Erkenntnissse und Irrtümer in der griechischen Naturphilosophie (Teil IV)

von Helmut Mielke 

01/2020

trend
onlinezeitung

IV. Der Pythagoreismus

Die erste engere Verbindung zwischen der Philosophie und einer schon relativ weit entwickelten Einzelwissenschaft finden wir in der pythagoreischen Schule. Durch ihre Beschäftigung mit der Mathematik gelangten die Pythagoreer dahin, aus mathematischen Erkenntnissen prinzipielle philosophische Schlußfolgerungen zu ziehen. Aristoteles schreibt dazu: Die sogenannten Pythagoreer verlegten sich „auf die Mathematik und waren die Ersten, die sie weiter förderten, und ganz in sie hineingelebt, meinten sie, daß ihre Prinzipien Prinzipien alles Seienden wären. Da aber in der Mathematik die Zahlen von Natur das Erste sind, und sie in den Zahlen viele Ähnlichkeiten mit dem, was ist und wird, zu sehen glaubten, mehr als in Feuer, Erde und Wasser - denn die eine Erscheinungsform der Zahl sollte Gerechtigkeit sein, die andere Seele und Verstand, wieder andere Formen sollten Zeit und Gelegenheit sein und sozusagen alles und jedes, was es sonst noch gibt -, und indem sie ferner die Eigenschaften und Verhältnisse der musikalischer Töne in Zahlen fanden, so hielten sie, da das andere seiner ganzen Natur nach den Zahlen nachgebildet erschien, die Zahlen aber als das Erste in der« ganzen Natur galten, die Elemente der Zahlen für Elemente alles Seiender« und das ganze Himmelsgebäude für Harmonie und Zahl."(14)

Die Pythagoreer haben sich im Gegensatz zu der bisher vorherrschenden qualitativen Naturbetrachtung als erste einer - allerdings in ihren wesentlichen philosophischen Bezügen rein spekulativen  auf das Quantitative gerichteten Naturbetrachtung zugewandt. In ihren Spekulationen dominierte das phantastisch-mystische Element. Dies unterscheidet sie grundsätzlich von der exakten quantitativen Naturforschung, die sich in ihren ersten Ansätze im späten Mittelalter (vor allem bei Cusanus) anbahnt und seit Galilei zu der wesentlichsten Methode der Naturforschung geworden ist. Das Verdiens der pythagoreischen Schule besteht vor allem darin, eine enge Verbindung zwischen Physikalischem und Mathematischem hergestellt zu haben. Der ursprünglich materialistische Ansatz der Fragestellung nach dem Ursprünglichen, Allgemeinen und Bleibenden der Dinge (nach dem „Sein des Seienden") wird hier allerdings ins Idealistische verkehrt.

Angesichts der nun - wenn auch erst keimhaft - zutage tretenden gewaltigen Leistungsfähigkeit des mathematischen Denkens ist dieser Umschlag ins Idealistische keine zufällige Stufe innerhalb der Entwicklung der mensclhlichen Erkenntnis. Die Einsicht, daß es möglich war, ausgehend von einign fundamentalen mathematischen Sätzen, losgelöst von den Dingen der Erfahrung, ohne jede empirische Forschung zu richtigen Aussagen über die Maß- und Größenbeziehungen dieser Dinge zu gelangen, und zwar in allgemeinster Form, anwendbar auf ganze Klassen von Dingen oder sogar auf die Gesamtheit aller Gegenstände, war von revolutionierender Bedeutung. Es war die Geburtsstunde der rationalen Methode. Vor dem Hintergrund der damals noch weit verbreiteten mythologischen Weltanschauung mußte diese relative Eigengesetzlichkeit der Mathematik unweigerlich zu einer idealistischen Interpretation führen. Die entdeckten mathematischen Bezie­hungen mußten als göttliches „Gesetz" erscheinen. Sie offenbarten Ordnung und Harmonie, Kategorien, die auf Göttliches zu deuten schienen. So erhielt die Mathematik den Anschein des Transzendenten und „Meta"-Physischen.

Das philosophische Denken bewegte sich zu dieser Zeit vor allem um die Frage, welches das Prinzip oder die Substanz aller Dinge sei. Dieses Prin­zip sahen die Pythagoreer in der Zahl in den quantitativen Verhältnissen der Dinge. Im Unterschied zu den früheren Spekulationen der griechischen Naturphilosophen, die das „Prinzip", das Ursprüngliche und Wesenhafte der Dinge, im Stofflichen suchten, sind die konkreten Einzeldinge der sinnlichen Welt nach pythagoreischer Auffassung nicht aus diesem Prinzip als aus einem Urgrund hervorgegangen, sondern sie sind Abbilder dieses Prinzips, nämlich der Zahlen, sie richten sich nach diesen. Damit war der Ansatz für eine objektiv-idealistische, dualistische Interpretation der Welt gegeben: die Zah­len als das transzendent existierende, metaphysische Wesen im Unterschied zu den unvollkommenen stofflichen Dingen.

Die Tendenz, „hinter" oder „über" den Gegenständen der Sinneserfah­rung einen nur dem Denken zugänglichen Bereich anzunehmen, läßt sich nicht allein aus dem damaligen niedrigen Entwicklungsstand der Wissenschaften ableiten. Die abstrakten Begriffe, darunter auch die mathematischen, die dabei eine wesentliche Rolle spielen, müssen nicht obligatorisch hypostasiert werden. Daß dies im historischen Verlauf der Entwicklung der menschlichen Erkenntnis geschehen ist, hängt mit der mythologisch- religiösen Tradition, die für die frühe Etappe der Weltanschauung charakteristisch ist, zusammen.

Neben dieser negativen Tendenz enthält die pythagoreische Lehre eine positive: In dem Gedanken, daß das Weltgeschehen nach Maß und Zahl be­stimmt sei, ist die richtige Vorstellung von den mathematisch erfaßbaren Gesetzmäßigkeiten im Keim enthalten. Damit nähert sich die bis dahin auf das Qualitative gerichtete philosophische Spekulation dem Geist der exakten Wissenschaft. Wenn wir - vor allem im Hinblick auf die entstehende mo­derne Naturwissenschaft in der Renaissance - den Einfluß der Philosophie, und zwar ihren fördernden Einfluß zeigen wollen, so ist dieser philosophische Gedanke von der Mathematisierbarkeit der Naturerkenntnis neben der Ato­mistik an erster Stelle zu nennen. Zugleich stoßen wir hier auf eine echte, die Entwicklung fördernde Wechselwirkung zwischen Philosophie und Ein-Einzelwissenschaft. Der Gedanke von der dominierenden Wesenhaftigkeit der Zahl war, was seine Entstehung betrifft, nicht das Ergebnis einer mythologisch-dichterisch inspirierten Phantasie, sondern beruhte auf richtigen Beobachtungen. Will man vor allem die positiven Momente des philosophischen Denkens der Griechen zeigen, so darf man nicht in den noch häufig anzu­treffenden Fehler verfallen, die letztlich doch ins Mystisch-Religiöse geführ­ten Schlußfolgerungen der Pythagoreer als das Wesentliche zu betrachten. Aus einem im Prinzip richtigen, jedoch unvollständigen Ansatz lassen sich stets auch falsche Ideen ableiten. So mündet denn der positive Ansatz bei den Pythagoreern selbst in idealistischer Zahlenmystik.

Der Pythagoreismus ist seinem Wesen nach die erste Erscheinungsform der philosophischen Verabsolutierung der reinen Mathematik. Es ist nicht verwunderlich, daß die Erkenntnis der Eigengesetzlichkeit der Mathematik, die doch zeigte, daß die Dinge sich anscheinend nach ideellen Beziehungen und Verhältnissen richten, weil die abstrakt gewonnenen Erkenntnisse auf die Realität paßten, zu einem Fundament des Idealismus wurde. Noch viel später, z. B. Keplers Werk „Harmonice Mundi", finden sich ähnliche Ge­danken, und sogar bis in die jüngste Zeit hinein ist die Mathematisierbarkeit der Erkenntnisse von der Struktur der Materie für manche Wissenschaftler Grund genug für die Behauptung, daß die Materie verschwinde und letzten Endes nur die Gleichungen übrig blieben.(15)

Der wesentlichste methodologische Einfluß philosophischen Denkens auf die Formierung der Einzelwissenschaften durch Integration der seit langem (vor allem von den Ägyptern und Babyloniern) überlieferten einzelwissen­schaftlichen Kenntnisse rührt aus der Tatsache her, daß das philosophische Denken von vornherein auf das Allgemeine und Wesentliche gerichtet war. Somit tritt die Philosophie (genauer: die philosophische Denkmethode) als der theorienbildende Faktor in Erscheinung. Die hier auftauchende Frage, inwieweit angehäufte Kenntnisse ohne hinreichende Synthese durch eine Theorie bereits als Wissenschaft bezeichnet werden können, kann hier nicht behandelt werden. Für eine umfassende Darstellung wäre eine historische Untersuchung der Entwicklung des Begriffs „Wissenschaft" notwendig.

Die Mathematik war bei den Ägyptern und Babyloniern fast ausschließ­lich praktische Rechenkunst für die Bedürfnisse der Feldmeßkunst, der Kalenderrechnung, der Vorratswirtschaft und des Bauwesens, und der zum Teil mit Aberglauben vermischten Sternkunde gewesen. Theoretische An­sätze gab es natürlich, aber sie dürfen nur als allmähliche quantitative An­häufung eines entstehenden neuen Aspekts, des theoretischen, angesehen wer­den. Der Umschlag in die neue Qualität, die Entwicklung von empirischen Regeln zu allgemeingültigen Sätzen, die in ein System gebracht wurden, erolgte in Griechenland. Hierbei spielt die auf das Allgemeine und Wesent­liche gerichtete Tendenz des philosophischen Denkens, die nun auf die Ma­thematik angewandt und hier äußerst fruchtbar wurde, die entscheidende Rolle. Der theoretische Aspekt erhält jetzt seine endgültige Vorrangstellung, die Eigengesetzlichkeit der Mathematik tritt klar hervor.

Der qualitativen Denkweise der Philosophie - die nichts anderes ist als der Ausdruck der Tatsache, daß alle Erkenntnis mit der sinnlichen Wahr­nehmung beginnt, bei der die Qualitäten der Dinge dominieren - stellten die Pythagoreer die quantitative scharf gegenüber, und diese quantitative Denkweise feierte alsbald ungeahnte Triumphe, denn sie war in der Lage, Ilm Bereich der Erscheinungen exakt formulierbare gesetzmäßige Zusammenhänge festzustellen. Die Regelmäßigkeit der Gestirnbewegungen fand jetzt eine neue Deutung: die der gesetzmäßigen Ordnung. In welch erstaunlichem Maße die Pythagoreer abstrakt und rationalistisch orientiert waren, geht daraus hervor, daß sie sich so weit vom Sinnenschein abwandten, daß sie die noch fast zweitausend Jahre später als selbstverständlich angenommene Ansicht von der Mittelpunktstellung der Erde und ihrer Unbeweglichkeit auf­gaben. Die Bewegungen der Himmelskörper vollziehen sich nach ihrer Auffassung auf Kreisbahnen. Die Sphären der Planeten und die der Fixsterne Kreisen um ein Zentralfeuer. Die Erde ist kugelförmig. Ein wesentlicher Ausgangspunkt für die Zahlenlehre der Pythagoreer war ihre Entdeckung, daß die Tonhöhe der Saiteninstrumente in ganzzahligen Verhältnissen zur Saitenlänge steht, daß also die Töne mathematisch erfaßbar sind. Da erfahrungsgemäß jeder bewegte Körper ein Geräusch erzeugt, nahmen sie an, daß auch die Gestirnsphären bei ihrem Umlauf Töne erzeugen, und zwar müssen diese, entsprechend der mathematischen Wohlgeordnetheit der Umläufe, von großem Wohlklang sein (Sphärenharmonie). Daß wir nichts davon wahrnehmen, erklärten sie durch Gewöhnung an den ständigen Klang.

Der Grundgedanke des Pythagoreismus von der durchgehenden Mathematisierbarkeit der Erkenntnis gelangte nicht nur im naturwissenschaftlichen, sondern auch im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich zur Anwendung. Im Bereich der Ethik waren ihre Zahlenspekulationen allerdings völlig phantastisch, z. B. die Darstellung der Gerechtigkeit als Quadratzahl, oder der Vergleich des aristotelischen Staatsideals mit der geometrischen Proportion. Wie dem auch sei, positiv und von bleibendem Wert war die Erkenntnis von der Wesenhaftigkeit der Mathematik in dem Sinne, daß sie nicht bloß Rechenregeln für praktische Zwecke gibt, sondern eine exakte Erkenntnis bestimmter Erscheinungen liefert.

