sippengemeinschaft
zusammengefaßt sein, was den Klassenantagonismus
wesentlich verdunkelt: Aber
der Despot, als Sohn des Himmels und Vater des
Reiches ist reine Fiktion.
Die Produktion ist bestimmt durch die
Verschiedenheit der Arbeitsperiode und
Produktionsperiode, die in
der Agrarkultur natürlich ist.
Während der Zeit, wo der Bauer nicht in der
Lindwirtschaft tätig sein kann, widmet
er sich der
Hausindustrie, produziert also selbst
Arbeitsmittel, Kleidung usw.
Der
geringe Überschuß wird an Bootsleute, Fischer usw.
getausht. Die Arbeitsteilung ist wenigg
entwickelt, selbständiges
Handwerk oder Manufaktur
können sich nur rudimentär ausbilden, des Handel
ist beschränkt, im wesentlichen
auf Luxusgüter für die herrschende Klasse.
Daraus resultiert die große
Beständigkeit und Stagnation
der APW. Die Produktionsbasis
ist durch ihre naturalwirtschaftllche Form
selbstgenügsam und stabil,
ähnlich die Form des Staates.
Der Inhalt der
Regierung ist unbeständig, nur betrifft der
Dynastienwechsel weder die Form der Produktion noch
des Staates. Die Zugehörigkeit
zur herrschenden Klasse ist
dem Prinzip nach offen, bestimmt sich nach der
Leistung, die durch Schulen und Prüfungssystem
streng und genau erforscht wird. Nur hat das
Wissen, das die Grundlage des Beamtentums
ist, ziemlich wenig mit den
tatsächlichen Funktionen der Beamten, also der
Verwaltung, zu tun, ist
vielmehr vor allem
Herrschaftsideologie, wie z. B. der Konfuzianismus:
Die materielle Form der Landwirtschaft erfordert
weniger physische Kraft als Erfahrung, Daher
verfügen die Alten über eine hohe Autorität. Diese
drückt sich, da die Struktur
der Gemeinschaft durch Verwandtschaft bestimmt
wird, im autoritativen
Gefüge der Sippengemeinschaft
aus, das prinzipiell den Jüngeren dem Älteren und
die Frau dem Mann unterordnet, in gewissem Maße
sogar dann, wenn der Jüngere der herrschenden, der
ältere der beherrschten
Klasse angehört. Diese Autoritätsstruktur, die
durch den Ahnenkult und das konfuzianische Ritual
religiös Überhöht wird, findet ihre Spitze im
Herrscher, der allerhöchsten Autorität. Die
Loyalität ihm gegenüber ist
höchstes und absolutes Gesetz, freilich nur der
Idee nach, denn in Wirklichkeit hat der Herrscher
kaum praktischen Einfluß, der einer Person schon
durch den Umfang einer so großen und wenig oder
einfach strukturierten
Gesellschaft unmöglich ist.
Die absolute Loyalität gilt weniger dem Herrscher
als herrschender Person als dem Herrscher als
Personifikation des fiktiven Gemeinwesens.
Solche Gesellschaften
müssen und können mit einem Minimum an Gewalt den
Klassenkampf unterdrücken und Herrschaft und
Ausbeutung sichern. Gleichwohl handelt es sich bei
der asiatischen Bürokratie um eine herrschende
Klasse, auch da, wo sie die Ausbeutung Überhaupt
nicht auf Privateigentum stützt. Sie versteht sich
auch selber so, wobei freilich der
Klassenantagonismus weniger den Eigentums- als den
Herrschaftsverhältnissen
entspringt: "Schon als Himmel und Erde
entstanden", sagt Hsun Ch'ing,
gab es einen Unterschied zwischen oben und unten,
und als der erste König den Staat begründete, war
die Gesellschaft gespalten. Zwei Edelleute können
einander nicht dienen und zwei Männer aus dem Volke
einander nicht die Arbeit zuweisen. Das ist die
Mathematik des Himmels". In
diesen Worten ist sehr klar ausgedrückt, daß der
Klassenantagonismus als natürlicher und ewiger
begriffen wird. Er wird mit der Natur, mit Himmel
und Erde, identifiziert, er
wird nicht und kann nicht als ökonomisch bestimmter
gesellschaftlicher Widerspruch begriffen werden.
An der Wurzel dieser notwendigen
Beschränkung des Klassenbewußtseins liegt die tatsächlich
fehlende Lösung von Natur und Gesellschaft.
Der Reichtum der
asiatischen Gesellschaft hängt wesentlich ab von
der richtigen Versorgung mit Wasser, bei gegebenem
Stand der Produktivkräfte. Überschwemmung
und schlechte Bewässerung
sind daher nicht einfach
Naturkatastrophen, sondern weitgehend
Folge schlechter Verwaltung. So erscheinen
natürliche und gesellschaftliche Prozesse als identisch.
