Editorial
Das Recht auf Stadt als kollektives Recht durchsetzen

von Karl-Heinz Schubert

02-2014

trend
onlinezeitung

Noch am Dienstagmorgen, den 28.1.14  unkte die "Berliner Zeitung", dass das "Volksbegehren" der Demokratischen Initiative 100% Tempelhofer Feld e.V gegen jegliche Bebauung des Tempelhofer Feldes [ehemaliges Berliner innerstädtisches Flughafengelände] wegen der vielen ungültigen Stimmen scheitern könnte. Am selben Abend lag das Ergebnis vor: die notwendigen 7% waren erreicht. Der Senat muss nun einen Volkentscheid durchführen.

David Harvey hebt in seinem neuen Buch "Rebellische Städte" zurecht hervor, dass die Parole "Recht auf Stadt" nicht ein Individualrecht sei oder einfach die Summe individueller Recht meint, sondern das kollektive Recht der StadtproduzentInnen ist. Das Recht auf Stadt ist für ihn kein leeres sprachliches Zeichen, sondern eine durch antikapitalistische Theorie und Praxis angefüllte Losung mit dem Ziel, die Aneignung des kollektiven Produkts Stadt zu erkämpfen, die im Kapitalismus ausschließlich der protitablen Verwertung dient und in der ihre BewohnerInnen zu "sekundär" Ausgebeuteten degradiert werden.

Während der Kampf von Kotti & Co. und anderen Mieterinitiativen darauf ausgerichtet ist, eine für die Mieter noch erschwingliche Mietobergrenze als Individualrecht zu erkämpfen, entwickelt sich linke Stadtteilpolitik durch den Kampf um das "Tempelhofer Feld" sukzessive in Richtung kollektive Aneigung städtischen Raumes. Gerade auch deshalb, weil der Kampf von Anfang an nicht  nur als Wahrnehmung formaler Rechte ("Bürgerbeteiligung") geführt wurde. Unvergessen sind die praktischen Versuche das mit Stacheldraht verbarrikadierte Feld zu öffnen und zu (be)nutzen. Nach etlichen Aktionen - inklusive unfreundlicher Polizeieinsätze - wurde die Öffnung durchgesetzt und durch Anlegung von allmendeartigen Gärten wurde die Aneigung auch symbolisch und praktisch vollzogen. 

Gebetsmühlenartig hat der Berliner Senat behauptet, auf dem Feld sollen vor allem "erschwingliche Wohnungen" errrichtet werden, das dürfe nicht gefährdet werden. Selbst das alternative Mietshäuser Syndikat, dass seit längerem im autonomen Spektrum reussiert,  wurde aufgefordert Baupläne einzureichen (Tsp.8.11.13). Auf Teufel komm raus wurde durch das herrschende politische Personal dieser Stadt das vermeindliche Individualrecht auf Wohnraum gegen das kollektive Recht am öffentlichen Raum argumentativ in Anschlag gebracht.

Selbst den "oppositionellen" Bündnisgrünen ist die kollektive Aneigung  und damit die Verlagerung von Entscheidungen heraus aus hierarchischen staatlichen Strukturen in die Hände der diese Stadt auf vielfältige Weise täglich Produzierenden ein Graus. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden des erfolgreichen Begehrens verlautbarten sie, dass der Senat und die "Demokratische Initiative 100% Tempelhofer Feld" ihre bisherigen Forderungen  überdenken und von ihren „Maximalpositionen“ abrücken sollten: „Zwischen den überdimensionierten Bauplänen von Senator Müller und der Nulllösung der Initiative gibt es einen dritten Weg.“ (Tsp.29.1.14) Sie brachten dafür ein sogenanntes Planungsmoratorium ins Spiel, um der Gefahr des weiter anschwellenden Protests entgegen zu wirken und den Meinungsbildungsprozess in der Regie des Staates zu belassen. CDU und die staatssozialistische Linkspartei begrüßten postwendend diesen Vorschlag. (heute.de, 29.1.14)

Auch wenn heute noch Mietkämpfe ziemlich unvermittelt neben Kämpfen um den Erhalt öffentlicher Räume bzw. um die gemeinsame Wiederaneignung öffentlichen Raumes ablaufen, die praktischen Anlässe, die politisch-praktische Vermittlung dieser Felder werden durch die kapitalistische Verwertungsdynamik von selber auf die Tagesordnung gesetzt. Exemplarisch in Berlin nachzuvollziehen am gemeinsamen Kampf von Mieterbeirat des Wohnquartiers Thälmannpark und Anwohner-Initiative Ernst-Thälmann-Park gegen die zeitgleiche mietpreistreibende Gebäudesanierung und die Umwandlung des Parks und angrenzender Flächen für die Errichtung von hochpreisigem Wohnraum.

Der öffentlich geförderte Wohnungsbau, der hier angeblich von einer "selbstsüchtigen, auf das querulatorische Potenzial der Stadt spekulierenden Initiative" behindert wird, wie der reaktionäre Götz Aly in einem Kommentar in der Berliner Zeitung von 20.1.14 gegen das Volksbegehren hetzt, war historisch immer nur der regulierende Eingriff in stagnierende Kapitalverwertung. Teilweise ergaben sich daraus Eigentums- und Verwaltungsformen, die bis an die Grenze der Transformation der marktwirtschaftlichen Verfasstheit reichten. Im Wien der 20er Jahre war z.B. nach Ansicht von Adelheid von Saldern die Kapitalverwertung "zwar nicht durchgängig strukturell eliminiert (Erhaltung des Privatbesitzes auf dem Wohnungssektor, vor allem im Althausbestand), aber in funktioneller Hinsicht de facto suspendiert bzw. im Gemeinde Wohnungsbau sogar ganz ausgeschaltet worden."

Nach den beiden Weltkriegen herrschte in etlichen europäischen Staaten, sogar in solchen, die nicht kriegsbeteiligt waren wie z.B. Schweden, eine massive Wohnungsnot. Woraus sich der Sachzwang ergab, mit zentralen staatlichen Maßnahmen, die hierarchisch bis auf die Kommunen und Gemeinden durchgriffen, den marktwirtschaftlichen Kapitalismus zu regulieren. Die Eingriffe steuerten nicht nur die Bauträger/Investoren und Verwerter von Wohnraum, sondern durch Preispolitik sogar die Baukapitalisten. Diese Art von Wohnungspolitik war im 20. Jahrhundert eine sozialdemokratische Domäne, getragen von der reformistischen Vision des langsamen stückweisen Hinüberwachsens in einen staatlich gelenkten Sozialismus.

Typisch dafür war die labourgeführte britische Wohnungspolitik von Ende des 2. Weltkriegs bis 1975, wo Finanzmittel relativ zentral vergeben wurden und der Staat einen großen Teil des Wohnraums selbst besaß. Die Einnahmen und Ausgaben aller Wohnungen der Kommune wurden gepoolt und  mit staatlichen Subventionen  zusammengeführt, sodass  teurere Wohnungen im Bestand quer finanziert und deren Miete niedriger gehalten werden konnten.

Niedrige Mieten bedeutete Senkung des Preises der Ware Arbeitskraft und beförderte niedrige Löhne bzw. Lohnverzicht. Im "Roten Wien" der 20er Jahre unterstützte diese Politik direkt die Konkurrenzfähigkeit der exportorientierten Industrie (Schulz, Günter, Wohnungspolitik im Sozialstaat, 271).

Infolge der Novemberrevolution von 1918 und einer starken Betriebsrätebewegung entstand das Konzept Mitbestimmung der Mieterräte im Privathausbesitz mit dem Ziel MieterInnen zu befähigen, Häuser kollektiv selbst zu verwalten. Das Reichsmietengesetz von 1922 gab im § 17 dafür den Rechtsrahmen: "Die Mieter eines Hauses sind berechtigt, einen oder mehrere von ihnen mit ihrer Vertretung in Mietangelegenheiten zu beauftragen."(ebd., 247) Exemplarisch lässt sich die Transformationsperspektive - die, und das gehört gesondert untersucht, gesamtgesellschaft unwirksam blieb - am Beispiel der Siedlungs-Aktiengesellschaft Altona (SAGA) aufzeigen. In der zwischen 1919 und 1922 errichteten Wohnsiedlung bildeten sich Mieterräte auf der Grundlage von Wahlen in den einzelnen Wohnhäusern die nach Inkrafttreten des Reichsmietengesetzes vorgesehenen Mitbestimmungstrukturen. Sie saßen im SAGA-Vorstand mit vollem Stimm- und Kontrollrecht in allen Geschäftsbelangen.(Ebd.251)

In der Berliner Lindenhof Siedlung, die 1920 mit 486 Wohnungen errichtet worden war, bildeten sich Mieterräte, die zwei Jahre später als Genossenschaft, ohne inividuelles Eigentum am Objekt zu bilden, den Lindenhof übernahmen. Diese Art von kollektiver Aneignung erregt seit einigen Jahren, in denen sich die Wohnungsnot in den bundesrepublikanischen Großstädten wieder zuspitzt, auch in stadtteilpolitischen Zusammenhängen  Interesse. Unter der Parole "Rücke vor zur Schlossallee" wirbt das in Freiburg Mitte der 1980er Jahre gegründet Mietshäuser Syndikat (MHS) für eine besondere Variante der Wohneigentumsbildung. Die Übernahme bzw. Errichtung von Wohnraum erfolgt zwar in der Form einer GmbH, in der man persönlich Gesellschafter ist, aber in den Häusern wohnt man als quasi Mietzins zahlender Mieter. Anstatt sich  persönlich in Mietkämpfen gegen Immobilienkapitalisten zu verzetteln, wird man lebenslang selber einer.

Das MHS-Konzept eröffnet einen geldförmigen, individuellen Ausweg aus der Wohnungsnot, sofern man entsprechendes Eigenkapital auftreiben kann. Schon von daher ist es kein Konzept in Richtung kollektive Aneignung, sondern bleibt auch in der GmbH-Hülle eine Kapital affirmative, individuelle Lösung. Weder wird das Haus bei der Errichtung aus der kapitalistischen Verwertung von Lohnarbeit herausgenommen, noch kann es jenseits des geliehenen zinsabgreifenden Bankkapitals als Wohnraum fungieren.

Der Kampf für das Recht auf Stadt wird bei kollektiven Lösungen, solange das Kapitalverhältnis als das gesellschaftlich bestimmende nicht aufgehoben ist, zwar in reformistischen Nischen je nach Stärke der proletarischen Klassenbewegung eine zeitlang möglich sein und damit das Prinzip der kapitalistischen Aneignung praktisch in Frage stellen. Aber eine Aufhebungsperspektive stellt dieser Weg dennoch nicht dar. Seine eigentliche Bedeutung läge vornehmlich in der kollektiven Erfahrung von tendenzieller Selbstermächtigung - gleichsam als Schule für eine Gesellschaft nach dem Kapitalismus.

TREND(s) im Netz - hier die jüngsten Zahlen:
[Die nachfolgenden Zahlen stammen aus dem Zeitraum vom 1.1. bis zum 28.1.2014]

Die BesucherInnenzahlen vom Januar 2014, in Klammern 2013, 2012

  • Infopartisan gesamt: 145.400  (129.183, 124.452)
  • davon TREND: 97.936  ( 95.615, 93.893)

Diese Auswertung fasste alle Seitenaufrufe eines Besuchers,  gekennzeichnet durch seine IP-Adresse und seine Browserkennung, zu einem Besuch (unique visit) zusammen. Ein Besucher wurde nur gezählt, wenn er mindestens eine Page-Impression, d.h. eine vollständig geladene Seite mit dem Rückgabewert 200 oder 304, ohne Bestandteile wie Bilder und Dateien mit den Endungen .png, .jpg, jpeg, .gif, .swf, .css, .class oder .js auslöste. Liegen mehr als 30 Minuten zwischen den einzelnen Page-Impressions, so wird der Besucher mehrfach gezählt. Ein Besuch kann maximal 30 Minuten dauern.

  • 2.033  BesucherInnen verbuchte die Agit 883 Seite.
  • Es wurden 1.254 Ausgaben der Agit 883 aufgerufen
  • 5.202 BesucherInnen besuchten das Rockarchiv
  • 8.018 Seiten wurden im Rockarchiv abgerufen

Die am meisten gelesene Seite im Januar 2014 bei Infopartisan war:

Der am meisten gelesene TREND-Artikel im Januar 2014:

Die am meisten gelesenen TREND-Artikel der 1/2014-Ausgabe im Januar 2014:

Weitere stark nachgefragte TREND-Artikel aus vorherigen Ausgaben im Januar 2014

Seitenaufrufe bei INFOPARTISAN gesamt im Januar 2014: 240.833
Seitenaufrufe bei TREND im Januar 2014: 160.430