Editorial
Revolution ohne Konterrevolution ?

von Karl Mueller

11/2017

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"Der Sozialismus der Bourgeoisie besteht eben in der Behauptung, daß die Bourgeois Bourgeois sind - im Interesse der arbeitenden Klasse."
(MEW 4 / 489)

Bekanntlich war die menschliche Geschichte bisher eine Geschichte der Klassenkämpfe. In ihnen kamen die Widersprüche einer Produktionsweise zum Ausdruck, in der das Privateigentum an den Produktionsmitteln die bestimmende Eigentumsform ist, wodurch sich entsprechende Eigentümerklassen das gesellschaftliche Mehrprodukt - geschaffen von den besitzlosen Klassen - aneignen.  Bis 1917 führten alle Klassenkämpfe im Resultat dazu, die Form des Privateigentums gegen eine andere Form auszutauschen und die alten Herrschaftsverhältnisse in neue, an diese Form angepasste Strukturen zu transformieren. In diesen revolutionären Umwälzungen waren die zur Macht gekommenen Klassen stets den Gegenangriffen der unterlegenen Klassen ausgesetzt und so bestand die Kunst, die neuen Herrschaftsverhältnisse zu verstetigen, darin,  die Konterrevolution durch eine Mischung aus Zerschlagung und Integration zu beseitigen. Vermittelt über das Privateigentum gelang dies immer.

1917 war das Ziel der Oktoberrevolution dagegen ein anderes. Die bisher unterdrückten Klassen - Bauern und Proletarier - wollten die Macht der Eigentümerklassen stürzen, um sie durch ihre Herrschaft zu ersetzen, deren durch die KPR(B) formuliertes Fernziel darin bestand, sukzessive alle Formen des Privateigentums an Produktionsmitteln abzuschaffen. Das zur Reproduktion der Gesellschaft notwendige Produkt und das zur Erweiterung des gesellschaftlichen Reichtums sollte zur ausschließlichen Angelegenheit seiner frei assoziierten Produzent*innen werden.

Und so wie sich dieses historische Ziel grundlegend von allen bisherigen unterschied, so grundlegend anders musste sich dazu die Konterrevolution positionieren. Es ging ihr zunächst darum, die sich konstituierende politische Herrschaft der Bauern und Proletarier in Gestalt ihrer Räte und Parteien schnellstmöglich gewaltsam zu beenden. Nachdem dieser Angriff von außen militärisch mißlungen war - verlegte sich die Konterrevolution darauf, die bis dahin eingeschlagenen Wege der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln permanent zu behindern und schließlich zu stoppen.

Das Resultat ist bekannt: Der "Rote Oktober" verendete nach 1989 im "Putin-Kapitalismus". Dazwischen lagen Jahrzehnte, die davon geprägt waren, dass die KPdSU die Eigentumsformen des Staatskapitalismus für Sozialismus hielt. Die bürgerlichen Charaktermasken dieser staatkapitalistischen Verhältnisse stellten den Herrschaftsapparat und kümmerten sich mehr schlecht als recht um die sozialen Belange der für sie tätigen Lohnarbeiter*innen. Sie repräsentierten sozusagen die innenpolitische Konterrevolution, die gleichzeitig alles daran setzte, am weltweiten imperialistischen Ringen um Anlage- und Einflusssphären und an den Erfolgen der internationalen Konterrevolution kontinuierlich teilhaben zu können.

Das führende politische und wirtschaftliche Personal der DDR entschied sich 1989 für eine Selbstauflösung der DDR und durch BRD-Beitritt zur Teilhabe am hochentwickelten Privatkapitalismus imperialistischer Prägung, was mit einer  Berufung auf die deutsche Heimat leicht zu händeln war. Welche konterrevolutionären Erfahrungen die DDR-Bourgeoisie in die BRD mitbrachte und wie sie sich dabei andienerte, bezeugen deren Erfahrungsberichte - anschaulich niedergeschrieben in den beiden Bänden der Kombinatsdirektoren "Jetzt reden wir" und "Jetzt reden wir weiter", untertitelt mit: "Was heute aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist".

Die VR China stellt heute mit ihrem "Deng Xiaoping-Kapitalismus" das letzte funktionierende staatskapitalistische System dar, das aus revolutionären Umwälzungen mit der Ansage, die Produktionsmittel durch Vergesellschaftung der privaten Verfügungsgewalt zu entreißen, hervorgegangen ist. Heute sind über 100 chinesische Volkskongressabgeordnete  schwerreiche Unternehmer, Konzernchefs und Internetunternehmer, darunter über 30 Milliardäre. Sie sind die Creme der chinesischen Bourgeoisie, zu der rund eineinhalb Milionen Millionäre gehören. Die staatskapitalistischen Weichen sind eindeutig in Richtung Privatkapitalismus imperialistischer Prägung gestellt. Allein das chinesische Proletariat hat es in der Hand, diesen konterrevolutionären Weg zu stoppen.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung der Linkspartei fasste anläßlich des 100jährigen Jubiläums einige Beiträge zum Thema "Roter Oktober 1917" in einer Broschüre zusammen. In der Einleitung steckt Christoph Jünke den Rahmen ab, in dem sich die Broschüren-Aufsätze bewegen. Es handelt sich hier um den klassisch trotzkistischen Denkhorizont, wo das Resultat der Geschichte nicht im hier und jetzt festgemacht wird, sondern die Untersuchung des Scheiterns mit dem Machtantritt Stalins in den 1920er Jahren endet. Denn nach trotzkistischer Sicht der Dinge handelte es sich bei der UdSSR um einen "degenerierten Arbeiterstaat"(1936), wo trotz Stalinscher Herrschaft die Rückkehr zum rechten Weg des Sozialismus möglich erschien. Die Tatsache, dass das Gegenteil eintrat, und welche inneren Bedingungen dies hervortrieben, weil die ökonomischen Gesetze der Verwertung des Werts wie "Naturgesetze" (Marx) wirkten, ist gleichwohl keiner Erörterung wert. Und dies obwohl seit der Oktoberrevolution bis zum Untergang der UdSSR regelmäßig Einschätzungen mit analytischen Anspruch parallel zu den einzelnen Entwicklungsabschnitten aus marxistischer Sicht veröffentlicht wurden.

Lediglich die trotzkistische SAV, die fraktionell in der Linkspartei arbeitet, weitet den Denkhorizont aus, um ihn mit dem trotzkistischen Totschlagargument "Sozialismus in einem Land" - vor 1989 gab es über 60 kooperierende "sozialistische" Staaten - gleich wieder zu begrenzen:

"Die Entartung der Revolution zur stalinistischen Diktatur und die kapitalistische Restauration nach siebzig Jahren bestätigten Trotzkis und Lenins Annahme von der Unmöglichkeit eines „Sozialismus in einem Lande“.

Für die DKP und andere DDR-Nostalgiefans liegen die Gründe des Scheitern des nach sowjetischem Muster organisierten DDR-Staatskapitalismus - sie nennen das Gebilde natürlich Sozialismus - nur zum geringen Teil innerhalb seines Territoriums, sondern für sie sind die konterrevolutionären Wirkkräfte im kapitalistisch-imperialistischen Ausland zu finden:

"Gewiss, der Sozialismus in Europa bzw. der Sozialismus in der DDR war am Ende zu schwach, zu ausgezehrt, zu zerrüttet, um den inneren Widersprüchen zu begegnen, die Angriffe von außen abzuwehren, den konterrevolutionären Bestrebungen entgegenzutreten. Dem Imperialismus nun aber vorzuwerfen, dass er diesen Zustand herbeigeführt, gefördert und ausgenutzt hat, ergibt wenig Sinn, das war sein Job und wird es bei Strafe seines Untergangs immer sein."

Statt das diesjährige öffentliche Interesse an der Oktoberrevolution zu nutzen, um schonungslos die endogenen Bedingungen des Scheiterns dieser sozialistischen Projekte zu benennen und damit die Debatte, um eine Neubestimmung revolutionärer Politik "auf der Höhe der Zeit" voranzubringen, gefällt sich der Großteil der linken Gruppen jenseits des autonomen und anarcho Spektrums - die das Jubiliäum schlicht ignorieren - in der Verabreichung des "roten Oktobers" als politisches Aphrodisiakum. T-Gruppen zeigen Legetrickfilme, Jungmaoisten entwerfen schicke Plakate, andere wiederum organisieren für ihr Polit-Milieu eine Fress-und Sauf-Party, wo Kostümierung im Stil von 1917 erbeten wird.

Die MLPD erscheint im Vergleich dazu weniger affirmativ, wenngleich auch sie gern mithilfe von künstlerischen Installationen Gefühle für einen revolutionären Bruch à la 1917 mobilisiert. Unbeschadet dessen erklärte auf dem  zweitägigen internationalen MLPD/ICOR Massenseminar zur Oktoberrevolution mit gut 1.000 Teilnehmer*innen ein Genosse der CPI/ML (Red Star) zum Niedergang der UdSSR:

„Es ist sehr, sehr wichtig, dass wir hier zusammentreffen. Wir gehen an diese Erfahrungen der Oktoberrevolution nicht dogmatisch heran. Wir können diese Lehren auch nicht ziehen, ohne uns damit zu beschäftigen, wie die Sowjetunion, dieses Bollwerk des sozialistischen Aufbaus, zerstört werden konnte.“

Im MLPD-Parteiprogramm findet sich dazu ein besonderer Abschnitt, der die inneren Ursachen des Scheiterns durch die Beschreibung der Restauration des "Kapitalismus in den ehemals sozialistischen Ländern" zum Gegenstand hat. Zwar bezeichnet die MLPD Chrustschow und Folgende als "neue Bourgeoisie", doch diese als Personifikation der Konterrevolution zu qualifizieren, soweit geht sie nicht.

Zur Vervollständigung der Diskussion um die aktuelle Bedeutung des "Roten Oktobers" veröffentlichen wir  in dieser Ausgabe im Rahmen unserer Rubrik "100 Jahre Oktoberrrevolution" den Text der Internationalen Kommunistischen Strömung "Die Weltrevolution als Schritt hin zum Kommunismus ist die einzige Zukunft für die Menschheit".

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In dieser Ausgabe haben wir auch drei Texte zur Frage des Katalonien-Spanien-Konflikts aufgenommen.

Die Schwesterorganisation der SAV, die "Esquerra Revolucionaria" hält den katalanischen Unabhängigkeitkampf für einen, wodurch  "die Gesellschaft entlang sozialistischer Linien" verändert werden kann. Deshalb, so meinen sie, schauen die "herrschenden Klassen von Spanien und Katalonien" ängstlich auf die Proklamation einer katalanischen Republik und reagieren so gewaltsam.

Während sich die Hoffnung der "Esquerra Revolucionaria" auf ein sozialistisches Projekt focussiert, das in einem nationalen Unabhängkeitskampf entsteht, und mit der aktiven "Solidarität der unterdrückten Massen Europas und der Welt" rechnet, geht Emil Neubauer mit einem realistischen  Blick auf die internationalen Bedingungen ein und fragt daher nach dem Nutzen dieses Konflikts für das internationale Kapital - speziell für das deutsche.

Auch im dritten Text von Detlef Georgia Schulze werden im Hinblick auf die internationalen Zusammenhänge des Unabgängigkeitskampfes ähnliche Bedenken für den Fall geäußert, falls es aus dem EU-Spektrum zu Unterstützungsaktionen für Katalonien seitens der EU-Staaten käme:

"Darin würde meines Erachtens aber nicht Emanzipatorisches liegen, weil es in der einen Variante nur die Hegemonie des deutschen Imperialismus in Europa und in der anderen Variante nur die Regierungszusammenarbeit bzw. vielleicht auch die EU-Kommission, die eher noch weniger demokratisch legitimiert sind als die spanische Regierung, stärken würde."

Tatsächlich deutet sich zur Zeit an, dass die katalanischen Separatist*innen selbst in Katalonien immer mehr in die Isolation geraten, denn schließlich hat das internationale Kapital unmißverständlich zu erkennen gegeben, dass es keine regionalen Unterbrechnungen seines Verwertungsprozesses dulden wird - außer wenn solche Störungen zu neuen Märkten führen, was hier ganz und gar nicht der Fall ist.

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Die Trend-Debatte über die Thesen "Die Verhältnisse sind reif für eine Revolution" nimmt an Fahrt auf. Der AKKA diskutierte im Oktober die Kritik von Günter Sandleben an dem Topos "Finale Krise" und verständigte sich auf eine Lektüresitzung, worin es um den Fall der Profitrate MEW 25/221-277 gehen wird. Außerdem wurde am Thesenpapier die nicht zureichende Verwendung des Subjektbegriffs kritisiert. Auch dazu wird es einige schriftliche Erläuterungen geben, die noch in diesem Monat erscheinen und im Dezember diskutiert werden. Zur Einstimmung haben wir einen Text zum Subjektbegriff bei Marx von Klaus Ottomeyer aus den 1970er Jahren herausgesucht.