Mach das Licht aus und dreh Dich nicht um
DER STAAT, (D)EIN UNBEKANNTES WESEN.
Science Fiction und Realität - Teil II


von Dietmar Kesten

GELSENKIRCHEN OKTOBER 2002

11/02
 
 
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Zum 1. Teil

Wen kümmert es heute noch, wenn die beklemmenden Wirklichkeitsbezüge der Science Fiction kontinuierlich im 20. Jahrhundert in Stein gehauen und zu lesbaren Zeichen für das 21. Jahrhundert, verarbeitet wurden? Die perfekte Staatsmaschinerie gipfelt eben in der Zerstörung
des Individuums. Mit ORWELL kommt man der Erfassungsstaat Stück für Stück näher. Der moderne Staat ist die Gedankenpolizei, die selbst vor der eigenen Art nicht halt macht. Ideologisch und traditionell auf den Fortschritt eingeschworen, hat er in der Zwischenzeit auf technologischem Gebiet eine Art der 'elektronischen Diktatur' gefunden, die es ihm ermöglicht,
kurzfristigen Zugang zu allen Daten der  'Winner-Winner-Strategie' (14) abzurufen.

Und weil der Bürger seit der Währungsreform von 1948  die technische und technologische Entwicklung der Produktivkräfte als entscheidendes Mittel ansah, seinen  Lebensstandard zu verbessern, so richtet sich diese Technisierung jetzt gegen ihn. Damit haben sich die gesellschaftlichen Monaden mangels besserer Einsicht, an ihren 'Grossen Bruder' gewöhnt, und
sie erwarten nun auch, gläubig, wie sie sind, für die Zukunft  einen technologischen Wohlstand ohne Beispiel. Dieser permanente ORWELLismus hat schon längst unser persönliches Leben wunschgemäss eingerichtet.

Zu einfach wäre es nun, das nur der Kontrolle und der Überwachung des Staates zuzuschreiben,
oder der Erziehung zum Gehorsam durch die (mediale) Politik. Der Blick in unser Unbewusstes offenbart eine merkwürdige Schau: Mit der allgegenwärtigen Beobachtung hat die elektronische
Machtübernahme unserer untersten Schichten der Seele zu einer Zeit begonnen, als die Mechanik der Macht mit Spezifizierung und Verdichtung in die räumlichen Bereiche eintrat, die uns von  Kindesbeinen an bestimmen. Dort begann das Schicksal des Warenmenschen wie in einem Laboratorium. Und er wird als Nummer in einer nationalen Datenbank enden. Daher hat auch moderne Science Fiction von dieser Warenwelt viel gelernt, und sie versucht nun Schritt
für Schritt, sich dieser in ihrer Literatur, aber auch in Filmen, zu nähern. (15)

Je deutlicher der 'Grosse Bruder' mit seiner Kulturstimme spricht, umso mehr wird er alltäglich seine Politlosungen verkünden. Im September 2002 erlebten wir in einer kaum noch zu ertragender Manipulation, wie der Staat über die politischen Parteien seine unangefochtene Autorität zu stabilisieren half.   Die menschliche Stimme, egal woher sie kommt,  ist eben auch ein Automat, der auf fehlerhafte Bedienung reagiert, und anhand der Schallschwingungen wählt der Automat jene Töne aus, die als kombinierte Wort- oder Satzfolge simuliert werden können.
Die weitreichende Popularisierung der sprech- und hörfähigen  Denkmaschine, der Mensch, hat sich eben dieser 'elektronischen Diktatur' unterworfen und erteilt sich und  anderen ständige Befehle, die im Wahljahr 2002 eine eigentümliche Sichtweise hervorbringen: Elend, Unwissenheit und kalte Gleichgültigkeit ist nicht nur das, was WINSTON widerfuhr, sondern einmal mehr, ein kaltes Stück Realität. 

Der Sieg des Stärkeren und die Vernichtung des Schwachen mündete bei ORWELL in den Krieg ein. Und Politik in ‚1984’ gipfelte in Krieg und Kriegsvorbereitungen. Im Krieg zwischen Ozeanien, Eurasien und Ostasien, geht es vor allem um Lebensraum, um neuen Grund und Boden, und um die bedingungslose Unterwerfung.

Als apokalyptische Entwicklung gedeutet, ist dieses ‚freie Spiel der Kräfte’, der Schlüssel zur Weltherrschaft, der Zugang zum ‚Grossen Bruder’, und zum ‚Herrn der Erde’. Die Parallelen sind verblüffend. Der ‚elektronische Beichtvater’ steigt zum Diktator auf. 

Der moderne Mensch verliert sich sozial, kulturell und  elektronisch in einer Millionengesellschaft. So wird er vom 'Grossen Bruder' manipuliert, indem dieser die menschlichen Bedürfnisse nach seinen Zwecken ausrichtet. Und die Moderne hat soviel Eigengesetzlichkeit an diesen Fronten entwickelt, dass sie von den Warensubjekten immer weniger beeinflussbar erscheinen.  Der moderne Staatsapparat trägt dieser menschlichen Begrenztheit Rechnung. Er hat die menschlichen Fähigkeiten derart beschnitten, dass sie nur noch in einem Konvolut von digitalisieren, elektronischen und medial gesteuerten Handlungen und Erlebnissen zum Ausdruck kommen. Und das Alltagshandeln ist die machterhaltende Totalsteuerung, die Tendenz zum Krieg, zur Rassenlehre, zum Kampf der Völker untereinander. Bei Aldous HUXLEY heisst es in seiner ‚Schönen neuen Welt’ so:

'Eigentum - sie hatten keins,
Oder hatten es zusammen.
Einen Geist in zweien Namen
Nenn ich weder zwei noch eins.
Die Vernunft, in sich entzweit,
Sah im Tode selbst die beiden,
Doch nicht voneinander scheiden.' (16)

Es mag sein, dass die negativen Auswirkungen der technologischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts einem HUXLEY in seiner ganzen Tragweite verschlossen blieben. Doch seine Verweise auf Apparate, Organisationen (und Medikamente), lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass die organisierte Tyrannei einer totalitären Gesellschaft immer als Möglichkeit besteht. Und er hatte in einem unbedingt Recht: Staat drückt auch in verzerrter Weise ein Zeitgefühl aus, ein erschreckliches Bild von der Zukunft, Pessimismus und Informationssteuerung,
die wie ununterbrochene Lichtsignale wirken. Auf grobe, aber zugleich tastende Weise, versuchte auch HUXLEY düstere Zukunftsvisionen und beklemmenden Wirklichkeitsbezug miteinander zu verbinden.

’Wir sind wie Sand am Meer,
I am like You.

Und wenn ich lach,
Dann lachst auch Du.
Unser Mutter is’ Schering,

der wife of Bayer

Und morgen gibt es
Soya und Eier.

Der Führer schenkt den Klonen eine Stadt....! sangen einst Extrabreit. (17) Und mit sanfter Plötzlichkeit tritt die perfekte Staatsmaschinerie hervor, unaufhaltsam. Und dort, wo sich die elektronischen Wege miteinander vereinigen, wird sie zum modernen Datenträger, der die Menschen als Speichermedium benutzt. Geklont werden eben nicht nur Ratten, Schafe, Mäuse und Ziegen, sondern auch die, die den Computerglauben verinnerlicht haben, und ihn als Entwicklung in der Zeit deuten. Sollte tatsächlich die Wissenschaft ein Ebenbild des Menschen
in den nächsten Jahren hervorbringen, dann ist er keine Billigkeit mehr, kein freiwilliger Zusammenschluss von Individuen, wie das noch die Aufklärungsphilosophie des 17. und 18. Jahr-
hundert verkündete, und wie es heute noch von der Sozialdemokratie angenommen wird, sondern eine Entfremdungsmaschine, die dem Erhalt der kapitalistischen Rahmenbedingungen dient.

Science-Fiction Literatur  war dem modernen Staat weit voraus. Sie entmystifizierte das Misstrauen gegen die Staatsschützer und setzte ihn als Unterdrückungs- und Überwachungsorgan ein. In ihm verkümmerte Hegels These vom Staat als 'eine Verkörperung der sittlichen Ideen'  (18 ) zum blossen Füllsel. Mit Hilfe seines elektronischen Informationsnetzes setzt er auf langfristige Entwicklung und Beobachtung. Das Individuum soll für die Interessen des Staates gefügig gemacht werden. Doch so kann die elektronische Vernetzung dem Menschheit nicht  zum Wohle angereicht sein. Tückisch und gemein ist die Zukunft.

Wenn ‚hellseherische Wesen’, wie in ‚Minority Report’ (19) mit Tom CRUISE, Mordtaten voraussehen können, und selbst irgendwann einmal Opfer eines scheinbar perfekten Systems, dem sie hundertprozentig vertraut haben, werden, dann ist die Bedrohung unserer unmittelbaren Gegenwart, der nahen Zukunft, so nahe, dass man einmal mehr der Welt gegenüber, in der wir leben, misstrauisch werden muss. Der Datenmensch und seine Vorliebe für faszinierende Bilder aus der Computerwelt hatte viele Science Fiction Autoren eben in ihren Bann gezogen. Denkt man etwa an BRADBURY oder SHECKLEY (20) dann  symbolisiert ihr Blick in die kalte Zukunft den datentechnischen Wahnsinn, dem wir nun ausgeliefert sind. Das menschliche Leben ist wie echte Science Fiction geworden.  

Eine berechtigte kulturpessimistische Furcht vor der kommenden  Explosion auf dem Datenhighway stützt sich deshalb auch auf die beunruhigende Tatsache, dass machtbesessene Diktatoren, Nazigrössen und andere, sich dieser perfekten computerisierten Technologien eines Tages bedienen. Und so zerstört sich der ultimative Traum von der Einheit der Gesellschaft, in der die Individuen ihr eigenes Leben gestalten, von selbst.

Das ‚Zimmer 101’ bei ORWELL ist der Zugang zu der Allmächtigkeit des Staates. Wer weiss, ob sich nicht eines Tages die unkontrollierte Willkürherrschaft hinter all dem verbirgt, was uns wertvoll war, lieb und teuer?

Die ORWELLsche Geschichte wiederholt sich womöglich genau an diesen Punkten.

Anmerkungen:

(14) Vgl. Jeremy RIFKIN: Access. Das Verschwinden des Eigentums, Frankfurt/M. 2000, S. 30. Ein sehr nachdenklich machendes Buch ist in diesem Zusammenhang auch: Reg WHITAKER: Das Ende des Privaten. Überwachung, Macht und soziale Kontrolle  Im Informationszeitalter, München 1999. WHITAKER stellt die These auf, dass wir nicht nur in einem Überwachungsstaat, sondern auch in einer Überwachungsgesellschaft leben.

(15) Vgl. Etwa: Andromeda, Mission To Mars, Raumpatrouille Orion, Stargate, Star Wars, Star Trek. Etwa auch Gattaca (1998). In dem SF-Film Mit Uma THURMAN und Ethan HAWKE herrscht der genetisch perfekte Mensch.

(16) Aldous HUXLEY: Schöne neue Welt, Hamburg 1953,  S. 156.  

(17) Extrabreit: LP: Welch ein Land! Was für Männer, 1981. Extrabreit war eine der erfolgreichsten Musikgruppen der sog. Neuen Deutschen Welle (NDW), die Ende der 70er/Anfang der 80er bekannt wurde. Bekannte Songs waren u. a: Hurra, Hurra die  Schule brennt, Polizisten, Der Führer schenkt den Klonen eine Stadt, Wir leben im Westen, Der Präsident ist tot, Superhelden. 

(18) Vgl. G. W. Friedrich HEGEL : Der Staat, in Hegel Studienausgabe, Bd. 2, S. 237, Frankfurt/M. 1968. 

(19) Minority Report: Regie; Steven SPIELBERG. Filmstart: 3. 10. 2002. Buchvorlage: Philipp K. DICK, amerikanischer Science Fiction Autor (gest. 1984) Er schrieb u. a. Blade Runner, Screamers, Total Recall. DICK war einer der wichtigsten amerikanischen Science Fiction Autoren, der es verstand, düstere Zukunftsvisionen mit der Paranoia des Alltags in real wirklichen Fiktionen umzusetzen. 

(20) Amerikanische Science Fiction Autoren.

Editorische Anmerkung

Der Autor schickte uns den 2. Teil seines Artikel  mit der Bitte um Veröffentlichung. In den letzten trend-Ausgaben schrieb er über

Intoleranz und den alltäglichen Rassismus
Songwriter zum 11. September 2001
When We Were Kings
Hollywood und der Krieg

Dietmar Kesten schrieb früher regelmäßig für den trend und Partisan.net. Hier eine Auswahl aus seinen bisherigen Veröffentlichungen:

ASPEKTE DER ENDZEITLICHEN KRISENPHILOSOPHIE

Das "Bündnis für Arbeit"
Eine auf dem Kopf stehende Pyramide

Kommentare & Exkurse zum Kosovo-Krieg 1999