Dies ist zugleich eine
entscheidende Stütze der Herrschaft im Bewußtsein
des Volkes: Eine gute Ernte
erscheint als Verdienst, als
Ausdruck von
Stärke des Herrschers, was sie freilich
absolut nicht ist, teilweise aber Verdienst einer
richtigen Verteilung gesellschaftlicheer
Arbeit, wofür der Herrscher wieder ein Symbol ist.
Die asiatische
Produktionsweise dominierte in
allen großen asiatischen Ländern vom
vorderen Orient bis (Rußland und) Japan zumindest
bis zum Einbruch des
Imperialismus. Das heißt aber nicht, daß mit der
asiatischen Produkttonswelse auch nur eins dieser
Länder schon vollständig beschrieben wäre. In China
(69) z.B. zeigten sich, von der asiatischen Produktionsweise
dominert, Tendenzen einer antiken, dann
feudalen, dann bürgerlichen Produktionsweise, die
aber alle der asiatischen untergeordnet blieben.
In den Poren der
asiatischen Produktionsweise kann
sich eine Händlerklasse aus Sippenlosen bilden, die
zu keiner Gemeinschaft gehören. Diese bleibt aber
unemanzipiert, wenn nicht, wie in Japan in der
Tokugawa-Zeit, bestimmte Momente zusammenwirken.
Besonders aber enthält die asiatische
Produktionsweise außer dem eigentlichen
Klassenwiderspruch noch einen anderen: den
Widerspruch zwischen Herrschaft und Aneignung des
Mehrprodukts durch eine Klasse und
dem Fehlen des Privateigentums, das sonst die
Bedingung jeglicher Klassengesellschaft
ausmacht. Der Mechanismus, in dem
z.B. in der chinesischen Gesellschaft sich
dieser Widerspruch entwickelte, folgt wieder
Verwandtschaftsbeziehungen. Um
die Zentralisierung der Bürokratie zu garantieren,
ist es notwendig, daß die Distribution des
Mehrprodukts an die
Bürokratie von oben nach unten, vom Zentrum zur
Peripherie erfolgt. Die Erhebung von Steuern geht
aber den umgekehrten Weg, was die Möglichkeit von
Unterschlagung, Bestechung
und überhaupt umfassender Korruption der Bürokratie
von vornherein enthält. Da der so von einzelnen
Beamten zusammengescharrte Wert mit den jeweiligen
Familien geteilt werden muß, setzt sich
- auf nicht ganz klare Weise - die
Käuflichkeit des Grund und Bodens durch, so daß die
herrschende Klasse, die Gentry
aus zwei Teilen besteht, den privaten
Grundbesitzern, die ihre Revenuee
aus Rente haben, und den Beamten, die
ihre Revenue
aus Steuern haben. Beide
Teile sind meist durch
Verwandtschaft verbunden. Wegen ständiger
Erbteilung wird der private
Besitz periodisch zu klein, die Familien verarmen,
daher müssen sie einen Beamten hervorbringen, der
den Familiereichtum wieder
erneuert usw. So dehnt sieh der private Teil des
Grund und Bodens aus, seine Ausdehnung bleibt aber
von der Bearbeitung
abhängig. Zugleich versuchen die Grundbesitzer, den
Bauern durch Wucher und Pachterhöhung
einen wachsenden Anteil am Gesamtprodukt
abzupressen. Für die Sicherung ihrer Herrschaft und
ihres Eigentums ist die
Verwaltung, der Staat, zuständig, der nicht
unbedingt ein Interesse an einer überhöhten
Ausbeutungsrate hat, da das die Sicherheit des
Staates gefährdet. Wird nämlich die Ausbeutung zu
hoch, sinkt das Lebensniveau der Massen, womöglich
durch Hungerkatastrophen, schlechte Ernten und
sofort, verstärkt, unter das
Existenzminimum, verlassen die Bauern ihre Dörfer
und rotten sich in Banden
zusammen. Erstreckt sich die Not auf das gesamte
Reich, so auch die Rebellion.
Das chinesische Reich
ist in 2000 Jahren von etwa 7 großen Bauernrevolutionen
erschüttert worden (70). Daneben gab es sehr viele
lokale Aufstände; der Übergang vom Banditentum zur
organisierten Rebellion ist
fließend. Notwendig für die Rebellion
war ein ständiger Zustrom aus den Dörfern, die
Schaffung autonomer territorialer Basen und die
ständige Ausdehnung dieser befreiten Gebiete, in
denen die Rebellen die stark gesenkten Steuern
selber einzogen. Das konnte aber nur erfolgreich
sein, wenn die Mitarbeit der lokalen Notablen
gewonnen werden konnte. Wo dies gelang, konnte die
Revolution siegen, die Dynastie stürzen und ihre
eigene errichten.
