Erkenntnissse und Irrtümer in der griechischen Naturphilosophie (Teil II)

von Helmut Mielke

10/2019

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II. Zum Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaften in der Antike

Es wird heute kaum noch bezweifelt, daß der Ursprung der griechischen Philosophie bei Thaies liegt. Die Überlieferungen aus der Zeit vor Thaies geben uns keine Hinweise auf Ansätze zu ausgeprägtem philosophischem penken. Die Weltbilder Homers und Hesiods z. B., deren Schriften uns den Geist Griechenlands aus der Zeit vor Thaies nahebringen, waren mythologi­schen Charakters.(2) Jedoch gab es vor Thaies schon eine ganze Reihe von Kenntnissen, die aus der Sicht der späteren Entwicklung der Wissenschaft durchaus einzelwissenschaftlichen Charakter trugen. Dies gilt besonders für die eng mit der Praxis verbundenen Wissenschaften der Mathematik, der Astronomie und der Medizin. Diese Kenntnisse hatten die Griechen ur­sprünglich von Mesopotamien und Ägypten übernommen, bald aber um Eige­nes bereichert. Dabei besaßen die Babylonier die reicheren mathematischen und vor allem astronomischen Kenntnisse, die Ägypter hingegen waren in der Medizin führend.(3) Die Anfänge der Einzelwissenschaften liegen also weiter zurück als die Keime der Philosophie.

Indes wird durch das philosophische Denken der Griechen den vorhan­denen wissenschaftlichen Kenntnissen ein neues, wesentliches Element hinzu­gefügt, dessen methodologische Bedeutung nicht hoch genug veranschlagt werden kann: Das philosophische Denken der ionischen Naturphilosophie war ein erster Versuch, die Welt als rationale Einheit zu begreifen. Diese Tendenz, die Welt mit allen ihren Gegenständen, vom Kosmos bis zum denkenden Menschen, in einen umfassenden systematischen Zusammenhang zu bringen, machte, auf das einzelwissenschaftliche Material angewandt, aus einer Summe von Kenntnissen erst eine Wissenschaft. In dieser Beziehung kann man also sagen, daß die Einzelwissenschaften aus der Philosophie her­vorgegangen sind. Ein zweiter für den strengen Begriff der Wissenschaft notwendiger Faktor wird ebenfalls von der Philosophie geliefert: die Natur­kausalität als methodologisches Prinzip. Das Übergreifende der bis dahin gewonnenen Kenntnisse war vor Thaies das mythologische, magische Ele­ment gewesen. Natürlich waren z. B. die Handlungen der Ärzte spontan dem objektiv existierenden Kausalzusammenhang angepaßt, sonst wäre eine Hei­lung gar nicht möglich gewesen, aber dieser selbst wurde nicht klar als solcher erkannt, sondern die beobachtete Aufeinanderfolge wurde dem Ein­guß übernatürlicher Kräfte zugeschrieben. Mit diesem mythologischen Denkschema bricht nun die griechische Naturphilosophie, indem sie die Natur aus sich selbst heraus erklären will, nämlich aus den Grundeigenschatten eines angenommenen Urstoffs oder Prinzips und deren Kombinationen (Mischung und Trennung). Dies ist die grundsätzliche Wendung zum wissen-schaftlichen kausalen Denken.

Bekanntlich wurde der Begriff „Philosophie" im alten Griechenland auf die Gesamtheit des Wissens angewandt: „tflhxJOifia" bedeutet Wissensliebe, im allgemeinsten Sinne. Hiervon ausgehend hat sich die Auffassung verbreitet, man müsse für die Periode der Antike von einer Einheit von Philo-sophie und Einzelwissenschaften sprechen, aus der sich dann im Laufe der Zeit die Einzelwissenschaften erst herauskristallisiert haben. Diese Auffas­sung ist zwar nicht falsch, bedarf aber doch der Erläuterung. Schon allein deswegen, weil mit einiger Sicherheit die engere Bedeutung des Begriffs „Phi-losophie", die sich im wesentlichen mit der modernen deckt, bereits bei Heraklit nachzuweisen ist.(4)

Geht man nicht von der Gleichheit der Bezeichnung für die unterschied^ liehen Gegenstände von Philosophie und Einzelwissenschaften aus, sondern von dem tatsächlichen Begriffsinhalt des Bezeichneten, so zeigt sich sofort, daß die ursprüngliche Einheit von Philosophie und Einzelwissenschaften nur; eine relative Einheit gewesen sein kann.

Worin besteht nun die tatsächliche Einheit von Philosophie und Einzel­wissenschaften, und inwiefern sind sie von vornherein voneinander unterschieden? Die Einheit von Philosophie und Einzelwissenschaft ist in der, Hauptsache dadurch gegeben, daß einem großen Teil der Einzelwissenschaften das vorhandene spekulative Weltbild der Philosophie zugrunde gelegt wurde. Dies gilt vor allem für die physikalischen, chemischen und biologischen theoretischen Vorstellungen. Die Weltbilder der im Ansatz vorhandenen einzelwissenschaftlichen Disziplinen waren noch nicht durch eine theoretische Durchdringung ihres Materials und durch die Verallgemeinerung ihrd Erkenntnisse fundiert, sondern wurzelten in philosophischen Spekulationen. Vor allem gilt dies für das astronomische Weltbild, in dem Reste des altem mythologischen Weltbildes noch lange anzutreffen waren.

Die Arbeits- und Praxisverachtung der herrschenden Sklavenhalterklasse führte dazu, daß allein die theoretische („rein geistige") Beschäftigung als des freien Mannes würdig und damit als zum Bereich des Wissens gehörerd anerkannt wurde. Deshalb wurden alle nicht zur Praxis gehörenden Elemente der entstehenden Einzelwissenschaften zum Bereich der Philosophie gerechnet. Nun sind aber die einzelwissenschaftlichen Leistungen jener Zeit nicht in ihrer Gesamtheit von der Philosophie erfaßt worden. Damit kom­men wir zu den Unterschieden zwischen Philosophie und Einzelwissenschaf­ten. Alle praktischen Ergebnisse und Anwendungen der Einzelwissenschaften (es sei hier nur daran erinnert, daß Platon aller Anwendung der Mathematik prinzipiell ablehnend gegenüberstand) wurden von der herrschenden Klasse als eo ipso ihrer unwürdig verachtet. Nichtsdestoweniger existierten sie aber. Es gab einzelwissenschaftliche Disziplinen, die bereits zur Zeit der Entstehung der Philosophie in Griechenland durch ihre praktische Anwendung eine gewisse Selbständigkeit erlangt hatten; es waren dies in der Hauptsache die Medizin und die Astronomie. Es sind gerade die Detailerkenntnisse dieser Wissenschaften, die nicht in den Bereich der Philosophie eingingen. Dies gilt ebenso - wenngleich mit Einschränkung - für die Mathematik, die es nach platonischer Auffassung doch mit reinen Formen, mit idealen Verhältnissen zu tun hatte. Wenn auch über dem Eingang zur Platonischen Akademie die Inschrift stand: „Kein der Geometrie Unkundiger trete hier ein", so geben uns die Schriften Platons doch keineswegs Auskunft über den Stand der Mathematik im einzelnen. Was dort über Mathematik gesagt wird, ist bereits philosophische Deutung der Mathematik. Auch die angewandten Erkenntnisse der Medizin und der Astronomie gehörten nicht zum Bereich der Philosophie. Dies berechtigt uns zu der Schlußfolgerung, daß die Wurzeln der Selbständigkeit der Einzelwissenschaften in der Praxis liegen und älter sind als die relative, zum Teil auf Spekulationen und auf verbaler Gleichheit beruhende Einheit von Philosophie und Einzelwissenschaften. Angesichts dieser relativen Einheit erscheint die These, die Einzelwissenschaften seien aus dem Schoße der Philosophie hervorgegangen, in dieser Allgemeinheit problematisch. Die These der wesentlichen oder gar vollständigen Einheit beider ist in Wahrheit eine unzulässige, auf die Vergangenheit extrapolierte Verallgemeinerung der historischen Tatsache, daß die Philosophie, und zwar in erster Linie der Aristotelismus, in zweiter Linie der Neuplatonismus, zu Beginn des Kampfes der entstehenden modernen Wissenschaft gegen den scholastischen Wissenschaftsbetrieb die Einzelwissenschaften okkupiert hatte. So gab es - und dies hat historische Ursachen und nicht solche, die in der Sache selbst liegen - im ausgehenden Mittelalter keine einzelwissenschaftliche Disziplin, die nicht am philosophischen Maßstab des - überdies noch wesentlich durch die Scholastik verfälschten - aristotelischen Dogmatismus gemessen worden wäre.

