Editorial
Bewußtseinsgestalten

von Karl Mueller

12/2016

trend
onlinezeitung

In seinen "zusammenfassenden Thesen" über das Verhältnis von Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel schlußfolgert Hans Heinz Holz, dass Marxens Anknüpfen an den Erkenntnisstand der Hegelschen Philosophie und die damit verbundene "ökonomische Durchleuchtung der Klassengesellschaft" dazu führte, dass die Philosophie, die bisher nur "Weltinterpretation" war, in "Weltveränderung" umschlug. Durch die ökonomische und politische Implosion der sich sozialistisch nennenden, staatskapitalistischen Staaten erfuhr die Marxsche Theorie am Ausgang des letzten Jahrhunderts allerdings einen ungeheuren Legitimationsverlust im Hinblick auf die Begründung einer nachkapitalistischen Gesellschaftsordnung, die sich aus einer revolutionären Kritik des Kapitalismus ableitet. Übrigblieb vom politischen Marxismus - obwohl die Klassenwidersprüche und die damit einhergehenden sozialen Verwerfungen nicht ab sondern noch zunahmen - nur der dünne Firniss sozialdemokratischer Versuche der Milderung jener Verwerfungen.

Mit der postfordistischen Verschmelzung von Hand- und Kopfarbeit in der kapitalproduktiven Lohnarbeit setzte in den kapitalistischen Metropolen eine soziale Fragmentierung ein, die die Wahrnehmung der objektiven  Klassengrenzen durch das dortige Alltagsbewußtsein erheblich erschwerte. Die ideologische Verarbeitung dieser Zustände blieb nicht aus: Ideologische Leitfigur des bürgerlich diktierten Mainstreams wurde die Monade, die angeblich unter dem Druck wechselnder Widersprüche in ihrer Identität permanent erschüttert wird und daher gezwungen ist, sich immer wieder neu zu erfinden.

Selbst in den linken Spektren, die die soziale Fragmentierung durch ihr Zirkelwesen nur nachbilden, statt es aufzuheben, um kontinuierliches und kollektives Handeln als subjektive praktische Erfahrung wieder möglich zu machen, ist die von der ständig wiederkehrenden Frage "Wer bin ich überhaupt?" gequälte Monade gleichermaßen ideologische  Leitfigur; aufgeladen durch ein Konglomerat von poststrukturalistischen und antikommunistischen Theoriefragmenten, die als geistiger Klebstoff wirken, um sich schlußendlich praktisch-politisch im Hier und jetzt zu verzetteln.

Nicht das Bild vom gestaltenden und die Widersprüche aufhebenden Tätigen sondern das Hegelsche Konstrukt der Bewußtseinsgestalt steht hier Pate. Nicht die Wirklichkeit spiegelt sich im Bewußtsein wider und wird zum Leitfaden des eingreifenden Handelns, sondern die Wirklichkeit wird in die "Innerlichkeit des Bewußtseins" verlegt und in ein persönliches Identitätsproblem transformiert.

Sich selbst neu erfinden als Ziel
Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ - ein ideologisches Eldorado für Sozialdemokrat*innen?

Karl-Heinz Schubert unterzieht Eribons Buch einer kritischen Sichtung

Montag, den 19. Dezember 2016 um 19.30 Uhr
Stadtteil- und Infoladen LUNTE

Weisestr.
53, 12049 Berlin

Im Mai 2016 erschien „Rückkehr nach Reims“ auf Deutsch und laut „ak 619“ ist es z.Z. ein „Lieblingsbuch vieler Linker“. Für den 30.11.2016 lädt die sozialdemokratische Denkfabrik „RLS“ den Soziologen Eribon zum Vortrag ein. Über „Klassenpolitik auf der Höhe der Zeit“ und die AfD soll geredet werden. Ausgangspunkt die dürftigen, in verschwurbelter Soziolog*innen-Sprache verfassten Milieubeschreibungen des „Rückkehr-Buchs“. Trotzdem lohnt sich ein Blick in dieses Buch, meint Karl-Heinz Schubert. Nämlich zum Gegnerstudium - um zu erfahren, wie sozialdemokratische Politik ideologisch neu justiert werden kann.

Eine Veranstaltung der TREND Onlinezeitung

Dass mensch mit mindestens einem Identitätsproblem - besonders wenn es auch noch Scham hervorruft, reüssieren kann und die materielle Basis als Mittelschichtintellektueller dazu ausreicht, daraus ein Buch zu machen, lässt sich derzeit gut anhand von Didier Eribons "Rückkehr-Buch" nachvollziehen. Eribon - der schwule und "klassenflüchtige" Poststrukturalist - hatte bereits 2009 in seinem, in der BRD bis 2016 unbekannt gebliebenen "Rückkehr-Buch" die Hinwendung der französischen Sozis zur Klasse eingefordert, um an die politische Rechte verlorenes Terrain wieder zurück zu gewinnen.

Dass ein linker Intellektueller, der durch seine neu erfundene Identität und aus Scham darüber jahrzehntelang seine proletarische Herkunft verleugnete, nun von Sozis eine Klassenorientierung einforderte, das war nicht nur eine ideologische Droge für erfolglose deutsche Sozis , sondern bescherte Eribon 2016 auch die vierte deutschsprachige Auflage des "Rückkehr-Buches" in einem halben Jahr.

Die Linkspartei, die mit dem schönen Slogan "Hoffnung statt Angst" in den Bundestagwahlkampf 2017 ziehen will, lud Eribon unlängst via Rosa Luxemburg Stiftung ein. Mit Christina Kaindl, ihres Zeichens "Bereichsleiterin für Strategie und Grundsatzfragen" in der Linkspartei, sollte Eribon diskutieren, wie eine mögliche Linienkorrektur Linkspartei aussehen könnte. Die Gründe dafür lagen auf der Hand. Bekanntlich hatte die Linkspartei mit ihrem Sammel-Konzept des "linken Mosaiks in den letzten Jahren sukzessive die Verbindung zu den prekarisierten Teilen des Proletariats verloren und stattdessen nur unter akademischen Poststrukturalist*innen einen Zugewinn eingefahren. Heute besteht nun das Problem, dass es bei den 2017 anstehenden Wahlen zahlenmäßig wieder nicht zu einer Regierungsbeteiligung in NRW und Bund reichen könnte.

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"Diversity 2016 - 10 Jahre Charta der Vielfalt" betitelte der "Tagesspiegel" seine Beilage am  10.11.2016. Dort konnten interessierte Leser*innen aus der akademischen Mittelschicht  entnehmen, dass die "Entfaltung jedes Einzelnen" höchstes Betriebsziel bei der Verwertung der Ware Arbeitskraft sein sollte. Das modern aufgestellte kapitalistische Unternehmen müsse daher  "Mitarbeiternetzwerke" fördern, die dem einzelnen Beschäftigten als "sicherer Hafen" dienen. "LGBTIQ"-Mitarbeiternetzwerke gelten dafür als Paradebeispiel. (gemeint sind mit dieser Abkürzung - zum richtigen freien Zitieren bitte auswendig lernen: Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und intergeschlechtliche, sowie queere Menschen). Es liegt auf der Hand, dass wenn von der ökonomisch-soziologischen Betrachtung der Ware Arbeitskraft abstrahiert wird und an deren Stelle die Innerlichkeit des Subjekts tritt, dass solch ein  quer zum Ausbeutungsverhältnis konstruiertes Netzwerk von Bewußtseinsgestalten Ausbeutung in Höchstform garantiert; besonders dann - wenn es schließlich als "Business Resource Group" des "externen Rekruiting" und der "Generierung von Business" dient.

Die ideologische Reduktion des praktisch handelnden Subjekts auf eine Bewußtseinsgestalt löst allerdings nicht das Problem, dass die Monade in ihrer angeblichen Freiheit permanent Schranken spürt, die auf sie einwirken. Dieser Konflikt - erlebt als Widerspruch zwischen Selbst- und Frembestimmung - wird durch Pseudoerklärungen wegrationalisiert und auf das Gebiet des Lifestyles und der kulturellen Differenz verlagert.

In (linken) autonomen Spektren kommt es mitunter zu dementsprechenden Grenzziehungen. So wurde unlängst versucht, die Gruppe "Revolutionärer Aufbau Bremen" mit Raumverbot zu belegen, weil sie angeblich "sexistisch"  sei. In der heutigen Ausgabe bringen wir ihre Stellungnahme zu diesem Vorwurf. Dabei ist bemerkenswert, dass obgleich diese Genoss*innen die ideologischen Grundlagen dieser Politik mit dem Begriff  "postmoderne Theorie" zutreffend zu fassen kriegen, sie den ideologischen Kampf aus Zeitgründen nicht weiterführen wollen. Darin äußert sich m.E. eine Geringschätzung des ideologischen Klassenkampfes, den ich für fatal halte.

Solch ein "Grundlagentext", den sie z.Z. nicht schreiben wollen, wird aber nicht nur in ihrem Zirkelumfeld gebraucht, sondern wäre auch in anderen linken Spektren hilfreich, wo die "postmoderne Theorie" leider dominiert. Zur Illustration sei nur die verblichene "Neue antikapitalistische Organisation" genannt: Die Debatte um das NaO-Manifest endete damit, dass zur "Frauenfrage" zwei miteinander konkurrierende Programmteile veröffentlicht wurde. Diese Beliebigkeit im Umgang mit der Klassenwirklichkeit, nämlich die richtige Antwort für ein bestimmtes Organisationsmodell durch einen praxislosen unverbindlichen Diskurs  zu finden, durchzog die kurze Geschichte der NaO wie ein roter Faden. (siehe dazu den persönlichen Bericht von "systemcrash" von der NaO-Bilanzveranstaltung)

Als strömungsübergreifende Veröffentlichungsorgan berichten wir auch in dieser Ausgabe wieder über die politischen Entwicklungen in den verschiedenen Spektren - und mit Bezug auf die Frage, welche Bedeutung für die eigene Politik und Organisationsentwicklung der ideologische Kampf einnimmt und vor allem welche Bedeutung der dafür notwendigen Qualifizierung durch die Aneignung des dialektischen Materialismus zukommt,  lässt sich am  MLPD-Dokument feststellen, dass die Partei diese Seite des Klassenkampfes im Visier hat. Ein wenig befremdlich erscheint dagegen das Herausheben des "systemischen Denkens" als eine theoretische Notwendigkeit, ist doch das "systemische Denken" nicht von der Systemtheorie zu trennen und deren Teilgebiet Kybernetik hat zur ideologischen Erosionen des DDR-ML beigetragen.

Bei dem PV-Beschluss der DKP, der darauf abzielt, den Fraktionierungen in der Partei ein Ende zu setzen, ist auffällig, dass die Kritik an der anderen Fraktion ("kommunistisches Netzwerk") überhaupt nicht auf ideologische Gründe der Fraktionierung eingeht, sondern ausschließlich politische Punkte hervorhebt wie z.B. die "Demokratie-" und " Machtfrage". In dem Referat auf der PV-Tagung, das sich mit der Marxistischen Theorie und Bildungsarbeit befasst, suchen Leser*innen vergeblich die Aneignung des dialektischen Materialismus für den ideologischen Klassenkampf. Solch eine Geringschätzung des ideologischen Kampfes ist schon frappierend.

Bei den Trotzkist*innen der ISL und des RSB, die sich nun wieder zu einer bundesdeutschen Sektion der IV. Internationale vereinigen, ist das Fehlen des ideologischen Kampfes nicht verwunderlich, ist dies doch ein grundsätzlicher Mangel des Trotzkismus, welcher sich schamhaft hinter solch blumigen Formulierungen wie z.B.

"Die programmatischen Dokumente und Entschließungen der Vierten Internationale ... liefern (sie) keine Blaupause zur Lösung aller aktuellen Fragen oder zur Einschätzung aller denkbaren neuen Entwicklungen"

verbirgt. Siehe zu diesem Mangel auch das "Manifest" der trotzkistischen Gruppe RCIT in dieser Ausgabe, das nur ein Sammelsurium von ökonomischen und politischen Forderungen darstellt.

Kurzum: Es bleibt noch viel zu tun, bevor es heißt:

Ehe das Proletariat seine Siege auf Barrikaden und in Schlachtlinien erficht, kündet es die Ankunft seiner Herrschaft durch eine Reihe intellektueller Siege an. (MEW 7/416)

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RANKING der Gruppe Alternative Medien vom 5.12.2016

Quelle: http://www.alexa.com/topsites/category/World/Deutsch/Medien/Alternative_Medien