Im Bündnis mit den
Notablen lag aber zugleich die Beschränkung:
die herrschende Klasse konnte nicht vernichtet
werden, da sie sich in
den Reihen der Revolution selber befand.
Zerbrach aber das Bündnis, scheiterte die
Revolution. Dennoch war der Wechsel in der Spitze
der herrschenden Klasse wichtig als Wechsel im
Inhalt der Regierung: die neue
Dynastie war bauernfreundlich
und hatte die Unterstützung der Massen, indem sie
die öffentlichen Arbeiten förderte, diente sie dem
Volke, indem sie die Verwaltung stärkte und den
privaten Grundbesitz bekämpfte, senkte sie die
Ausbeutung der Massen.
Das ist der Sinn des
'"rastlosen Dynastienwechsels", von dem Marx
meinte, daß er sich bloß in
der himmlischen Wolkenregion abspiele: die
Bauernrebellion und der Wechsel der Dynastie nimmt
die Feudalisierungstendenz,
die Ausbildung des Privateigentums, zurück, die
freilich bald darauf aufs neue einsetzt. Dies gilt
auch dann, wenn die Rebellion der Bauein
niedergeworfen wird. Dann
wird nämlich
die Dynastie nach einiger Zeit von einem mächtigen
General gestürzt, der sie vielleicht vorher gegen
die aufständischen Bauern geschützt
hatte.
Da
die Dynastie im Auftrag des Himmels regiert,
ist jede Rebellion Verrat -
es sei denn, sie ist
erfolgreich. Dann ist der Auftrag geändert, die
Rebellion ist gerechtfertigt. Die Revolutionen des
chinesischen Reiches sind also links, weil sie die
Lage des Volkes verbessern, und rechts zugleich,
weil sie den historischen Fortschritt zurückwerfen
und die asiatische Produktionsweise
restaurieren. Dies ist ein spezifisches Dllemma der
asiatischen Gesellschaft, das daraus resultiert,
daß die asiatische Produktionsweise eine frühe
Klassengesellschaft ist, in der der Antagonismus
zwischen Herrschenden und Beherrschten nur
schwach ausgebildet ist und von den Bauern nicht
als ein besonderes Produktionsverhältnis
durchschaut, weil er mit der Natur
identifiziert wird.
Die japanische Gesellschaft
hat dies Dilemma nicht anders als durch die
brutalste Ausbeutung und Knechtung der Massen,
durch die asiatische Form des Faschismus, und die
Revolution von oben lösen können. China hat den Weg
dialektischer Kooperation von Zentralgewalt und
Volk unter ständiger Bekämpfung alte
Privatisierungs- und Privilegierungstendenzen
eingeschlagen.
Anmerkungen
(64) Siehe Grundrisse a.a.O.; Tökei, a.a.O.;
Thomson, Die esten Philosophen = ders. a.a.O. Bd.2;
G. Childe, Social Evolution, London 1951. Die von
der Sowjet-Wissenchaft beeinflußten Marxisten
hängen meist einem leeren Schematismus an, der
seinen Anfang schon bei Engels hat und unter dem
Andrang von Fakten bloß modifiziert wurde;
Zusammenfassung bei I, Sellnow, Grundprinzipien
einer Periodisierung der Urgeschichte, Berlin 1961,
S, 90-110 und passim.
(65) und (66) sind entfallen
(67) Vgl. u. a. Premiere societé de classes
et mode de production asiatique, Recherches
internationales à la lumiere du marxismc, 57-58,
1967; Sur le mode de production asiatique, CERM,
Paris, 1969; B. Moore, Soziale Ursprünge von
Diktatur, und Demokratie, Ffm. 1969
(68) "When water-benefits are developed, there will
be good results in agriculture, and when there are
good results in agriculture, the state's treasury
will be enriched," (1671) Zit. bei Chi Ch'ao-ting,
Key economic areas in Chinese history. N.Y. 1963
(Nachtdr.) S. 1 und passim.
(69)
Siehe besonders Ghi, a.a.o. ;
K.A. Wittfogel. Wirtschaft und
Gesellschaft Chinas, 1. Teil, Produktivkräfte,
Produktions- und Zirkulationsprozess,
Lpz. 1931.
(70) Vgl, Fitzgerald,
Revolution in China, Ffm.1968
(71) a.a.O. S. 29
Quelle: Leseauszug aus: Fritz Kramer, Über
den Sozialismus in China und Russland und die
Marxsche Theorie der Geschichte, in: Rotes Forum
Nr. 3/1970, hrg.v. SDS Heidelberg, S.13-15
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