One Hour Photo
Auf der Suche nach dem unschuldigen Bild  

von Dietmar Kesten
GELSENKIRCHEN  Januar 2003

01/03
 
 
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Nacht, Mondschein. Schwarz und weiss. Die Bilder tragen die  Stimmungen an das Ufer, aus dem Licht hinaus und wieder hinein in die Dunkelheit. Bilder sind wie unsichtbare Geschosse, die ringsum niedergehen, bis jemand antwortet, der neue vorzeigt. Wenn niemand antwortet, bleiben sie Geschichte. Geschichte einer Reise, die durch die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele führt. 

Bilder zeigen Anfang und Ende der emotionalen Vereisung und  medialer Unmündigkeit. Sie setzen die Kälte der modernen Städte fort, der Abstumpfung, der Langeweile, den Leistungswahn, die stumpfe Ruhe, Hoffnung, Reue, Sentimentalität, Gefühlsschwankungen. Aber vor allem sind sie ein Zeitbild der Erinnerung! Wir haben uns daran gewöhnt, Bilder, die Tag für Tag und Nacht für Nacht auf uns zukommen, durch immergleiche Sucher so zu betrachten, als wären sie schon immer da gewesen. Sie ersetzen unsere Erinnerung durch das Erinnerungslose. Das ist das Programm, indem alles gleich wichtig und (uns) gleichgültig ist. Wir speichern sie für immer. Sie verwandeln uns, und wir uns mit ihnen. 

Das alles ist ‚One Hour Photo’, ein Psychodrama mit Robin WILLIAMS, als netter Mann (Seymour ‚Sy’ Parrish) von nebenan, der als Angestellter  eines Fotoschnellservice jede Menge Abzüge aller Bilder einer Familie sammelt, sie ausspioniert, und bald drastisch in diese scheinbare  Familienidylle (durch den Ausbruch einer Ehekrise) einbricht. Es ist das todtraurige, pessimistische Porträt eines total vereinsamten Menschen, der nichts ausser seiner Erinnerung im Foto besitzt.  

Wenn man den Film begreifen will, dann muss man die grössten denkbaren  Gegensätze der Bilderwelt in schärfster und reinster Form betrachten können: Armut statt Üppigkeit, Einfachheit statt Klügelei, Bitterkeit statt Larmoyanz, Gegenwart statt Nostalgie, Pathos statt Kitsch, Anklage statt Versöhnung. Bilder sind Zeugen, Bilder sind Erinnerung an die Vergangenheit, sie leben  in der Gegenwart und verblassen in der Zukunft. Tabula rasa: die Spuren, die wir im Leben hinterlassen, werden in ihnen nie getilgt. Sie sind so seltsam durcheinander gemischt, dass die Verwandlung eines Menschen durch sie uns das Traumreich des Unterbewussten ständig vor Augen führt. 

In ‚One Hour Photo’ verzehren sich die Bilder gegenseitig. Es gibt abgründig schöne Bilder und peinliche Preziosen. Bilder verlieren sich. Sie neigen auch zur Übertreibung, und man kann sich in ihnen widerspiegeln. Verliert sich der Film etwa darin? Es mag sein, doch die Wiederbelebung gelingt in einer Art Auferstehung: im Foto des Voyeurs. Sein Herz beginnt erst dort zu schlagen, wenn das Auge Exesse feiern darf. Die tragischen Gefühle, die ein psychotischer Mensch vielleicht aus Demütigung heraus zum Ausdruck bringt, seine intimsten Regungen und die geheimsten  Intimitäten, das sind die Funktionsweisen der kleinen Reisen in die Hölle von ‚One Hour Photo’

Wenn es um die Bilder geht, dann sehen wir einen klaustrophobischen Film, der das Feste und das Flüchtige zeigt, das Messbare und das Unerschöpfliche, die Gedanken eines Menschen, der endlichen Einheit der Zeit im Photo und den endlosen Strömen der Verlorenheit im Negativ. Durch die Intensivität der Bilder reissen die Verbindungen zur Aussenwelt ab und bilden sich gleich wieder im Sog der Verzückung neu. Man muss eine Weile diese Bilderflut aufsaugen können, um zu begreifen, wie wiedersinnig sie ist, und wie die seltsame Fabrik von Photolabors kaputte Menschen noch kaputter macht. 

Wer weiss, wie Bilder projiziert werden, der erfindet stetig neue, um sie  sehen zu können. Das sind die Bilder für einen alten Krieg: die Bilder vom Sehen und von  der Blindheit der Akteure. Die eigentliche Botschaft ist der unaufhörliche Fluss der Bilder, mit denen wir jeden Tag umgehen, ohne uns die notwendigen Gedanken über sie zu machen. ‚Sy’ kann sie nicht aufhalten, teilen oder zerschneiden.  Er verfängt sich in ihnen und geht in ihnen ganz auf.  

Doch auf der zunächst leeren Leinwand, werden die Bilder, wenn sie  erscheinen, zu Zeichen. Sie dokumentieren den Augenblick, offenbaren die Labyrinthe der Psyche, erschüttern das Selbstvertrauen. Und mit der Erinnerung an sie, kehrt die Leere zurück. Irgendwann sieht man ‚Sy’ vor seiner Fotowand, trostlos in die Leere blickend, vor aufgereihten Bildern der Familie Yorkin. Ein Bild zuviel, oder zuwenig, und die Magie ist dahin. Doch sie sind alle gut gewählt, weil er mit ihnen aus den Fugen geraten kann. Und dort, wo die Bilderkette endet, prallen Illusion und Desillusion dermassen  intensiv aufeinander, dass die ‚Besessenheit’, die durch sie entstehen kann, jede Detail offen legt. 

Die Kinowelt hat viele Psychopathen hervorgebracht. Der bekannteste dürfte Jack NICHOLSON als Jack Torrance in ‚Shining’ (1980) gewesen sein. Doch auch Anthony HOPKINS als Dr. Hannibal Lecter, der in ‚Das Schweigen der Lämmer’ (1990) eine Meisterleistung ablieferte, oder Robert De NIRO als Max Cady in  ‚Kap der Angst’ (1991), haben uns das Fürchten gelernt. Das Laster der Filmindustrie liegt im 21. Jahrhundert u. a. auch darin, dass sie es kaum noch versteht, solche Schauspieler hervorzubringen. Robin WILLIAMS knüpft nahtlos an sie an und wartet mit einer Höchstleistungen auf.  Die Tätowierungen der eigenen Phantasie, die wir täglich produzieren, und  uns mit ihnen im Alltag herumschlagen, unterscheiden uns als ‚Tagträumer’ kaum von ‚Sy’, der die totale Abwesenheit eines Menschen, dem alles fehlt, perfekt in Szene setzt. Er tritt mit Blindheit, Abstumpfung und der Weigerung auf, die Bilder und deren Geschichten wirklich zu begreifen. Es ist der Selbstbetrug, der ihn umgibt, der Einbruch im Denken. Lieber keine Bilder als die falschen. Bilder sind für ihn die Momente der  Wahrheit, aber auch der Entlarvung. Dort wo er mit ihnen paktiert, treiben sie ihn fast in den Wahnsinn. Sie kündigen immer die Schrecken von morgen an. Das Mittelmässige ruht bloss noch in sich selbst.  

Parrish praktiziert mit seinen Bildern einen obsessiven Voqeurismus.  Und die Kamera liefert dazu das perfekte Bild. Kalt-weisse Räume, dazu ein tiefes Blau. Sicher übertrieben! Und die Farbdisposition ruft die ‚alten Meister’ in Erinnerung. Doch wenn die Kamera hinter die Fassade dringt, dann gibt sie jede Zurückhaltung auf, bleibt jedoch so eindringlich in der Szene, als ob man bei der Kunst des Entwickelns ‚Sy’ über die Schultern gesehen hat. Im offenen Show Down ist man sich dann gar nicht mehr sicher, was Bilder nun wirklich sind, und wie wir mit ihnen umgehen. Der Wahnsinn hat eben viele Gesichter. Ein Albträumer ist dieser  ‚Sy’, der Gefangener seiner eigenen Sucht ist, der fehlenden Liebe, der Zuneigung und der ihn erschlagenden Einsamkeit. Ausser seinen Bildern soll niemand seine virtuelle Idylle stören, oder gar zerstören. Ist das die Identität mit seinen Bildern, seine wahnsinnige Wahnvorstellung?  

Was sagen Fotos wirklich über Menschen aus? Mark ROMANEK gelingt es, den Betrachter über sie in die Irre zu führen. Und er ist sich seiner sicher, dass sie sich an der Zeit reiben. Fotos spulen das Leben ab: Gemälde, Photografien, Erinnerungen  an Theateraufführungen, Fratzen, Landschaften, Souvenirs, Leidenschaften, Puppen: alles ein Konglomerat von mysteriöser Geselligkeit, Erbärmlichkeiten, Grausamkeiten, peinlich, rätselhaft, sanftmütig,  erotisch, mütterlich und aufrecht. In Parrishs Fotos sehen wir das immergleiche Ende und einen neuen Anfang. Für ihn sind sie der autistischer Wahnsinn zwischen Kitsch  und Poesie, Momentaufnahmen. Er stiehlt sich wie ein Held aus der Geschichte, verschwindet in ihr und taucht wieder auf. In seinen Bildern wird für ihn alles eins. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft,  Alter, Schönheit, Vergesslichkeit. Er bleibt der gefesselte Mensch mit seinen stets wiederkehrenden Leidenschaften nach Neuem. Alles in einem digitalen Schnitt gefasst, ohne Ränder, retuschiert. Er schleppt sich durch das Leben, redet ohne Gesicht; ein Nebeneinander von Traum und Verzweiflung. Seine Fotos verfolgen ihn auf Schritt und Tritt.  

Da ist er wie wir, und wir, wie er!  Verfallenheit, Schönheit und Vergiftung aus der Schublade herauszuholen und vorzuzeigen: es sind die Steine im Gedächtnis, die unvollendeten Fotos. Auch wir zeigen sie sehr gerne. Sie gehören mit Film, Fernsehen und  Video zur Vervielfachung des Audiovisuellen. Man züchtet sie automatisch. Und wir kommen uns in ihnen kaum näher. Der wirkliche Mensch als Abbild seines eigenen Lebens. Nichts ist gefährlicher als vertraute Bilder. Und eine schier neue Identität entsteht in und mit ihnen. Sie sind Zeugnisse  unseres Unverständnis von wahrhafter Identität. Wie sehr wirkt  doch eine Momentaufnahme auf uns. Wie perfekt spielen wir mit diesem Medium. Das sind die Masken, die wir uns aufsetzen.

So, wie wir sie vorzeigen, möchten wir sein. Vor allem Fotos aus der Jugend haben es uns angetan. Die der Geselligkeiten und Vergnügungen. Das Stakkato der Unbeflecktheit; von der Geburt bis zum Tod schablonisiert, eingepfercht in dem ewigen Stress, der zerrüttenden Partnerschaften, wieder erneut auf den Prüfstand geholt und als verabreichte Droge der ‚Konkurrenz’ vorgezeigt.  

Bei Mark ROMANEK wirkt alles zeitlos. Mit Robin WILLIAMS schafft er  sich ein authentisches Medium. Es scheint so, als ob er mit den Fotos Selbstgespräche führt. Und  so übersetzt er sie auch: Fotos sind sein persönliches Projekt, unter denen  sich das Leben wie unter einem Fallbeil wiederfindet. Nur der Vergessliche täuscht sich in ihnen, weil er täuschen will. Das ist Lebensentzug und Lebensbezug. Wie sehr sind wir doch den Grenzen der Fotografie ausgesetzt! Fotos bleiben Granit, die selbst den heissesten Vulkan kaum erhitzen können. Den Rest ergänzt die Fantasie.  Sie sind der Blick durch die halbgeöffneten Türen der Menschen. 

‚So grundlegend sich in unserer Epoche die Bilder verändern,  so grundlegend wird auch sie dadurch verändert: kein Ereignis mehr, wo es an Bildern fehlt.’ (Vilem Flusser) 

Anmerkung: 

‚One Hour Photo’ läuft seit dem 9. 01. 2003 in den Kinos. Regie: Mark ROMANEK, der als Video-Regisseur für Madonna und David Bowie gearbeitet hat.
 

Darsteller:
Robin WILLIAMS als Seymour (‚Sy’)
Parrish Paul H. KIM als Yoshi Araki
Connie NIELSEN als Nina Yorkin
Erin DANIELS als Maya Burson

Dylan SMITH als Jake Yorkin
Gary COLE als Bill Owens

Michael VARTAN als Will Yorkin 

Filme mit Robin WILLIAMS in  einer Auswahl: 

Good Morning Vietnam (1987)
Der Club der toten Dichter (1988)
Zeit der Erwachens (1990)
König der Fischer (1991)

Hook (1991)
Mrs. Doubtfire (1993)
Jumanji (1995)
Hamlet (1996)
Good Will Hunting (1997)

Editorische Anmerkungen

Der Autor schickte uns seinen Artikel  mit der Bitte um Veröffentlichung. In den letzten trend-Ausgaben schrieb er über

Vor einem neuen Irak Krieg?
Die Mythen-Verkitschung Tokiens beglückt Millionen
Führer EX
Der Budenzauber der Astrologie
The One - Im Banne der Paralleluniversen
Der Staat, (D)ein unbekanntes Wesen
Intoleranz und den alltäglichen Rassismus
Songwriter zum 11. September 2001
When We Were Kings Hollywood und der Krieg

Dietmar Kesten schrieb früher regelmäßig für den trend und Partisan.net. Hier eine Auswahl aus seinen bisherigen Veröffentlichungen:

ASPEKTE DER ENDZEITLICHEN KRISENPHILOSOPHIE

Das "Bündnis für Arbeit" Eine auf dem Kopf stehende Pyramide

Kommentare & Exkurse zum Kosovo-Krieg 1999