Wohin gehen wir?
DREI SONGWRIGHTER ZUM 11. SEPTEMBER 2001.

von Dietmar Kesten, Gelsenkirchen, August 2002.
09/02
 

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La terreur, das sind grossenteils nutzlose Grausamkeiten, begangen von Leuten, die selbst Angst haben... schrieb Engels einst an Marx.

Und tatsächlich hinterlässt der 11. September 2001 tiefe Spuren  im Sand, 'nutzlose Grausamkeiten' eben, an die man sich erinnern muss, wenn wir nicht daran ersticken wollen. Es gibt kaum einen gesellschaftlichen und kulturellen Bereich, in dem nicht eine Aufarbeitung oder Verarbeitung der  New Yorker Terroranschläge stattfand.

Jedermann erhebt Einspruch gegen das Vergessen; denn jedes dort zu Unrecht geopferter Leben bleibt wie ein Schrei in der  Geschichte zurück. Ein Schrei, der nicht mehr verhallen wird, auch wenn ihn viele nicht mehr hören wollen: er wird die Erinnerung beschäftigen, wie die Erinnerung des Dichters, die sich nicht einschläfern lässt. Sie bleibt hellwach wie im ersten Augenblick. Und doch wandelt Lady Macbeth allnächtlich durch die Geschichte und versucht vergeblich, sich das Blut von den Händen zu  waschen. Und Nacht für Nacht kehrt sie an den Ort der ungesühnten Verbrechen zurück.

Auch Kunst und Musik ist Einspruch, Widerspruch. Gegen das Vergessen. Schreie gegen das Sterben, gegen die Katastrophe. Schreie in den griechischen Tragödien, in den Passionen Bachs, den Opern Alban Bergs, den Fegefeuern Boschs und Dantes, in Picassos Guernica, dem Schrei des Edvard Munch, den Schreien der römischen Helden, dem faustischen Schrei nach Vollendung - das ist der Schrei, der untröstlich ist, ohne Illusionen.

Dort werden alle Verbrechen neu aufgerollt und vor der Instanz  des eigenen Gewissens behandelt, das schärfer, feiner und unbestechlicher ist, als alle weltlichen Instanzen, die sich auf die Seite der Konventionen und Gewalten schlagen und dem Vergessen des Terrors in die Hände arbeiten. Die schmerzhafte Arbeit der Erinnerung tritt in ihre Rechte.

Doch dort, wo die Erbitterung sich nicht abschütteln lässt, findet sie in der Kunst oder in der Musik ihren Ausdruck, nennt die Dinge und die Menschen beim Namen. Sie tritt der alles zermalmenden Zeit in den Weg, und kämpft, wie der Mensch gegen den Würgeengel kämpft, gegen das Vergessen, gegen Mord und Terror an.

(Kunst-)Werke, die von Künstlern und Musikern dargeboten werden, gleichen Hieroglyphen, die ihre Augen aufschlagen und in der Zeit zurückschauen, wenn wir sie anblicken, berühren oder hören. Sie sind wie Puppen und Marionetten, die in unserem Kopf haften bleiben, an unseren Lippen hängen, in unsere Ohren eindringen. Sie werden lebendig und beginnen, sich zu regen.

Drei neuen Alben, die in jüngster Zeit erschienen sind, und  in deren Mittelpunkt das Gedenken an den Terror des 11. September, doch vor allem an die Opfer und die Hinterbliebenen steht, haben sich zum Ziel gesetzt, unseren psychotischen Labyrinthen, den Katakomben, in denen Verhüllen, Verdrängen, Verleugnen und Vergessen zum alltäglichen Ritual geworden ist, den Kampf anzusagen, die blinden Flecke in der Erinnerung und der Geschichte beim Namen zu nennen und die unbeschreiblichen Schmerzen, den der Terror der Welt zugefügt hat, in eine musikalische Form zu bringen.

  • Paul McCartney spielte 'Driving Rain' ein,
  • Neil Young 'Are You Passionate?' und
  • Bruce Springsteen 'The Rising'.

Paul McCartney, dem immer unberechtigterweise ein Hang  zur musikalischen Sentimentalität vorgeworfen wurde, der ' Yesterday', (1965), mit John Lennon 'All you need is love'  (1968),' Let it Be' (1970) gesungen hatte, Paul, der ewig ''Junggebliebene', der zwar immer eine Abneigung zu harten Gitarrenriffs hatte, sich auch auf seinen letzten Alben wenig experimentierfreudig zeigte, sich lieber auf altbewährte Balladen verliess, zeigt zumindest bei zwei Songs aus 'Driving Rain', dass es ihm um eine sehr persönliche Verarbeitung der September-Ereignisse geht, die auch bei 'Sir' Paul einen bleibenden Eindruck hinterliessen.

'From A Lover To A Friend' und 'Freedom' mögen für einige als  Ausrutscher gelten, sogar als 'peinlich' wie es Konrad Heidkamp in der Zeit Nr. 33/2002 formulierte, als Versuch, dem Songs in der Verwertungsmaschine des Pop-Geschäftes einen Vermarktungsplatz zu verschaffen, als Gospelhymne oder Betroffenheitsballade. Doch das ist zu einfach, weil man ihm damit kaum gerecht wird. Es bleibt unter dem Strich festzuhalten, dass seine Songs als einfache Reaktion auf die Ereignisse des 11. September und deren historische Nachwirkungen, einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert in den musikalischen Nachbetrachtungen, die sich mit dem  Terrorereignis auseinandersetzen, besitzen, die Gänsehaut erzeugen und viel Tränen.

Wenn Bob Dylan einst 'The Time They Are A-Changin' sang, dann ist ihm nur beizupflichten. Paul McCartney nimmt den Faden auf. Er setzt den Konflikt mit dem Vergessensmaterial in den Urschrei nach Frieden um. 'Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf  gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont', dichtete einst Ingeborg Bachmann. Und es ist ein Warnruf, ein Aufruf an die Fairness, (endlich!) friedvoll miteinander umzugehen, für die Zusammengehörigkeit, gegen Identitätszertrümmerung und gegen brüchige Frieden. Paul McCartney weiss auch worüber er singt; denn diese lebenswichtigen Wahrheiten fordern das letztlich ein.

Im Oktober 2001 präsentierte Neil Young seinen Song 'Let's Roll', der als Glanzstück des Albums 'Are You Passionate?', das einige Monate später erschien, gilt. Young, einst mit Crosby, Stills and Nash verbunden, später mit den 'Crazy Horse', die auf seinen  vielen Alben und seinen Live-Konzerten fast schon Kultstatus erreichten, bringt mit seinem Album, vor allem aber mit 'Let's Roll', komplizierte Gefühle mit wenigen Akkorden in ein paar Minuten auf den Punkt.

Es ist auch eine Hommage an den Mut und an die Zivilcourage jener Passagiere des United Airlines Fluges 93, die die Terroristen daran hinderten, den Jet in weitere Ziele zu steuern.

Neil Young liegt jedes falsche Pathos fern. Das zeigte er auch auf der öffentlichen Trauerfeier für die Opfer des 11. September, bei der er John  Lennons Song ' Imagine' tief ergreifend interpretierte.  Wer seine Musik kennt, dem dürfte bekannt sein, dass der 56-jährige von seiner Leidenschaft getrieben wird, der immer noch die Essenz des Rock ,n' Roll erlebt und ihn durch seine verzerrten Gitarren zelebriert. 'Are You Passionate?' zeigt ihn ungewöhnlich ruhig. Das tut dem Album sehr gut. Die Stimmung die aufkommt, macht nachdenklich und unruhig. Vielleicht lieg es auch daran, dass er dieses mal mit  Musikern wie Booker T. Jones (Chef der Formation Booker T. MG's, die schon Mitte der 60er Jahre einen fabelhaften Ruf hatten), Steve  (Smokey) Pots (dr.); Donald Dunns (b.) und dem Gitarristen Frank Sampredo (von Crazy Horse) ins Studio ging.

Die blinden Flecke der Erinnerung versucht Neil Young zu zerschlagen. Das schafft Platz. Denn nichts ist schwieriger in der Welt als  die eigene Demontage. Denn die Zeitreise gegen das Vergessen beginnt erst, wenn neue Gedanken in Hautnähe rücken Neil Young hat ein Album vorgelegt, das den ganzen Schmerz des 11. September in zeitlose Musik umsetzt.  'Are you Passionat?' ist ein sehr gelungenes Album.

Auch Bruce Springsteen gedenkt mit seinem neuen Album  'The Rising' den Opfern und Hinterbliebenen des 11. September. Springsteen, der den Rock auf der Bühne arbeitete, dessen  Konzerte länger als 3 Stunden dauerten, der 'Boss', der sich seit  Jahren rar machte, ist wieder da. Und seit der legendären 4 CD-Box (Live 1975-1985), die er mit der nicht weniger legendären E-Street Band einspielte, hält er jetzt reale Geschichten über Terror, Tod, Witwen und Männer bereit. Eine Umarmung an all diejenigen, die heldenhaft genug waren, ohne zu  zögern zu helfen, der Katastrophe den Kampf anzusagen, der Verzweifelung eine Chance zum Neuanfang zu bieten.

Springsteen blickt zurück. Er ist wie ein Off-Sprecher, der seine Stimme musikalisch von weniger prominenten Studiomusikern, aber auch gestandenen Grössen seiner ehemaligen Begleitband untermalen lässt. Dazu Streicher, ein pakistanisches Ensemble. Springsteen kommentiert, zeichnet nach, ist literarisch. Seine Bekenntnisse sind wie ein Felsen in der Brandung. Und er verarbeitet auch viele persönliche Schicksalsschläge, die er immer mit dem New Yorker Desaster vergleicht: 'Lasst uns zurück ins Leben!' Bereichernd wirkt ein Booklet, das der CD in deutscher Sprache beigefügt ist.

So kann der Hörer sich auch ganz der Musik hingeben, ohne beständig die Texte zu hinterfragen. Springsteen hat von seinem Pathos nichts eingebüsst. Seine Nachrufe auf den 11. September reissen die Verpackung auf. Die Suche nach der Wahrhaftigkeit im Leben geht bis in den Alltag hinein. Jedes zu Unrecht geopferte Leben bleibt eine Herausforderung  an alle, die Verhältnisse zu ändern und sich nicht ewig die simplen  Sprüche plumper Demagogen anzuhören.

Wenn auch die FAZ dem Album einen 'Betroffenheitsklang' unterstellt, es sei zu 'poliert' , nicht 'differenziert genug', so erzeugt 'The Rising' viele Emotionen, die es notwendig machen, den Terror und das Leben unter ihm, zu reflektieren.

Fazit: allen drei Musikern geht es darum, dem 11. September die Stirn zu bieten. Das 'Ereignis' möge sich nicht wiederholen, dass die Welt in ein Tränenmeer stürzte und uns so nachhaltig verändert hat. Heute bedarf es nicht mehr der grossen Kriege, um Elend, Angst und Schrecken zu verbreiten.  Hochmotivierte und technologisch hochgerüstete Gruppen, die das eigene Leben und das anderer Menschen verachten, sind dazu in der Lage, an jedem Ort und zu jeder Zeit Mord und Terror zu verbreiten.

'Wehret den Anfängen'!

Paul McCartney, Neil Young und Bruce Springsteen versuchen dazu einen musikalischen Beitrag zu leisten. Jeder auf seine Weise. Wer sollte dem etwas entgegenzusetzen haben?

'Die Wahrheit reicht manchmal nicht aus
Oder ist sie wie jetzt
einfach zu viel.
Werfen wir sie fort
denn in diesem Kuss
Ist sie zu finden,
im Herzschlag,
Haut an Haut
Lasst uns hinein ihr Lebenden,
eh' die Toten uns zerreissen.'

(Bruce Springsteen).'

 

Editorische Anmerkung:

Der Autor schickte uns seinen Artikel im August 2002 mit der Bitte um Veröffentlichung. In der letzten Ausgabe schrieb er über Hollywood und der Krieg.

Dietmar Kesten schrieb früher regelmäßig für den trend und Partisan.net. Hier eine Auswahl aus seinen bisherigen Veröffentlichungen:

ASPEKTE DER ENDZEITLICHEN KRISENPHILOSOPHIE

Das "Bündnis für Arbeit"
Eine auf dem Kopf stehende Pyramide

Kommentare & Exkurse zum Kosovo-Krieg 1999