Erkenntnissse und Irrtümer in der griechischen Naturphilosophie (Teil VI)

von Helmut Mielke  

03/2020

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VI. Die Atomlehre Demokrits und seiner Schule (28)

Stellt man sich die Frage, welche der naturphilosophischen Spekulationen der griechischen Philosophie den nachhaltigsten positiven Einfluß auf das naturwissenschaftliche Denken überhaupt ausgeübt hat, dann gelangt man unschwer zu der Antwort, daß dies die Atomlehre Demokrits sei. „Aus der Atomistik erklären wir heute die Gesetze des Schalls, des Lichts, der Wärme, der chemischen und physikalischen Veränderungen in den Dingen im wei­testen Umfange. . ."(29), schrieb F. A. Lange. Diese zunächst auf reiner Spe­kulation beruhende Lehre wurde erst in der Neuzeit, vor allem durch die Fortschritte in der Chemie, zu einer echten wissenschaftlichen Hypothese, de­ren Richtigkeit und zugleich Relativität im 19. Jahrhundert bewiesen wurde.

Zu ihrer Zeit trug die Atomlehre nicht unmittelbar zum Fortschritt des naturwissenschaftlichen Denkens bei. Sie entfaltete ihre einzelwissenschaft-liche Fruchtbarkeit erst zu Beginn der Neuzeit. Gassendi war der erste be­wußte Erneuerer der Atomistik. Newton ging bei der Ausarbeitung des Sy­stems der klassischen Mechanik von der Atomistik aus. Auf dem Gebiet der Chemie schloß sich ihm als erster Dalton an. Von nun an sind die atomisti-schen Lehren nicht mehr zu trennen von den Grundpositionen des natur­wissenschaftlichen Denkens. Die Atomistik wurde durch die Erkenntnisse der modernen Physik, die die Teilbarkeit des Atoms zeigten, nicht als prin­zipiell falsch erklärt, sondern negiert, aufgehoben in einem neuen, umfassen­deren Zusammenhang.

Die Bedeutung der Atomlehre ist vor allem methodologischer Art. Die j klassische Physik hatte es im Prinzip ausschließlich mit dem Verhalten von Masseteilchen (Idealfall: Massepunkt) zu tun. Für deren Untersuchung, so-1 wohl im Hinblick auf die Physik als auch auf die Chemie, hatte die Ato­mistik eine sichere Basis geschaffen. Selbst idealistische Philosophen geben das zu. So schreibt H. Dingler: „Für die Erkenntnis der Außenwelt als sol-f eher ist es (das atomistische Weltbild - H. M.) fast dauernd fundamental | geblieben.(30)

Die Besonderheiten der wissenschaftlichen Methode Demokrits bestehenl in folgendem: 1. er geht nicht von abstrakten Begriffen aus, sondern vom Konkret-Sinnlichen; 2. er behauptet die Existenz unveränderlicher Grund­bausteine; 3. er unterscheidet „das wahrhaft Existierende" von dem, was nur in der Meinung oder nach Konvention angenommen wird, und 4. er stellt 1 sich die Entwicklung des geordneten Kosmos so vor, daß sie durch das Wirken rein mechanischer Ursachen zustandekomme. (31) Grundlage ist seine Auffassung von der materiellen Einheit der Welt (materialistischer Monismus).  Nicht nur die Naturdinge, sondern auch der gesellschaftliche Bereich (Ethik, Soziologie) werden im Prinzip durch das Zusammenspiel der Atome erklärt. Demokrit beschränkt sich aber nicht auf die Darlegung der letzten Ursachen. Er erklärt die entwickelteren und komplizierteren Stufen der gesellschaftliehen Verhältnisse als aus einfacheren hervorgegangen(32).

Die Atomistik wirkte von vornherein weltanschaulich revolutionierend. Durch ihren eindeutigen Materialismus hatte sie, wie Bernal schreibt, „von Anfang an eine radikale politische Färbung"(33)  Eine Konsequenz der Lehre von den sich ewig in Bewegung befindlichen Atomen war der Atheismus, da man zur Erklärung der Welt weder der Annahme eines Schöpfers, Be­wegers oder Gesetzgebers bedurfte. Trotzdem leugnete Demokrit die Exi­stenz der Götter nicht; aber auch sie bestünden aus Atomen.(34)

Die Atome sind qualitativ gleichartig. Sie unterscheiden sich lediglich durch verschiedene Raumerfüllung, und zwar nach Gestalt oder Form, Größe, Dichte, Schwere und Härte. Die Dinge sind Zusammenballungen von Ato­men, die sich durch verschiedene Anzahl, Gestalt, Anordnung und Lage unterscheiden. Die verschiedene Form der Atome, rund, höckrig, mit Ösen, Einbuchtungen und Haken versehen, ermöglicht vielfältige Verbindungen derselben. Folgende physikalische Grundphänomene konnten durch die Lehre der Atomisten spekulativ erklärt werden: die Bewegung, und zwar die der kleinsten Teilchen wie auch der Himmelskörper, die Aggregatzustände der Körper, die sich durch den Einfluß von Wärme und Kälte ausdehnen und verflüchtigen bzw. sich zusammenziehen und erstarren. Das Entstehen eines Dings ist Zusammentreten bisher getrennter Teilchen, Vergehen Trennung derselben. Die wahrgenommenen Sinnesqualitäten und zum Teil (soweit sie zu den sekundären Qualitäten gerechnet werden) auch die physikalischen Eigenschaften der Körper hängen von den Anordnungs- und Bewegungs­verhältnissen der Atome ab.

Der große Grundgedanke der Atomistik ist die materielle Einheit der Welt, bestehend aus (unteilbaren) Atomen als den Grundbausteinen. Vor Demokrit hatte Anaxagoras die unendliche Teilbarkeit der Körper gelehrt. Demokrit scheint diese Annahme aus folgenden Gründen unhaltbar: Wenn man animmt, daß ein Körper ins Unendliche geteilt sei, was bleibt dann be­stehen? Ein Teil des Körpers? Dies sei unmöglich, denn dann wäre ja keine unendliche Teilung erfolgt, deren Wesen darin besteht, nichts Teilbares mehr übrigzulassen. Folglich können nur mathematische Punkte übrigbleiben, die mit dem Nichts identisch sind. Der Körper kann aber doch nicht aus Nichts zusammengesetzt sein. Deshalb muß er aus unteilbaren Elementen, den Atomen, bestehen. Die Mannigfaltigkeit der Körperwelt und Entstehen und Vergehen der Dinge kommen dadurch zustande, daß die Atome sich vereinen oder trennen.(35)

Das Neue der Atomlehre bestand darin, daß hier eine hohe Stufe der abstrakten Spekulation vereint wird mit der Erkenntnis der (begrenzten) Teilbarkeit der Stoffe, die offensichtlich eine völlig unspekulative Erkenntnis war und ohne weiteren Beweis durch die alltägliche Erfahrung gesichert schien. Dem nüchternen, auf das Diesseits gerichteten Denken mußte diese Annahme viel plausibler erscheinen als zum Beispiel die früheren Spekulationen über den Urstoff, der entweder rein empirisch (z. B. das Wasser bei Thaies) oder gänzlich abstrakt (das „Apeiron" bei Anaximander) war.

Viele der philosophisch-weltanschaulichen Kernfragen fanden durch die Atomlehre eine geradezu elegante Lösung. Da diese Fragen sich zum weit- i aus größten Teil auf die stoffliche Welt, die Natur, bezogen, war ihre un­mittelbare Beziehung zum naturwissenschaftlichen Denken von vornherein gegeben. Vor allem sind hier zu nennen die Annahme von der zeitlich unbe­grenzten Existenz der Atome und ihrer Unzerstörbarkeit (die erste speku­lative Formulierung des Satzes von der Erhaltung der Masse), die An­nahme einer ewigen Selbstbewegung der Atome, die quasi als eine auf mecha­nische Bewegung beschränkte Vorform des Satzes von der Erhaltung der Energie (wobei natürlich alle Äquivalenzbeziehungen fehlen) bezeichnet wer­den könnte, ferner die Annahme von der Unendlichkeit des leeren Raumes. Auch kosmogonische Fragen werden beantwortet; die Atome können näm­lich durch Zusammenstoß und Ablenkung in eine wirbeiförmige Bewegung geraten, wobei sie einem Mittelpunkt zustreben und so die Himmelskörper bilden. Der leere Raum ist die Voraussetzung der Bewegung.(36) Gleiches strebe zu Gleichem, die leichteren Atome werden in die Höhe geführt, aus ihnen bildet sich das Himmelsgewölbe; die schweren Atome streben zum | Mittelpunkt und bilden die Erde. Die Sterne sind wasserhaltige Erdmassen, die durch rasche Rotation glühend geworden sind. Erde, Wasser, Luft und Feuer sind die Verbindungseinheiten der Atome, aus denen alle anderen.  Dinge bestehen. Demokrit lehrt eine unendliche Anzahl neu entstehender und wieder vergehender Welten.(37) Jenseits der Fixsternsphäre erstreckt sich detfl Weltenraum ins Unendliche. Einen Unterschied zwischen einer irdischen und einer himmlischen Welt, wie wir ihn z. B. bei Piaton und Aristoteles finden, gibt es für die Atomisten nicht.

Als erster formuliert Demokrit das Prinzip der Kausalität. Am bekanntesten ist folgende Fassung: „Nichts geschieht zufällig, sondern alles aus  einem Grunde und mit Notwendigkeit."(38) Damit ist der idealistischen Deu­tung des Naturgeschehens in jeder Form, vor allem der teleologischen Auffassung, der Kampf angesagt. Der Grund für alle Vorgänge sind letztlich diel Bewegungen der Atome; ein geistiges Prinzip wird dadurch überflüssig. Der methodologische Grundsatz, alle Vorgänge und Veränderungen obligatorisch unter dem Aspekt der Kausalität zu betrachten, ist ein Grundpfeiler der Naturforschung.

Die erkenntnistheoretischen Ansichten Demokrits ergeben sich aus seinen atomistischen Grundprinzipien. Die Erkenntnis komme dadurch zustande, daß sich von den Dingen kleine Bildchen lösen, die die Atome der Sinnes­organe und durch sie die Seelenatome, die Träger des Bewußtseins, in Be­legung setzen. Demokrits Erkenntnistheorie ist also ikonisch orientiert. Die Seelenatome sind prinzipiell nicht verschieden von den Atomen der anderen Dinge; es sind dieselben Atome, die das Wesen des Feuers ausmachen: die feinsten, glattesten und beweglichsten.

Den für die Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis durch seine Leugnung der objektiven Wahrheit so gefährlichen Relativismus der Sophi­sten überwand Demokrit durch seine Lehre von den primären und sekun­dären Qualitäten (in der Sprache Demokrits „Wahrheit" und „Satzung"). Zugrunde liegt diesem Problem die schon von den Sophisten untersuchte Frage, wie die erfahrungsmäßigen Unterschiede in der Empfindung von Eigenschaften erklärt werden können und wie überhaupt aus den qualitäts­losen Atomen die von unseren Sinnen wahrgenommenen Eigenschaften der Dinge entstehen. Das wahre Objekt der Erkenntnis seien allein die raum­erfüllenden, undurchdringlichen Atome, die sich im Leeren bewegen. Hieraus erklärt sich das Primat der Tastempfindung bei Demokrit, von dem sich auch Aristoteles bei seiner Einteilung der Elemente leiten läßt. Größe, Gestalt, Anordnung, Lage und der entsprechende Grad der Fähigkeit, infolge der ständigen Bewegung durch Druck und Stoß aufeinander zu wirken, sind die wahren Qualitäten der Körper. Farbe, Geschmack, Geruch, Wärme und Kälte sind sekundäre Eigenschaften und letztlich für die Erkenntnis des Wesens der Dinge ohne Belang.

Die Lehre Demokrits wurde in der Antike weitergeführt von Epikur und Lukrez. Für das naturwissenschaftliche Denken kommt außer der Annahme Epikurs von der Abweichung der Atome von der Senkrechten bei ihrem Fall im leeren Raum nichts wesentlich Neues hinzu.(39) Mit der Deklination der Atome soll ein absoluter Determinismus vermieden und grundsätzlich die Möglichkeit der Existenz einer bedingten Freiheit, vor allem im Hinblick auf die menschliche Willensfreiheit, geschaffen werden.

Eine ausführliche Darstellung der „Differenz der demokritischen und epi­kureischen Naturphilosophie" ist der Inhalt der Doktordissertation von Karl Marx. Marx weist darauf hin, daß die Annahme Epikurs von der Deklination der Atome schon von Cicero u. a. als spekulative Willkür kri­tisiert wurde, da „die Deklination des Atoms ohne Ursache geschehe, und etwas Schmählicheres, sagt Cicero, kann einem Physiker nicht passieren"(40). Marx stimmt hierbei Epikur und Lukrez gegenüber Demokrit zu: „Mit Recht sagt Lukrez, wenn die Atome nicht zu deklinieren pflegten, wäre weder Ge­genschlag noch Treffen derselben entstanden, und niemals die Welt erschaf­fen worden."(41) Nach Marx gibt es doch eine Ursache für die Deklination der Atome, nämlich die Repulsion, deren Wesen Epikur als erster erfaßt habe.(42)

In der Neuzeit sind es in der Hauptsache folgende Erkenntnisse, die auf der methodologischen und heuristischen Grundlage der Atomistik gewonnen wurden: vor allem wird jede räumliche Bewegung, von den kleinsten Stoff-partikelchen bis zu kosmischen Gebilden, durch sie erklärbar. Die Erklä­rung der Bewegung ist aber von fundamentaler Bedeutung für die Wissen­schaft der Mechanik und damit für die Physik überhaupt. Weiter sind die Aggregatzustände durch engeren Zusammenschluß bzw. durch Auseinander­treten der Atome leicht erklärbar. In der Chemie sind das Gesetz der kon­stanten Proportionen und die Allotropie leicht begreiflich durch die An­nahme von Atomen.

Auch die Isomerie wird verständlich,  eine andere Struktur gleicher Elemente offenkundig ein anderes Gebilde ergibt. Hier bahnt sich auch der richtige dialektische Gedanke vom Verhältnis Teil-Gan­zes an, denn da jede chemische Verbindung (als Prozeß) Veränderungen (z. B. Verdichtung, Freiwerden von Wärme) zur Folge hat, ist es unwahr­scheinlich, daß das neu entstandene Ganze nur die Summe der Eigenschaften der Teile ausmacht. Durch die Atomistik und die auf ihr beruhende Elemen­tenlehre wurde die Chemie aus einer rein empirischen Probierwissenschaft zu einer theoretischen Wissenschaft, die durch die Anwendung deduktiver Methoden bereits eine relative Vollendung erfuhr. Ein großer Triumph war z. B. die Voraussage von Eigenschaften bisher noch nicht entdeckter chemi­scher Elemente auf Grund des Mendelejewschen Periodischen Systems der Elemente.

Auch auf dem Gebiet der Elektrodynamik (nach den Entdeckungen von Faraday, Maxwell und Hertz) wollte man zunächst folgerichtig die Atomistik mit Hilfe der Ätherhypothese durchführen, um die Einheit des atomistisch-mechanistischen Weltbildes zu wahren. Hier wurde jedoch die prinzipielle Schranke der Atomistik offenbar, da die Feldeigenschaften der Materie sich nicht durch die Annahme von stofflichen Atomen oder ähnlichen, korpus­kularen Gebilden erklären lassen und nicht auf die Bewegung derselben jeduzierbar sind. Vor allem hat auch der Michelson-Morley-Versuch (1881), durch dessen Ausgang (Notwendigkeit der Annahme, daß der Äther nicht existiert) die Schaffung der Relativitätstheorie maßgeblich angeregt wurde, dazu beigetragen, daß die Grenze der Atomistik präzise erkannt wurde. Der durch Becquerel 1896 entdeckte natürliche Zerfall von Atomen (wobei sich zeigte, daß die Atome gar nicht „atomos" - unteilbar - sind) spielte hierbei zunächst keine ausschlaggebende Rolle, denn der Atombegriff war ja nur konventionell auf die kleinste Einheit der chemischen Elemente festgelegt worden; man hätte ihn ohne weiteres seinem ursprünglichen Inhalt nach auf die Elektronen und die Kernbausteine übertragen können. Erst die späteren Entdeckungen (Korpuskel-Welle-Dualismus, Umwandelbarkeit der Elemen­tarteilchen, Zerstrahlung) zeigten, daß auch die sogenannten Elementar­teilchen nicht an die Stelle der Atome treten können, daß es letzte Wirklich­keitsklötzchen im Sinne der Atomistik gar nicht gibt.

Anmerkungen

28) Das Demokrit-Leukipp-Problem ist für unseren Aspekt von untergeordneter Bedeu-
tung, da hier vor allem der sachliche Zusammenhang zwischen Philosophie und Natur-
wissenschaften interessiert.
29) F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, 1. Buch, Leipzig 1902, S. 15.

30
) H. Dingler, Geschichte der Naturphilosophie, Berlin 1932, S. 11.

31)  Siehe A. O. Makowelski, Drevnegreceskije atomisty, Baku 1946, S. 77 f.
32
) Siehe ebenda, S. 118.
33
) J. Bernal, Die Wissenschaft in der Geschichte, Berlin 1961, S. 139.
34
) Siehe W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 418.

35) Siehe Aristoteles, Über Entstehen und Vergehen, A 2. 315 b - 317 b.
36 Siehe Aristoteles, Physik, A 7. 214 a - 214 b.
37 Siehe W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 416 f.
38 Zitiert nach F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, Erstes Buch, Leipzig 1902,
S. 13.
39) Siehe W. Nestle, Band 1, Jena 1923, S. 6.

40) Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx und Friedrich Engels 1841 bis 1850,
(hrsg. von Franz Mehring), Band 1, Berlin-Stuttgart 1923, S. 88.
41) Ebenda, S. 90.
42) Siehe ebenda, S. 91.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Günter Kröber (HG), Wissenschaft und Weltanschauung in der Antike, Berlin 1966, S. 145 -151

Siehe dazu: