Editorial
Der Jamaika-Trip
 
"Wat lernt uns dit?"

fragt Karl Mueller

12/2017

trend
onlinezeitung

Nach vier Wochen Reisevorbereitungen auf den Jamaika-Trip düpierte die Reisegruppe der FDP nächtens am 19.11.2017 unverhofft ihre Reisegefährt*innen von CDU/CSU und Grünen. Jamaika kam für die FDP nicht mehr infrage: "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.", verlautbarte Reisekader Lindner kurz und knackig beim Verlassen des Reisebüros.

Die bundesdeutschen Medien legten sich sogleich mächtig ins Zeug, um die Bundesbürger*innen wegen des Reiserücktritts in eine vaterländische Schockstarre zu versetzen. Das Handelsblatt titelte am 20.11.2017: „Das System Merkel ist gescheitert“. Einen Tag später kommentierte die ZEIT:  "Jamaika wäre das Bündnis der bürgerlichen Mitte gewesen, ein richtungsweisendes Projekt – und die beste Antwort auf die AfD." Urplötzlich standen Neuwahlen als gruselige Alternative im Raum, weil SPD-Chef Schulz sich sofort am nächsten Tag naschforsch dafür und gegen das neue (alte) Reiseziel GroKo ausgeprochen hatte, wofür gerade frisch in den Bundestag gewählte SPD-Genoss*innen allerdings gar kein Verständnis hatten.

"Heimat ist der Ort, an dem das 'Wir' Bedeutung bekommt." Mit dieser Parole hatte Bundespräsident Steinmeier den Jamaika-Reisegruppen - CDU/CSU, FDP und Grüne - in seiner Feiertagrede am 3.10.2017 Weisung für das Jamaika-Projekt erteilt. Den Bürger*innen vorleben, dass es heute in der deutschen Heimat keinen Platz mehr für  egoistische Gruppeninteressen geben darf -  mit dieser Gesinnung wollten sich die Grünen als Ferment des Jamaika-Projekts im öffentlichen Bewußtsein verankern.  Deshalb hatte die Spitzenfrau der Grünen, Katrin Göring-Eckhardt, dem Parteivolk bereits vor Steinmeiers Rede am 30.9.2017 beim Grünen Länderrat verklickert: "Wir lieben dieses Land, das ist unsere Heimat, und diese Heimat spaltet man nicht."

Als die FDP ihren Jamaika-Ausstieg folgendermaßen begründete: "Wir werfen ausdrücklich niemandem vor, keinem unserer drei Gesprächspartner, dass er für seine Prinzipien einsteht. Wir tun es aber auch für unsere Prinzipien, für unsere Haltung." (PM 20.11.17) fiel die vaterländische Allianz promp über die vaterlandlosen Gesell*innen von der FDP her - vorne weg die Grünen: "Jetzt ist die schöne PR- Maske gefallen. Der Liberalismus ala Lindner: Nackter Eigennutz ohne jeden Gedanke an das große Ganze. Das ist ganz und gar die alte Mövenpick FDP. In dieser Situation wäre Verantwortung für das Land statt Egoismus gefragt gewesen.“ (Jens Hinrich Kerstan grüner Senator für Umwelt und Energie in Hamburg, 20.11.17)

"Wat lernt uns dit?" - wird so manche/er sich nun fragen. Hier die Prinzipientreuen - dort die Kompromissbereiten. So einfach lag der Fall bei dieser Reality-Show nicht.

Vor Beginn der Planung des Jamaika-Trips versicherten sich zunächst die Reisekader*innen über das, worüber nicht sondiert werden darf - nämlich: Die schwarze Null. D.h. die bisherige GroKo-Sparpolitik auf dem Rücken des Proletariats war unstrittig. Aus dieser Vorgabe folgte zwangsläufig ein Verteilungsgezerre zwischen CSU, FDP und Grünen. Eine gewisse Ausnahme bildete die CDU. Sie interessierte vor allem, die Proportionen der Verteilung mit den alten GroKo-Margen beizubehalten. Daher steuerte mehr aus dem Hintergrund "Mutti" Merkel das Geschachere und wachte mit ihrer Partei darüber, dass dabei der bewährte ideologische Rauchvorhang nicht beschädigt wurde, der darin besteht, dass die Umverteilung von unten nach oben so verkauft wird, dass sich selbst die "abgehängten Bevölkerungsschichten" in "ihrer Heimat" noch zu Hause fühlen. Dieses Narrativ funktioniert natürlich nicht ohne Plausibilität, deren Facetten z. B. "Baukindergeld" und "Mütterente" heißen.

Bei dieser Rollenverteilung fühlten sich die Grünen ihrerseits berufen, die vaterländische Lautsprecherfunktion zu übernehmen. So wurden sie durch den Jamaika-Trip zu einem Motor der Befeuerung des seit Jahren anhaltenden ideologischen Rechtsrucks in der BRD. Mit voller medialer Breitseite stanzten sie die Parole "Erst das Land - dann die Partei" ins Massenbewußtsein. Besonders perfide angesichts der zeitlichen Parallelität laufender bzw. bevorstehender Massenentlassungen (Airberlin, KruppThyssen, Siemens).

Die sogenannte "Prinzipientreue" der FDP bestand lediglich darin, dass sie sich unwiderruflich darauf festgelegt hatte, die ökonomischen und politischen Weichenstellungen beim Jamaika-Trip durchzusetzen, die ihnen von den FDP-Parteiforen "Wirtschaft" und "Gesellschaft" als Aufgaben mit auf den Weg gegeben worden waren. Und das waren selbst für die anderen Kapitalfraktionen keine schlechten Lösungen. So resümierte nach dem Jamaika-Fiasko am 29.11.17 Wolfgang Steiger, Generalsekretär des CDU-Wirtschaftsrats - einem Unternehmerverein mit 12.000 Mitgliedern, im Hinblick auf eine mögliche GroKo als Alternative zu Jamaika: "Mit der SPD wird es eigentlich nur in der Energiepolitik etwas einfacher als bei Jamaika. Der Rest wird sehr schwierig."

Wie vermutet gab es jenseits der autonomen und anarchistischen Szene im linken Spektrum etliche Kommentare zum Scheitern von Jamaika. Sie beschränkten sich jedoch meistens  darauf, entweder das Jamaika-Scheitern im Hinblick auf den zukünftigen bundesrepublikanischen Politikbetrieb einzuschätzen (Zeitschrift Sozialismus) oder den neuen grünen Nationalismus (Wochenzeitung Freitag) zu kritisieren. Auch wurde festgestellt, dass sich wiedermal gezeigt habe, dass es bei der  Regierungsbildung für die herrschende Klasse Probleme gibt (Wochenzeitungen UZ und Rote Fahne). Schließlich wurde betont, dass dieses Desaster die Bildung eines neuen linken Pol mit der sozialdemokratischen Linkspartei, einem "Lager der Solidarität und Demokratie" auf die Agenda setze.(Marxistische Linke). An diesem Punkt machte sich die SAV Sorgen, dass die LINKE nicht richtig aufgestellt sei, falls es wegen des Jamaika-Scheiterns zu Neuwahlen käme (sozialismus.info).

Einzig die Gruppe "Arbeit-Zukunft" focussierte politisch anders, weshalb wir deren Kommentar bei TREND von ihrer Website gespiegelt haben. Dort wird folgende Konsequenz formuliert:

"Nüchtern, objektiv betrachtet, ist es notwendig, dass die Linke, Revolutionäre und Kommunisten solidarisch in einer gemeinsamen Front antreten, zusammen mit klassenkämpferischen, antifaschistischen und demokratischen Kräften. Für diese Front müssen Differenzen zurückgestellt werden. In Ihrem Mittelpunkt muss aber die Lage und die Interessen der arbeitenden Menschen stehen. Hinein in Betriebe und auf die Straßen! Daran mangelt es noch sehr."

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Auch in dieser Ausgabe wird die TREND-Debatte über die Thesen von Wolfram Bücker und Willi Gettél (TREND 9/2017) weitergeführt. K.-H. Schubert hat dafür den zweiten Teil seiner Kritik an diesen Thesen vorgelegt. Er kritisiert zum einen die begriffliche Oberflächlichkeit der Thesen, die zum andern Ausdruck davon ist, dass die Thesen nicht für eine politische Praxis geschrieben wurden. Und aus dieser Feststellung zieht er ähnliche politische Konsequenzen, wie sie im im obigen Arbeit-Zukunft-Zitat zum Ausdruck kommen. Sie gehen aber auch darüberhinaus, denn für Schubert ist die Überwindung des Zirkelwesens in der BRD eine notwendige Voraussetzung für die  politische Selbstorganisation der proletarischen Klasse auf dem Wege der Schaffung ihrer Partei.

Vermutlich wird es in den Metropolen keine bolschewistische Parteistruktur mehr geben - doch das sollten wir ruhig der Klasse selbst überlassen. Bertolt Brecht drückt gleichsam exemplarisch pointiert aus, was unter "der Partei" zu verstehen ist.

DER JUNGE GENOSSE
Wer aber ist die Partei?
Sitzt sie in einem Haus mit Telefonen?
Sind ihre Gedanken geheim, ihre Entschlüsse unbekannt?
Wer ist sie?

DIE DREI AGITATOREN
Wir sind sie.
Du und ich und ihr - wir alle.
In deinem Anzug steckt sie, Genosse, und denkt in deinem Kopf
Wo ich wohne, ist ihr Haus, und wo du angegriffen wirst, da kämpft sie.
Zeige uns den Weg, den wir gehen sollen, und wir
Werden ihn gehen wie du, aber
Gehe nicht ohne uns den richtigen Weg
Ohne uns ist er
Der falscheste.
Trenne dich nicht von uns!
Wir können irren und du kannst recht haben also
Trenne dich nicht von uns!
Daß der kurze Weg besser ist als der lange, das leugnet keiner
Aber wenn ihn einer weiß
Und vermag ihn uns nicht zu zeigen, was nützt uns seine Weisheit?
Sei weise bei uns!
Trenne dich nicht von uns!

B. Brecht, Die Maßnahme, Brecht Stücke, Band IV, Berlin 1967, S,297f

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Afrika - ein Kontinent kommt nicht zur Ruhe, so könnte die gemeinsame Überschrift über folgende Artikel lauten, die wir in dieser Ausgabe zusammengestellt haben:

Desweiteren möchten wir auf die Konferenz mit Moshe Zuckermann, Rolf Becker, Esther Bejarano, Moshé Machover, Jackie Walker u.a. im Februar 2018 in Berlin hinweisen, wo es um "eine ideologiekritische Intervention gegen die Instrumentalisierung von Juden, Judentum und der jüdischen Katastrophe" gehen wird. Wir werden berichten.

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Max Brym schrieb uns, dass die Arbeiten an seinem neuen Buch "Verrat in München und Burghausen" fast abgeschlossen sind und es voraussichtlich im Frühjahr 2018 erscheinen wird. Erzählt wird darin die Geschichte des Hans Faber, Rechtsanwalt, Mitglied des geheimen Abwehrapparates der KPD und als solcher formal Mitglied der NSDAP in München.  Sowohl in der Großstadt, sowie in der Provinz erlebt er den heldenhaften Widerstand gegen den Faschismus aber auch Niedertracht und Verrat. Faber und die anderen Widerstandskämpfer werden durch Max Brym dem Vergessen entrissen.

Und weil die Jahresendzeitfeiertage nahen, wo das eine oder andere Geschenk noch fehlt - hier meine Empfehlung:

Max Brym
Es begann in Altötting


Südwestbuch
Taschenbuch 116 Seiten
ISBN: 9783944264707

11,80 €

Eine Buchbesprechung
gibt es hier >>>>

Apropos Jahresende!
Die Januarausgabe erscheint wegen der Feiertage am
7. Januar 2018


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