Richtig ist also die Feststellung, daß die modernen Einzelwissenschaften sich aus den Fesseln scholastischer Bevormundung befreien mußten und in diesem Sinne aus der Philosophie hervorgegangen sind, die sie zu Unrecht absorbiert hatte. Die Philosophie, von der die Einzelwissenschaften sich erst befreien mußten (was etwas anderes ist als ein Hervorgehen aus ihrem Schöße), war keineswegs die Philosophie schlechthin. Neben der auf Demo-krit zurückgehenden atomistischen Tradition, die erst in der Neuzeit wieder zur Geltung kam und in den Einzelwissenschaften reiche Früchte trug, gab es auch andere progressive Richtungen, die faktisch für die Freiheit der Ein­zelwissenschaften kämpften. Programmatisch für alle diese Strömungen war die Forderung Wilhelm von Ockhams, „die Dinge nicht über ihre Wesen­heit zu vervielfachen", d. h. keine überflüssigen Begriffe zu schaffen, sondern die Dinge aus ihrem materiellen Zusammenhang heraus zu erklären.

Vom Gegenstand her haben sich Philosophie und Einzelwissenschaften von vornherein obligatorisch voneinander unterschieden. Daß dieser wesent­liche Unterschied durch eine homonyme Bezeichnung sprachlich verdeckt wurde, ändert nichts an der Tatsache. Viele geometrische Beziehungen, astro­nomische Messungen oder medizinische Heilverfahren waren kaum von phi­losophischer Relevanz und wurden auch nicht in philosophischen Schriften überliefert. In keiner Geschichte der Philosophie, in keiner philosophischen Quellensammlung findet sich auch nur ein skizzenhafter Abriß der Einzel­wissenschaften. Will man sich mit deren Entwicklungsgang bekannt machen, so muß man andere Quellen heranziehen, und diese Quellen sind nichts anderes als die einzelwissenschaftlichen Darstellungen aus der betreffenden Periode.(5)

Im Unterschied zu den Einzelwissenschaften hatte es die Philosophie, in der exakten Bedeutung des Begriffs, von vornherein mit allgemeineren Pro­blemen zu tun. Das, was Aristoteles als „Metaphysik" bezeichnet, enthält einen rationellen Kern. Dieses „Meta-Physische" vor allem ist Gegenstand der Philosophie. Metaphysik war aber nun, allgemein gesagt, nichts anderes als die Suche nach dem Wesen der Dinge, das sich die idealistische Philo­sophie als überirdisch, als transzendent vorstellte. Der materialistisch zu ne­gierende rationelle Kern der Metaphysik liegt in dem, was zum Beispiel die Positivisten den Vertretern des dialektischen Materialismus als „metaphysisch" ankreiden. Es sind dies vor allem Verallgemeinerungen, die über den Rahmen der einzelwissenschaftlichen Verallgemeinerungen hinausgehen. Das Ziel dieser philosophischen Verallgemeinerungen ist zum großen Teil unmittelbar identisch mit der Beantwortung der Probleme, die bei jeder Weltanschauung im Vordergrund stehen: Ursprung und Beschaffenheit der Welt, Ursprung der Bewegung, des Lebens und des Geistes, Verhältnis von Körper und Seele u. a. Hinzu kommen noch die Fragen der Beziehungen der Menschen untereinander, sowohl die unmittelbar existentiellen, vor allen die ethischen und psychologischen, bei denen der empfindende, denkend« und handelnde Mensch im Vordergrund steht, als auch die allgemeinen gesellschaftlichen und historischen Fragen. Zu allen diesen Problemen lieferr die Einzelwissenschaften zwar Material, aber die weltanschauliche Deutung derselben liegt im wesentlichen außerhalb der Einzelwissenschaften. In dieser Beziehung kommt den Einzelwissenschaften insofern das Primat zu, als es unmöglich ist, ohne hinreichend gesicherte Erkenntnisse einzelwissen­schaftlicher Art ein Gedankengebäude zu schaffen, das die Totalität des Seins soweit wie möglich umfassen und richtig widerspiegeln soll. Alle entgegen­gesetzten Versuche, deren präziseste Varianten etwa im Begriffsschema des Scholastikers Raimundus Lullus und in Leibnizens mathesis universalis zu sehen sind, mußten zwangsläufig scheitern. Dieses relative Primat berechtigt nun nicht zu einem Werturteil derart, daß die Philosophie sich gleichsam in einer Art Nachtrababhängigkeit von den Einzelwissenschaften befinde. Eine wissenschaftliche Philosophie ist insofern auf die Erkenntnisse der Einzel­wissenschaften angewiesen, als sie in erster Linie eine Verallgemeinerung dieser Erkenntnisse ist.

Wenn wir eingangs festgestellt haben, daß man nicht schlechthin sagen könne, die Philosophie sei allgemein die umfassende Universal Wissenschaft gewesen, aus der sich die Einzelwissenschaften herausgelöst haben, so müs­sen wir diese Feststellung jetzt im Hinblick auf das Verhältnis von Philosophie und Physik relativieren. Die Anfänge der Physik als theoretischer Wissenschaft (nicht als Sammlung empirisch gewonnener praktischer mecha­nischer Regeln) sind untrennbar verbunden mit dem philosophischen, speku­lativen Denken. Mehr noch: sie liegen unmittelbar im Bereich der Naturphilosophie. Der Grund hierfür dürfte darin zu sehen sein, daß Physik und Philosophie teilweise und in bestimmter Beziehung einen gemeinsamen Ge­genstand haben, nämlich die allgemeinsten, primären, d. h. die bei jeder Ent­wicklung bereits vorhandenen Strukturen und Relationen (vor allem die Gesetzmäßigkeiten) der materiellen Welt. Da exakte, wenn auch noch so geringe theoretische Ansätze für die Physik in dieser Anfangsperiode der wissen­schaftlichen Erkenntnis noch nicht gegeben werden konnten (diese ließen noch zwei Jahrtausende auf sich warten), liegen die ersten Versuche einer allgemeinen abstrakten Naturerklärung völlig im Bereich der Naturphilosophie.

Zum Begriff „Physik", wie wir ihn im Hinblick auf die Antike verwenden und wie er in der Antike verwendet wurde, sind noch einige erläuternde Worte  notwendig. Unter „(fvoixrj" verstand man seit Aristoteles die Lehre von den allgemeinen und wesentlichen Problemen der unbelebten Natur überhaupt. In den Grundzügen war indessen der Hauptgegenstand der antiken Physik der gleiche, der auch von der modernen Physik erforscht wird: die Grundstruktur und die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der materiellen Welt (in dem Sinne, daß die physikalische Bewegungsform allen anderes Bewegungsformen der Materie zugrunde liegt). Der allgemeine Gegenstand der heutigen Physik (selbstverständlich ohne die im wesentlichen im 19. undl 20. Jahrhundert neu entdeckten Bereiche) dominierte demnach bereits zur Zeit der Anfänge der antiken Physik. Diese beschränkte sich aber nicht auf ihn. In die Spekulationen über die „physis" wurden die Bereiche mit einbezogen, die in naher Verbindung mit dem Bereich der Physik im engeren, modernen Sinne stehen: Chemie, Geologie, Meteorologie und Astronomie, wobei die letztere, als bereits relativ entwickelte Einzelwissenschaft (was die Beobachtungen betrifft) schon weitgehende Selbständigkeit erlangt hatte. Da die naturphilosophischen Spekulationen über die Gegenstände der Chemie, der Geologie und Meteorologie für eine Darstellung der Anfänge diesen Disziplinen als wirklicher Wissenschaften kaum von Belang sind, werden sie von uns nicht behandelt. Sie gehören zu den eingangs erwähnten historiscH unvermeidlichen Irrtümern und sind erste, tastende Schritte in einem noch weglosen Gelände.

Anmerkungen

2) Siehe J. V. Kropp, Das physikalische Weltbild der frühen griechischen Dichtung, phil. Diss., Freiburg, Schweiz 1939.
3) Siehe S. F. Mason, Geschichte der Naturwissenschaft, Stuttgart 1961, S. 20-30.
4) Siehe F. Überweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Darmstadt 1957, S. 2.
5) Siehe M. Cantor, Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik, Leipzig 1894-1901.
 

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Günter Kröber (HG), Wissenschaft und Weltanschauung in der Antike, Berlin 1966, S. 125-130

Siehe dazu: