II. Zum Verhältnis von Philosophie und
Einzelwissenschaften in der Antike
Es
wird heute kaum noch bezweifelt, daß der
Ursprung der griechischen Philosophie bei
Thaies liegt. Die Überlieferungen aus der Zeit
vor Thaies geben uns keine Hinweise auf Ansätze
zu ausgeprägtem philosophischem penken. Die
Weltbilder Homers und Hesiods z. B., deren
Schriften uns den Geist Griechenlands aus der
Zeit vor Thaies nahebringen, waren
mythologischen Charakters.(2)
Jedoch gab es vor Thaies schon eine ganze Reihe
von Kenntnissen, die aus der Sicht der späteren
Entwicklung der Wissenschaft durchaus
einzelwissenschaftlichen Charakter trugen. Dies
gilt besonders für die eng mit der Praxis
verbundenen Wissenschaften der Mathematik, der
Astronomie und der Medizin. Diese Kenntnisse
hatten die Griechen ursprünglich von
Mesopotamien und Ägypten übernommen, bald aber
um Eigenes bereichert. Dabei besaßen die
Babylonier die reicheren mathematischen und vor
allem astronomischen Kenntnisse, die Ägypter
hingegen waren in der Medizin führend.(3)
Die Anfänge der Einzelwissenschaften liegen
also weiter zurück als die Keime der
Philosophie.
Indes wird durch
das philosophische Denken der Griechen den
vorhandenen wissenschaftlichen Kenntnissen ein
neues, wesentliches Element hinzugefügt,
dessen methodologische Bedeutung nicht hoch
genug veranschlagt werden kann: Das
philosophische Denken der ionischen
Naturphilosophie war ein erster Versuch, die
Welt als rationale Einheit zu begreifen. Diese
Tendenz, die Welt mit allen ihren Gegenständen,
vom Kosmos bis zum denkenden Menschen, in einen
umfassenden systematischen Zusammenhang zu
bringen, machte, auf das
einzelwissenschaftliche Material angewandt, aus
einer Summe von Kenntnissen erst eine
Wissenschaft. In dieser Beziehung kann man also
sagen, daß die Einzelwissenschaften aus der
Philosophie hervorgegangen sind. Ein zweiter
für den strengen Begriff der Wissenschaft
notwendiger Faktor wird ebenfalls von der
Philosophie geliefert: die Naturkausalität als
methodologisches Prinzip. Das Übergreifende der
bis dahin gewonnenen Kenntnisse war vor Thaies
das mythologische, magische Element gewesen.
Natürlich waren z. B. die Handlungen der Ärzte
spontan dem objektiv existierenden
Kausalzusammenhang angepaßt, sonst wäre eine
Heilung gar nicht möglich gewesen, aber dieser
selbst wurde nicht klar als solcher erkannt,
sondern die beobachtete Aufeinanderfolge wurde
dem Einguß übernatürlicher Kräfte
zugeschrieben. Mit diesem mythologischen
Denkschema bricht nun die griechische
Naturphilosophie, indem sie die Natur
aus sich selbst heraus erklären will,
nämlich aus den Grundeigenschatten eines
angenommenen Urstoffs oder Prinzips und deren
Kombinationen (Mischung und Trennung). Dies ist
die grundsätzliche Wendung zum
wissen-schaftlichen kausalen Denken.
Bekanntlich wurde der Begriff „Philosophie" im
alten Griechenland auf die Gesamtheit des
Wissens angewandt: „tflhxJOifia"
bedeutet Wissensliebe, im allgemeinsten Sinne.
Hiervon ausgehend hat sich die Auffassung
verbreitet, man müsse für die Periode der
Antike von einer Einheit von Philo-sophie und
Einzelwissenschaften sprechen, aus der sich
dann im Laufe der Zeit die Einzelwissenschaften
erst herauskristallisiert haben. Diese
Auffassung ist zwar nicht falsch, bedarf aber
doch der Erläuterung. Schon allein deswegen,
weil mit einiger Sicherheit die engere
Bedeutung des Begriffs „Phi-losophie", die sich
im wesentlichen mit der modernen deckt, bereits
bei Heraklit nachzuweisen ist.(4)
Geht man nicht von der Gleichheit der
Bezeichnung für die unterschied^ liehen
Gegenstände von Philosophie und
Einzelwissenschaften aus, sondern von dem
tatsächlichen Begriffsinhalt des Bezeichneten,
so zeigt sich sofort, daß die ursprüngliche
Einheit von Philosophie und
Einzelwissenschaften nur; eine relative Einheit
gewesen sein kann.
Worin besteht nun die tatsächliche Einheit von
Philosophie und Einzelwissenschaften, und
inwiefern sind sie von vornherein voneinander
unterschieden? Die Einheit von Philosophie und
Einzelwissenschaft ist in der, Hauptsache
dadurch gegeben, daß einem großen Teil der
Einzelwissenschaften das vorhandene spekulative
Weltbild der Philosophie zugrunde gelegt wurde.
Dies gilt vor allem für die physikalischen,
chemischen und biologischen
theoretischen Vorstellungen. Die
Weltbilder der im Ansatz vorhandenen
einzelwissenschaftlichen Disziplinen waren noch
nicht durch eine theoretische Durchdringung
ihres Materials und durch die Verallgemeinerung
ihrd Erkenntnisse fundiert, sondern wurzelten
in philosophischen Spekulationen.
Vor allem gilt dies für das astronomische
Weltbild, in dem Reste des altem mythologischen
Weltbildes noch lange anzutreffen waren.
Die Arbeits- und Praxisverachtung der
herrschenden Sklavenhalterklasse
führte dazu, daß allein die theoretische („rein
geistige") Beschäftigung als
des freien Mannes würdig und damit als zum
Bereich des Wissens gehörerd anerkannt wurde.
Deshalb wurden alle nicht zur Praxis gehörenden
Elemente der entstehenden Einzelwissenschaften
zum Bereich der Philosophie gerechnet. Nun sind
aber die einzelwissenschaftlichen Leistungen
jener Zeit
nicht in ihrer Gesamtheit von der
Philosophie erfaßt worden. Damit kommen wir zu
den Unterschieden zwischen Philosophie und
Einzelwissenschaften. Alle
praktischen
Ergebnisse und Anwendungen der
Einzelwissenschaften (es sei hier nur daran
erinnert, daß Platon
aller Anwendung der Mathematik prinzipiell
ablehnend gegenüberstand) wurden von der
herrschenden Klasse als eo ipso ihrer unwürdig
verachtet. Nichtsdestoweniger existierten sie
aber. Es gab einzelwissenschaftliche
Disziplinen, die bereits zur Zeit der
Entstehung der Philosophie in Griechenland
durch ihre praktische Anwendung eine gewisse
Selbständigkeit erlangt hatten; es waren dies
in der Hauptsache die Medizin und die
Astronomie. Es sind gerade die
Detailerkenntnisse dieser Wissenschaften, die
nicht in den Bereich der Philosophie eingingen.
Dies gilt ebenso - wenngleich mit Einschränkung
- für die Mathematik, die es nach platonischer
Auffassung doch mit reinen Formen, mit idealen
Verhältnissen zu tun hatte. Wenn auch über dem
Eingang zur Platonischen Akademie die Inschrift
stand: „Kein der Geometrie Unkundiger trete
hier ein", so geben uns die Schriften Platons
doch keineswegs Auskunft über den Stand der
Mathematik im einzelnen. Was dort über
Mathematik gesagt wird, ist bereits
philosophische Deutung der Mathematik. Auch die
angewandten Erkenntnisse der Medizin und der
Astronomie gehörten nicht zum Bereich der
Philosophie. Dies berechtigt uns zu der
Schlußfolgerung, daß die
Wurzeln der Selbständigkeit der
Einzelwissenschaften in der Praxis liegen und
älter sind als die relative, zum Teil auf
Spekulationen und auf verbaler Gleichheit
beruhende Einheit von Philosophie und
Einzelwissenschaften. Angesichts dieser
relativen Einheit erscheint die These, die
Einzelwissenschaften seien aus dem Schoße
der Philosophie hervorgegangen, in dieser
Allgemeinheit problematisch. Die These der
wesentlichen oder gar vollständigen Einheit
beider ist in Wahrheit eine unzulässige, auf
die Vergangenheit extrapolierte
Verallgemeinerung der historischen Tatsache,
daß die Philosophie, und zwar in erster Linie
der Aristotelismus, in zweiter Linie der
Neuplatonismus, zu Beginn des Kampfes der
entstehenden modernen Wissenschaft gegen den
scholastischen Wissenschaftsbetrieb die
Einzelwissenschaften okkupiert hatte. So gab es
- und dies hat historische Ursachen und nicht
solche, die in der Sache selbst liegen - im
ausgehenden Mittelalter keine
einzelwissenschaftliche Disziplin, die nicht am
philosophischen Maßstab des - überdies noch
wesentlich durch die Scholastik verfälschten -
aristotelischen Dogmatismus gemessen worden
wäre.