Der mystisch-religiöse Zug der Pythagoreer rührt in der Hauptsache daher, daß ihr Bund keine wissenschaftliche Vereinigung war, wie z. B. die Akademie Platons oder die Schule der Peripatetiker, sondern in Form einer religiösen Gemeinschaft organisiert war. Die pythagoreische Religion ist eine Vorstufe des Pantheismus.(16) Der negative Einfluß einer religiösen Weltan­schauung auf das wissenschaftliche Denken wird hier ganz offensichtlich: Die Zahlenspekulationen der Pythagoreer waren nicht mehr der Ausdruck einer rationalistischen Denkmöglichkeit, sondern das Ergebnis einer mystischen Grundeinstellung. Die mathematischen Relationen sollten nicht die physikalische Realität widerspiegeln, sondern diese sollte vielmehr durch a priori angenommene Zahlenverhältnisse erklärt werden: „Nachdem die Pythagoreer die Materie aus Zahlen abgeleitet hatten, schritten sie daran, die Hauptteile des Weltalls nach einem Plan anzuordnen, der nur zu geringem Teil auf Naturbeobachtung beruhte, in der Hauptsache vielmehr von apriorischen mathematischen Gedankengängen beherrscht war."(17)

Die Grundannahme des pythagoreischen Weltbildes war, daß die Welt aus Punkten (mathematisch durch die Eins ausgedrückt) bestehe, die eine bestimmte Ausdehnung haben. Durch ihre eigene Entdeckung, daß die Diagonale und die Seitenlänge des Quadrats inkommensurabel, also nicht rational erfaßbar seien („rational" hier noch im ursprünglichsten Sinne von „vernünftig"), wurde schließlich die Krisis ihres Weltbildes herbeigeführt. Wenn nämlich Diagonale und Seitenlänge eines Quadrats inkommensurabel sind, so folgt daraus, daß die Linie unendlich teilbar ist. Dann existierten die Punkte, aus denen das Universum für die Pythagoreer bestehen sollte, nicht. Die prinzipielle Erweiterung des Zahlenbereichs durch die Entdeckung der irrationalen Zahlen war mit den Zahlenspekulationen nicht vereinbar.

Das Erkenntnisproblem hatten die Pythagoreer gelöst, indem sie behaup­teten, Erkenntnis sei dadurch möglich, daß Gott die Zahlen nicht nur im die Natur hineingelegt habe, sondern auch in unseren Geist: Nur weil das Zahlensystem im menschlichen Geiste dasselbe sei wie in den Dingen der Natur, sei Erkenntnis möglich. Dies war ein Ansatzpunkt für die Ideenlehre Platons.

An einzelwissenschaftlichen Leistungen finden wir bei den Pythagoreern die elementaren Sätze über Parallelen, Dreiecke, Vierecke und Vielecke, zum Teil auch über den Kreis. Die Ergebnisse der pythagoreischen Geometrie hat Hippokrates von Chios im 5. Jh. v. d. Z. in einem Lehrbuch zusammengefaßt. Der sogenannte Pythagoreische Lehrsatz wurde nachweislich schon vor ihm angewandt, Pythagoras hat ihn wohl nur verallgemeinert. Als Stimulus für mathematische Untersuchungen, bei denen Einzelerkenntnisse von bleibendem Wert gewonnen wurden, dienten die Probleme der Dreiteilung des Winkels, der Quadratur des Kreises und der Verdoppelung des Würfels.(18)

Bernal bezeichnete die pythagoreische Schule als einen Knotenpunkt, von dem aus die Entwicklung der griechischen Wissenschaft in verschiedene Rich­tungen verlief. Die idealistisch-spekulativen Elemente wurden von Parme-nides übernommen und von Piaton als Ausgangspunkt für sein System des objektiven Idealismus benutzt, während die Lehre von den Zahlen im Ato­mismus Demokrits einen materialistischen Inhalt bekam.(19) Der wichtigste Beitrag der Pythagoreer für die Entwicklung der Naturwissenschaft besteht darin, daß sie insofern den Grund für eine exakte Naturforschung legten, als sie die physikalischen Größen unter dem Aspekt von Maß und Zahl be­trachteten.

Anmerkungen

14) Aristoteles, Metaphysik, A 5. 985 b 23 - 986 a 3.
15) Siehe W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, a. a. O., S. 289 f.

16
) Siehe W. K. Guthrie, Die griechischen Philosophen von Thaies bis Aristoteles Göt-
tingen 1960, S. 30 f.
17
) B. Farrington, Die Wissenschaft der Griechen, S. 35.
18) Siehe J. L. Heiberg, Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaften im Alter-
tum, München 1925, S. 4.
19) Siehe J. Bernal, Die Wissenschaft in der Geschichte, Berlin 1961, S. 137.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Günter Kröber (HG), Wissenschaft und Weltanschauung in der Antike, Berlin 1966, S. 135-141

Siehe dazu: