Der Polizeistaat in Aktion
Warum es keinen "Deutschen Herbst" gab

von Karl Müller
03/07

trend
onlinezeitung

"Erdölkrise" und Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Wood erschüttern 1973 nachhaltig die stofflichen und wertmäßigen Reproduktionsgrundlagen des Kapitals. "Nelkenrevolution" in Portugal im April 1974; Zypern-Krieg und Austritt Griechenlands aus der NATO 1974; die Zuspitzungen im irischen Bürgerkrieg zwischen 1974 und 1976; der Sturz des Franco-Faschismus 1975; der Sieg im Volkskrieg über den US-Imperialismus in Vietnam im selben Jahr; die Verschärfung der Klassenauseinandersetzungen in der Türkei in der zweiten Hälfte der 70er Jahre.....

signalisieren eine seit Mitte der 70er Jahre zunehmende Instabilität des imperialistischen Blocks, während die Warschauer Pakt konsolidiert erscheint. Angesichts dessen wird die Vertiefung der politisch-militärischen Integration Westeuropas zur zentralen Aufgabenstellung im imperialistischen Lager. Dazu gehört zuvorderst, weitere Vorkehrungen für den sogenannten "inneren Notstand" zu schaffen.

Am 14. Januar 1978 wird Oppositionsführer Helmut Kohl auf dem "Sicherheitspolitischen Forum" seiner Partei in Kiel verlautbaren, daß es gegenüber den NATO-Partnern keine glaubwürdige Sicherheitpolitik geben kann, wenn "gegen die Feinde im Innern Schwächen gezeigt werden".

Obgleich seit dem 1. August 1975 durch die Schlußakte von Helsinki die sogenannte friedliche Koexistenz zwischen den Systemen besiegelt scheint, gehen aggressives Aufrüsten und Ausbau des Polizeistaates zügig voran. Auf der am 29.9. bis 1.10. 1977 in Köln-Wahn veranstalteten Waffenschau der Bundeswehr erklärt der sozialdemokratische Bundesverteidigungsmininster Leber: "Was wir dort zeigen können, hat keine Armee der Welt aufzuweisen...Wir sind hochleistungsfähig auf allen Gebieten."

Dies war kein leeres Wortgeklingel: Seit 1974 hatten sich schließlich die Rüstungsausgaben pro Kopf der Bevölkerung von 224 auf 263 Dollar 1977 erhöht. Die Ausgaben für "Innere Sicherheit" waren von 390 Mio. DM 1969 auf 1,1 Milliarde DM 1979 gestiegen. Das BKA hatte 1969 22 Mio. DM pro Jahr erhalten. 1977 waren es 150 Mio DM. Dazu war natürlich ein stetiges Umverteilen im Staatshaushalts zu Lasten der Sozialausgaben zwingend. Und dies warf Legitimationsprobleme auf - besonders unter den Bedingungen einer sich neu herausbildenden sozialen Bewegung, der Anti-AKW-Bewegung, die Nährboden für linke&radikale Kräfte war. Diese Bewegung zielte auf einen hoch sensiblen Bereich des Kapitals, nämlich auf seine neuen stofflichen Reproduktionsgrundlagen. Außerdem erschien sie gefährlich, weil sie - staatsbürgerlich betrachtet - nicht integriert war und sich auch nicht integrieren lassen wollte.

"1977, das Jahr der Eskalation: Die RAF kämpft um die Freilassung ihrer Gefangenen, die Bundesregierung festigte nochmal ihre harte Linie. Die linke Öffentlichkeit erstarrt in Ohnmacht." Mit diesen flotten Sprüchen labelt die taz ein "Journal", mit "20 Jahre Deutscher Herbst" getitelt, welches seit dem 27.8.97 bundesweit vertrieben wird. Wer sich nun erhofft, in diesem Journal eine historische Einordnung der Vorgänge im Herbst 1977 in das internationale Beziehungsgeflecht und die Widersprüche in und zwischen den Systemen zu finden, wird enttäuscht feststellen, daß die Mehrzahl der AutorInnen staatsfixiert halluziniert oder/und an partiellem Gedächtnisschwund leidet. Wie bei Spiegel, konkret oder Interim, Stern oder Freitag der Tenor lautet unisono: Deutscher Herbst = Krieg zwischen RAF und Staat.

Für den Spiegel als heimlichem Verlautbarungsorgan des Bundespresseamtes handelt es sich dabei um ein "Musterbeispiel", "wie Staat und Demokratie entschlossen gegen eine wahnwitzige Terroristenbande verteidigt werden". Herr Breloer lieferte zuvor mit seinem "Todesspiel" die Interpretationlinie, die, wiederum so neu nicht, bei Aust´s "Baader-Meinhof-Komplex" geklaut war. Die Linke dagegen braucht das Auslöschen der Geschichte in ihrem Gedächtnis mittels der griffigen Worthülse "Deutscher Herbst", um die selbstverschuldete eigene Schwäche mit der vermeindlichen Stärke des Gegners (Staat) rechtfertigen zu können. Die taz braucht die Geschichtsklitterung fürs Geschäft.

Mitte bis Ende der 70er Jahre waren die Anti-AKW-Bewegung und die kommunistischen (Partei-)Organisationen - wenn man schon mit nationalstaatlichen Vereinfachungen arbeitet - des bundesdeutschen Staates Hauptgegner und nicht die RAF oder der 2. Juni und andere Stadtguerillagruppierungen. Um dies nachzuvollziehen, reicht ein Blick in damaligen Veröffentlichungen der Bundesregierung. Das heutige Gerede vom "Deutschen Herbst" dient in erster Linie dazu, diesen Sachverhalt auf den Kopf zu stellen. Denn in einer Zeit, in der eine nichtkapitalistische Gesellschaft - die freie Assoziation freier ProduzentInnen - für viele Linke nicht mehr vorstellbar erscheint, wird für sie eine prinzipielle Kritik an bürgerlich-kapitalistischen Macht- und Herrschaftsstrukturen obsolet. Man genügt sich im Widerstand und die Looser der RAF werden zu Helden des Widerstands verklärt.

Es gab keinen "Deutschen Herbst". Es gab und gibt einen bürgerlichen BRD-Staat, der Gewalt- und Konsensapparat zugleich ist. Die politische Ästhetik und die sich selbstrefenzierenden Handlungen seines politischen Personals, seine Legitimationsstrukturen sind natürlich typisch "deutsch" oder besser preußisch-obrigkeitsstaatlich. Er ist Polizeistaat und er ist es nicht. Es ist strukturell oder/und offen gewalttätig, bisweilen sogar menschenvernichtend. Er ist ideeller Gesamtkapitalist und Klassenstaat. Unter besonderen historischen Bedingungen mutiert er sogar zum Faschismus.

Im Herbst 1977 gab es diese Mutation nicht. Die mit der FDP regierende Sozialdemokratie inszenierte damals - nach der am 3. Oktober 1976 gewonnenen Bundestagwahl - die "präventive Konterrevolution", ein (Regierungs-)Stück, dessen Aufführung sie seit 1919 "aus dem FF heraus" beherrscht und bei dem ihr die Gewerkschaften zumeist treuer Helfer sind.
 

Editorische Anmerkung

Der Text wurde 1997 erstveröffentlicht und stammt aus der Dokumentation:

Der Polizeistaat in Aktion
Texte & Dokumente zum "Deutschen Herbst"
ausgewählt und zusammengestellt
von Karl Müller