Stichwort RAF

Mord darf keine Waffe der Politik sein
Herbert Marcuse

04/07

trend
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In ihrer Stellungnahme zum Terror in der Bundesrepublik muß sich die Linke zunächst von zwei Fragen leiten lassen: 1. Können die terroristischen Aktionen zur Schwächung des kapitalistischen Systems beitragen? 2. Sind diese Aktionen gerechtfertigt vor den Forderungen revolutionärer Moral?

Ich muß auf beide Fragen eine negative Antwort geben.

Die physische Liquidierung einzelner Personen, selbst der prominentesten, unterbricht nicht das normale Funktionieren des kapitalistischen Systems selbst, wohl aber stärkt sie sein repressives Potential - ohne (und das ist das Entscheidende) die Opposition gegen die Repression zu aktivieren oder auch nur zum politischen Bewußtsein zu bringen.

Gewiß, diese Personen repräsentieren das System: aber sie repräsentieren es nur. Das heißt, sie sind ersetzbar, auswechselbar, und das Reservoir für ihre Rekrutierung ist fast unerschöpflich.

Die Erzeugung von Unsicherheit und Angst in der herrschenden Klasse ist kein revolutionärer Faktor angesichts des schreienden Mißverhältnisses zwischen der im Staatsapparat konzentrierten Gewalt einerseits und der Schwäche der von den Massen isolierten terroristischen Gruppen andererseits. Unter den in der Bundesrepublik herrschenden Bedingungen (die der präventiven Gegenrevolution) ist daher die Provozierung dieser Gewalt destruktiv für die Linke.

Es mag Situationen geben, wo die Beseitigung von Protagonisten der Repression wirklich das System verändert - wenigstens in seinen politischen Manifestationen - und die Unterdrückung liberalisiert (zum Beispiel das erfolgreiche Attentat auf Carrero Blanco in Spanien; vielleicht auch die Tötung Hitlers). Aber in beiden Fällen war das System bereits in der Phase des Zerfalls, eine Situation die in der Bundesrepublik sicherlich nicht existiert.

Aber der marxistische Sozialismus steht nicht nur unter dem Gesetz des revolutionären Pragmatismus, sondern auch der revolutionären Moral. Das Ziel: der befreite Mensch, muß in den Mitteln erscheinen. Revolutionäre Moral verlangt, solange die Möglichkeiten dafür bestehen, den offenen Kampf - nicht die Verschwörung und den hinterlistigen Überfall. Und der offene Kampf ist der Klassenkampf. In der Bundesrepublik und nicht nur dort ist die radikale Opposition gegen den Kapitalismus heute zum großen Teil von der Arbeiterklasse isoliert: Die Studentenbewegung, die »deklassierten« Radikalen der Bourgeoisie, die Frauen suchen die ihnen eigenen Formen des Kampfes. Die Frustrierung ist kaum erträglich: Sie entlädt sich in Terrorakten gegen Personen - in Aktionen, die von Individuen und kleinen isolierten Gruppen ausführbar sind.

Diese Individualisierung des Kampfes stellt die Terroristen vor die Frage der Schuld und Verantwortung. Die von den Terroristen als Opfer gewählten Vertreter des Kapitals sind ihnen für den Kapitalismus verantwortlich, wie Hitler und Himmler verantwortlich waren für die Konzentrationslager. Das macht die Opfer des Terrors nicht unschuldig - aber ihre Schuld kann nur gesühnt werden durch die Abschaffung des Kapitalismus selbst.

Ist der Terror in der Bundesrepublik eine legitime Fortsetzung der Studentenbewegung mit anderen Mitteln, angepaßt an die intensivierte Repression? Auch diese Frage muß ich negativ beantworten. Der Terror ist vielmehr ein Bruch mit dieser Bewegung. Die Apo war, mit allen Vorbehalten in bezug auf ihre Klassenbasis, eine Massenbewegung im internationalen Maßstab und mit einer internationalen Strategie: Sie bedeutet einen Wendepunkt in der Entwicklung der Klassenkämpfe im Spätkapitalismus: nämlich die Proklamation des Kampfes für die »konkrete Utopie«, für den Sozialismus als qualitativ verschiedene, alle traditionellen Ziele übersteigende und doch reale Möglichkeit. Die Bewegung schreckte nicht zurück vor der offenen Konfrontation, aber in ihrer großen Majorität verwarf sie den konspiratorischen Terror. Dieser ist nicht ihr Erbe: Er bleibt der alten Gesellschaft verhaftet, die er doch stürzen will. Er arbeitet mit ihren Waffen, die doch nicht ihren Zweck erfüllen. Zugleich spaltet er die Linke noch einmal zu einer Zeit, wo die Zusammenfassung aller oppositionellen Kräfte geboten ist.

Gerade weil die Linke diesen Terror verwirft, hat sie es nicht nötig, in die bürgerliche Verfemung der radikalen Opposition einzustimmen. Sie spricht ihr autonomes Urteil im Namen des Kampfes für den Sozialismus. In diesem Namen spricht sie ihr »Nein -das wollen wir nicht«. Die Terroristen kompromittieren diesen Kampf, der doch auch ihr eigener ist. Ihre Methoden sind nicht die der Befreiung - nicht einmal die des Überlebens in einer Gesellschaft, die für die Unterdrückung der Linken mobilisiert ist.

Editorische Anmerkung

Aus: Die Zeit vom 16. September 1977, 32. Jg., Nr. 39. S. 41 f.
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