Richtig ist
also die Feststellung, daß die
modernen
Einzelwissenschaften sich
aus den Fesseln scholastischer Bevormundung
befreien mußten und
in diesem
Sinne
aus der
Philosophie hervorgegangen sind, die sie zu
Unrecht absorbiert hatte. Die Philosophie, von
der die Einzelwissenschaften sich erst
befreien mußten (was etwas
anderes ist als ein Hervorgehen aus ihrem
Schöße), war keineswegs die Philosophie
schlechthin. Neben der auf Demo-krit
zurückgehenden atomistischen Tradition, die
erst in der Neuzeit wieder zur Geltung kam und
in den Einzelwissenschaften reiche Früchte
trug, gab es auch andere progressive
Richtungen, die faktisch für die Freiheit der
Einzelwissenschaften kämpften. Programmatisch
für alle diese Strömungen war die Forderung
Wilhelm von Ockhams, „die Dinge nicht über ihre
Wesenheit zu vervielfachen", d. h. keine
überflüssigen Begriffe zu schaffen, sondern die
Dinge aus ihrem materiellen Zusammenhang heraus
zu erklären.
Vom Gegenstand her haben sich Philosophie und
Einzelwissenschaften von vornherein
obligatorisch voneinander unterschieden. Daß
dieser wesentliche Unterschied durch eine
homonyme Bezeichnung sprachlich verdeckt wurde,
ändert nichts an der Tatsache. Viele
geometrische Beziehungen, astronomische
Messungen oder medizinische Heilverfahren waren
kaum von philosophischer Relevanz und wurden
auch nicht in philosophischen Schriften
überliefert. In keiner Geschichte der
Philosophie, in keiner philosophischen
Quellensammlung findet sich auch nur ein
skizzenhafter Abriß der Einzelwissenschaften.
Will man sich mit deren Entwicklungsgang
bekannt machen, so muß man andere Quellen
heranziehen, und diese Quellen sind nichts
anderes als die einzelwissenschaftlichen
Darstellungen aus der betreffenden Periode.(5)
Im Unterschied zu den Einzelwissenschaften
hatte es die Philosophie, in der exakten
Bedeutung des Begriffs, von vornherein mit
allgemeineren Problemen zu tun. Das, was
Aristoteles als „Metaphysik" bezeichnet,
enthält einen rationellen Kern. Dieses
„Meta-Physische" vor allem ist Gegenstand der
Philosophie. Metaphysik war aber nun, allgemein
gesagt, nichts anderes als die Suche nach dem
Wesen der Dinge, das sich die idealistische
Philosophie als überirdisch, als transzendent
vorstellte. Der materialistisch zu negierende
rationelle Kern der Metaphysik liegt in dem,
was zum Beispiel die Positivisten den
Vertretern des dialektischen Materialismus als
„metaphysisch" ankreiden. Es sind dies vor
allem Verallgemeinerungen, die über den Rahmen
der einzelwissenschaftlichen
Verallgemeinerungen hinausgehen. Das Ziel
dieser philosophischen Verallgemeinerungen ist
zum großen Teil unmittelbar identisch mit der
Beantwortung der Probleme, die bei jeder
Weltanschauung im Vordergrund stehen: Ursprung
und Beschaffenheit der Welt, Ursprung der
Bewegung, des Lebens und des Geistes,
Verhältnis von Körper und Seele u. a. Hinzu
kommen noch die Fragen der Beziehungen der
Menschen untereinander, sowohl die
unmittelbar existentiellen, vor allen die
ethischen und psychologischen, bei denen der
empfindende, denkend« und
handelnde Mensch im Vordergrund steht, als auch
die allgemeinen gesellschaftlichen und
historischen Fragen. Zu allen diesen Problemen
lieferr die Einzelwissenschaften zwar Material,
aber die weltanschauliche Deutung derselben
liegt im wesentlichen außerhalb der
Einzelwissenschaften. In dieser Beziehung kommt
den Einzelwissenschaften insofern das Primat
zu, als es unmöglich ist, ohne hinreichend
gesicherte Erkenntnisse
einzelwissenschaftlicher Art ein
Gedankengebäude zu schaffen, das die Totalität
des Seins soweit wie möglich umfassen und
richtig widerspiegeln soll. Alle
entgegengesetzten Versuche, deren präziseste
Varianten etwa im Begriffsschema des
Scholastikers Raimundus Lullus und in
Leibnizens mathesis universalis zu sehen sind,
mußten zwangsläufig scheitern. Dieses relative
Primat berechtigt nun nicht zu einem Werturteil
derart, daß die Philosophie sich gleichsam in
einer Art Nachtrababhängigkeit von den
Einzelwissenschaften befinde. Eine
wissenschaftliche Philosophie ist insofern auf
die Erkenntnisse der Einzelwissenschaften
angewiesen, als sie in erster Linie eine
Verallgemeinerung dieser Erkenntnisse ist.
Wenn wir eingangs
festgestellt haben, daß man nicht schlechthin
sagen könne, die Philosophie sei allgemein die
umfassende Universal Wissenschaft gewesen, aus
der sich die Einzelwissenschaften herausgelöst
haben, so müssen wir diese Feststellung jetzt
im Hinblick auf das Verhältnis von Philosophie
und Physik relativieren. Die Anfänge der Physik
als theoretischer Wissenschaft (nicht als
Sammlung empirisch gewonnener praktischer
mechanischer Regeln) sind untrennbar verbunden
mit dem philosophischen, spekulativen Denken.
Mehr noch: sie liegen unmittelbar im Bereich
der Naturphilosophie. Der Grund hierfür dürfte
darin zu sehen sein, daß Physik und Philosophie
teilweise und in bestimmter Beziehung einen
gemeinsamen Gegenstand haben, nämlich die
allgemeinsten, primären, d. h. die bei jeder
Entwicklung bereits vorhandenen Strukturen und
Relationen (vor allem die Gesetzmäßigkeiten)
der materiellen Welt. Da exakte, wenn auch noch
so geringe theoretische Ansätze für die Physik
in dieser Anfangsperiode der
wissenschaftlichen Erkenntnis noch nicht
gegeben werden konnten (diese ließen noch zwei
Jahrtausende auf sich warten), liegen die
ersten Versuche einer allgemeinen abstrakten
Naturerklärung völlig im Bereich der
Naturphilosophie.
Zum Begriff
„Physik", wie wir ihn im Hinblick auf die
Antike verwenden und wie
er in der Antike verwendet wurde, sind noch
einige erläuternde Worte notwendig.
Unter „(fvoixrj" verstand man seit
Aristoteles die Lehre
von den
allgemeinen und wesentlichen Problemen der
unbelebten Natur
überhaupt. In den Grundzügen war indessen der
Hauptgegenstand der antiken Physik der gleiche,
der auch von der modernen Physik erforscht wird:
die Grundstruktur und die grundlegenden
Gesetzmäßigkeiten der materiellen Welt (in dem
Sinne, daß die physikalische Bewegungsform
allen anderes Bewegungsformen der Materie
zugrunde liegt). Der allgemeine Gegenstand der
heutigen Physik (selbstverständlich ohne die im
wesentlichen im 19. undl 20. Jahrhundert neu
entdeckten Bereiche) dominierte demnach bereits
zur Zeit der Anfänge der
antiken Physik. Diese beschränkte sich aber
nicht auf ihn. In die
Spekulationen über die „physis" wurden die
Bereiche mit einbezogen, die in naher
Verbindung mit dem Bereich der Physik im
engeren, modernen Sinne
stehen: Chemie, Geologie, Meteorologie und
Astronomie, wobei die letztere, als bereits
relativ entwickelte Einzelwissenschaft (was die
Beobachtungen betrifft) schon weitgehende
Selbständigkeit erlangt hatte. Da
die naturphilosophischen Spekulationen über die
Gegenstände der Chemie,
der Geologie und Meteorologie für eine
Darstellung der Anfänge diesen Disziplinen als
wirklicher Wissenschaften kaum von Belang sind,
werden sie von uns nicht
behandelt. Sie gehören zu den eingangs
erwähnten historiscH unvermeidlichen Irrtümern
und sind erste, tastende Schritte in einem noch
weglosen Gelände.
Anmerkungen
2) Siehe J. V. Kropp, Das
physikalische Weltbild der frühen griechischen
Dichtung, phil. Diss., Freiburg, Schweiz 1939.
3) Siehe S. F. Mason, Geschichte der
Naturwissenschaft, Stuttgart 1961, S. 20-30.
4) Siehe F. Überweg, Grundriß der Geschichte
der Philosophie, Bd. 1, Darmstadt 1957, S. 2.
5) Siehe M. Cantor, Vorlesungen über die
Geschichte der Mathematik, Leipzig 1894-1901.
Editorische Hinweise
Der Text wurde entnommen aus: Günter Kröber
(HG), Wissenschaft und Weltanschauung in der
Antike, Berlin 1966, S. 125-130
Siehe dazu:
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