Zweifacher
Subjektbegriff bei Marx, Charaktermaske und
Ich-Identität
Der Versuch,
Interaktionstheorie und Kritik der Politischen
Ökonomie systematisch miteinander zu vermitteln,
muß ausgehen vom Nachvollzug der
Formbestimmtheiten, denen das Verhalten der
konkreten Individuen innerhalb des kapitalistischen
Reproduktionsprozesses unterliegt. Hierzu scheint
mir zunächst eine Klärung des Subjektbegriffs bei
Marx, wie er u. a. im Aufbau des „Kapital" zum
Ausdruck kommt, von Bedeutung.
Im folgenden soll
gezeigt werden, daß es beim Marx der Kritik der
Politischen Ökonomie (im Unterschied zu den
Frühschriften) zwei Subjektbegriffe gibt, aus deren
Verhältnis zueinander der erste Ausgangspunkt für
die gesuchte Systematik sich ergeben kann.
Stufen der
Verkehrung von Subjekt und Objekt: Ware, Geld,
Kapital
Das erste Subjekt ist
die Bewegung des Kapitals selbst: Da hier im Ernst
auf die Marxsche Kapitallogik nicht eingegangen
werden kann (1), sei nur daran erinnert, daß Marx
den Kapitalbegriff aus einer Verkehrung von Subjekt
und Objekt ableitet, die von der Warenform der
Produkte, ihrem Doppelcharakter, sowohl
Gebrauchswert als auch Tauschwert zu sein, ihren
Ausgang nimmt. „Das Geheimnisvolle der Warenform
besteht einfach darin, daß sie den Menschen die
gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit
als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte
selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften
dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das
gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur
Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes
gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen"
(2).
Verdinglichung
bedeutet nicht nur, daß die gesellschaftlichen
Verhältnisse der Personen die Form eins
Verhältnisses von Dingen annehmen, sondern auch
darüber hinaus, daß die Dinge eine „gespenstige Gegenständlichkeit" (Lukacs),
also den Schein einer Lebendigkeit
erhalten. „Hier scheinen die Produkte mit eigenem
Leben begabte, untereinander und mit den Menschen
in Verbindung stehende Gestalten." (3) Der
„Warenfetischismus" bezeichnet eine Selbstbewegung
der in Sachen vergegenständlichten, toten Arbeit,
die ein Schein ist; aber nicht bloße Illusion oder
Täuschung, sondern realer Schein, der
auf der realen Verkehrung von Subjekt und Objekt in
den Tauschbeziehungen beruht.
Die Entwicklung des
Geldes, das aus dem Widerspruch von Tauschwert und
Gebrauchswert in den Waren entspringt, bedeutet
eine nächste Stufe der Verdinglichung. Der
Tauschwert der Waren nimmt im Gelde eine eigene
verselbständigte Gestalt an und damit das
gesellschaftliche Verhältnis der Warenbesitzer
zueinander.
Diese beginnen, den
gesellschaftlichen Zusammenhang miteinander, wie es
bei Marx an einer Stelle heißt, „in der Tasche", in
Gestalt von Gold oder Münzen herumzutragen.
Das Geld als solches
vermag die Menschen als rätselhafte Macht zwar
bereits zu beherrschen und zu blenden; aber erst
wenn es aus der Zirkulationsform Ware-Geld-Ware
(W-G-W), in der es noch bloßer Vermittler der noch
auf Gebrauchswertkonsumtion gerichteten
Austauschprozesse ist, übergegangen ist in die
Zirkulationsform Geld-Ware-Geld (G-W-G), kann es
Kapital werden, daß sich akkumuliert (G-W-G'), die
rätselhafte Selbstbewegung des „mehrwertheckenden
Wertes". „Die einfache Warenzirkulation - der
Verkauf für den Kauf - dient zum Mittel für einen
außerhalb der Zirkulation liegenden Endzweck, die
Aneignung von Gebrauchswerten, die Befriedigung
von Bedürfnissen. Die Zirkulation des Geldes als
Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die
Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser
stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des
Kapitals ist daher maßlos." (4)
Zwar wird als
„bewußter Träger dieser Bewegung" der Geldbesitzer
Kapitalist, aber er ist selbst nur
„personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein
begabtes Kapitel" (5), Funktionsträger des
Kapitals, das sich nach eigenen Bewegungsgesetzen
fortbewegt.
Das Kapital, der
Akkumulationsprozeß, erscheint so als abgerissen
von Willen und Bewußtsein der gesellschaftlichen
Individuen: „Wenn in der einfachen Zirkulation der
Wert der Waren ihrem Gebrauchswert gegenüber
höchstens die selbständige Form des Geldes erhält,
so stellt er sich hier plötzlich dar, als eine
prozessierende, sich selbst bewegende Substanz, für
welche Ware und Geld bloße Formen." (6)
Das Kapital ist hier
als ein sich selbst reproduzierendes „automatisches
Subjekt", als Selbstbewegung konzipiert. Damit
nimmt Marx Bezug auf den Hegeischen Subjektbegriff;
auch hier wird das Subjekt beschrieben als „die
Bewegung des Sichselbstsetzens oder die
Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst".
Noch näher liegt der Gedanke an den
Akkumulationsprozeß, wenn Hegel das Subjekt
bestimmt als „Kreis, der sein Ende als seinen Zweck
voraussetzt und zum Anfang hat und nur durch die
Ausführung und sein Ende wirklich ist." (7)
Das „beseelte
Ungeheuer" und die konkret-sinnlichen Subjekte
Solange der Blick an
der Zirkulationssphäre haftet, bleibt die
subjekthafte Eigenbewegung des Kapitals
unerklärlich. Marx löst das Rätsel, indem er diese
Sphäre der Tauschwerte, der bereits in Warenform
kristallisierten Arbeit durchstößt und zeigt daß es
nicht die Zirkulation von Tauschwerten sein kann,
wodurch das Kapital sich vermehrt, sondern nur die
Konsumtion der Ware Arbeitskraft, deren besonderer
Gebrauchswert darin besteht, daß sie über ihren
Tauschwert, der sich nach ihren
Selbsterhaltungskosten bemißt, hinaus einen
Mehrwert schaffen kann. Das Kapital als die
Selbstbewegung der Tauschwerte, der toten Arbeit
kann sich nur aus seinem Gegensatz, der lebendigen
Arbeit reproduzieren. „Als zeitlich vorhandene
ungegenständliche (und darum noch nicht
vergegenständlichte) Arbeit kann diese nur
vorhanden sein als Vermögen, Möglichkeit,
Arbeitsvermöpgen des lebendigen Subjekts ...
Für das Kapital existiert kein anderer
Gebrauchswert. Es ist eben dies das Verhalten
seiner als Tauschwert zum Gebrauchswert. Der
einzige Gebrauchswert, der einen Gegensatz und
Ergänzung zum Geld als Kapital bilden kann, ist die
Arbeit und diese existiert im Arbeitsvermögen, das
als Subjekt existiert. Als Kapital ist das
Geld nur in Bezug auf das Nichtkapital, die
Negation des Kapitals, in Beziehung auf welche es
allein Kapital ist. Das wirkliche Nichtkapital ist
die Arbeit selbst." (8)
Und im „Kapital"
heißt es: „Indem der Kapitalist Geld in Waren
verwandelt, die als Stoffbildner eines neuen
Produkts oder als Faktoren des Arbeitsprozesses
dienen, indem er ihrer toten Gegenständlichkeit
lebendige Arbeitskraft einverleibt, verwandelt er
Wert, vergangene, vergegenständlichte, tote Arbeit
in Kapital, sich selbst verwertenden Wert, ein
beseeltes Ungeheuer, das zu .arbeiten' beginnt, als
hätt' es Lieb' im Leibe." (9)
Im Marxschen
Kapitalbegriff existiert Subjektivität unter
zweierlei Gestalt. Einmal als das übergreifende
Subjekt des kapitalistischen
Selbstverwertungsprozesses, das sich, indem es
sich nur akkumulierend erhalten kann, gleichsam
seine Umwelt einzuverleiben sucht; zum anderen in
der Gestalt der leibhaft-sinnlichen Individuen.
Erst im Aufzeigen der Quelle des Mehrwerts, der
Arbeitskraft der „lebendigen Subjekte" wird der
Zusammenhang beider Gestalten von Subjektivität
deutlich. Im Produktionsprozeß, wo die lebendige
Arbeit, die Arbeitskraft der Lohnarbeiter von der
Maschinerie aufgesogen wird und in
vergegenständlichter Form ihnen gegenüber als
Kapital sich aufhäuft, - im Verlauf dieses
Prozesses spaltet sich gleichsam die Subjektivität
von den „lebendigen Subjekten" ab und erscheint
dann wieder als die Subjektivität jener
„prozessierenden, sich selbst bewegenden Substanz",
welche die wirklichen Subjekte nur noch als
Anhängsel mitschleift. So betrachtet zeigt sich,
daß der Subjektcharakter des kapitalistischen
Selbstverwertungsprozesses realer Schein
ist, welcher notwendig der innerhalb des
Kapitalverhältnisses sich vollziehenden Verkehrung
von Subjekt und Objekt entspringt.
Erst nach der
Durchbrechung und unter der Berücksichtigung dieses
realen Scheins kann bei der Betrachtung der
gesellschaftlichen Totalität von der für die
gesellschaftliche
Bewegung konstitutiven Subjektivität der realen
Individuen gesprochen werden.
In Anknüpfung an Ure
(den „Pindar der automatischen Fabrik")
kennzeichnet Marx noch einmal die Bewegung der
kapitalistischen Maschinerie als die eines
übergreifenden Subjekts und eines Automaten
zugleich. Hier ist „der Automat selbst das Subjekt,
und die Arbeiter sind nur als bewußte Organe seinen
bewußtlosen Organen beigeordnet und mit denselben
der zentralen Bewegungskraft untergeordnet." (10)
In dieser Diktion ist auf die Scheinhaftigkeit des
übergreifenden Subjekts hingewiesen: Es ist als
Automat blind und seine Organe sind bewußtlos. Ein
Subjekt orue Bewußtsein, ohne das prinzipielle
Vermögen, sich auf die eigenen Aktionen bewußt zu
beziehen, ist nur dem Scheine nach ein Subjekt:
eben ein „Ungeheuer". Die mitgeschleiften Arbeiter
bleiben, obwohl ihre Subjektivität sich im Prozeß
der Vergegenständlichung von ihnen weg in den
Automaten hinein abspaltet, die einzig wirklichen
Subjekte. Wie immer ihr Bewußtsein auch reduziert
und entfremdet sein mag, so sind doch nur sie
allein die bewußten Organe in diesem Prozeß.
Zwei
Reproduktionsprozesse und ihr systematischer Bezug
aufeinander
Wir haben demnach
einen Subjektbegriff, der sich auf ein
automatisches, blindes, d. h. nur scheinbares -
aber dennoch mit realer Gewalt sich durchsetzendes
- Sub-I jekt bezieht und einen zweiten, der
sinnlich-leibhafte, mit Arbeitsfähigkeit, Bewußt-1
sein und Kommunikationsfähigkeit ausgestattete
Subjekte meint. Beide Subjekte j machen einen
Reproduktonsprozeß durch, wobei beide
Reproduktionsprozesse durcheinander
vermittelt sind. Der eine Reproduktionsprozeß ist
der des akkumulierenden Kapitals, das sich nur
durch die immer neue Einverleibung lebendiger
Arbeit vermehren kann; der andere, diesem
unterworfene Reproduktionsprozeß ist der, in dem
sich die Arbeiter als reale, produktionsmittellose
und zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungene
Individuen am Leben erhalten. In den wirklichen
Subjekten müssen sich bestimmte physische und
psychische Fähigkeiten und Einstellungen
reproduzieren, wenn sie als tauglicher Bestandteil
im übergreifenden Reproduktionsprozeß des
„automatischen Subjekts" fungieren sollen.
Der Ausgangspunkt für
eine systematische Vermittlung von
Interaktionstheorie und Kritik der Politischen
Ökonomie soll nun die Frage sein: Welche
Grundanforderungen (oder gewissermaßen „functional
prerequisites") müssen die wirklichen Subjekte in
ihrer alltäglichen Wahrnehmung voneinander und in
ihrem alltäglichen Verhalten zueinander erfüllen,
welche Identitätsstrukturen müssen sie
reproduzieren, um Moment des anderen,
übergreifenden Reproduktionsprozesses sein zu
können.
Jetzt kann auch erst
der Sinn der Polemik gegen den Begriff eines
„Gattungssubjekts" bei Habermas und Lorenzer(l11)
deutlicher werden. Die falsche Subjektivität
der verselbständigten gesellschaftlichen
Verhältnisse und die „lebenden", sich innerhalb
dieser Verhältnisse wechselseitig zueinander
verhaltenden Subjekte werden in diesem
Sprachgebrauch, der aus der klassischen deutschen
Philosophie überkommen ist, zu leicht miteinander
konfundiert und versöhnt. An der Trennung
festzuhalten scheint uns jedoch von größer
Wichtigkeit. (12) Eine Theorie der Verhältnisse,
deren struktureller Kern der Kapitalbegriff sein
soll, muß von einer Theorie des Verhaltens der
Individuen zunächst auseinandergehalten werden,
wenn beide wieder in Beziehung gesetzt werden
sollen, - wie nach Marx „Verhältnisse überhaupt nur
gedacht werden können, wenn sie fixiert werden
sollen, im Unterschied von den Subjekten, die sich
verhalten." (13)
Zirkulation,
Produktion und Konsumtion
Der übergreifende
Reproduktionsprozeß des Kapitals tritt nun den
Individuen nicht als ein ungegliedertes Ganzes,
sondern als eine in Phasen aufteilbare
Kreislaufbewegung gegenüber. Es ist wichtig, sich
an die schon oben erwähnte Marxsche Einteilung des
kapitalistischen Reproduktionsprozesses zu
erinnern. (14)
„Das Resultat, wozu
wir gelangen, ist nicht, daß Produktion,
Distribution, Austausch und Konsumtion identisch
sind, sondern daß sie alle Glieder einer Totalität
bilden, Unterschiede innerhalb einer Einheit. Die
Produktion greift über, sowohl über sich in der
gegensätzlichen Bestimmung, als über die anderen
Momente. Von ihr beginnt der Prozeß immer wieder
von neuem." (15)
Diese Gliederung ist
natürlich zunächst unabhängig von einer besonderen
Gesellschaftsformation, - auch der Lebensprozeß
einer Jäger- und Sammlerhorde läßt sich als
beständiger Durchgang durch die drei Momente
Produktion, Verteilung der Beute und Konsumtion
beschreiben. Die Gliederung tritt jedoch in
kapitalistischen Gesellschaften - erfahrbar etwa
als die scharfe Trennung von Arbeit und Freizeit
-in besonderer Schärfe hervor. Der
gesellschaftliche Reproduktionsprozeß erhält hier
seine Bestimmung durch den Kreislaufprozeß des
Kapitals, was sich ex negativo an der nur innerhalb
dieser Gesellschaft möglichen Störung des
Reproduktionsprozesses durch die kapitalistische
Überproduktionskrise belegen läßt.
Das gesellschaftlich
Mehrprodukt wird im unmittelbaren Produktonsprozeß
von der Arbeitskraft der Arbeiter als
kapitalistischer Mehrwert geschaffen und in der
Zirkulationssphäre realisiert. Während der mit dem
Verkauf der Waren realisierte Mehrwert (in seiner
Erscheinungsform als Profit) in Geldgestalt in den
Akkumulationsprozeß des Kapitals zurückfließt, um
dort in neuem konstanten und variablen Kapital
veranlagt zu werden, geht der „erlöste"
Gebrauchswertkörper in den individuellen
Konsumtionsprozeß ein. Da diese Konsumtion (soweit
sie nicht die von ausbeutenden Klassen ist)
zugleich die individuelle Reproduktion der
Arbeitskraft, des variablen Kapitalteils ist, ist
auch sie wieder Bestandteil des übergreifenden
Reproduktonsprozesses. (16)
Nicht nur das Kapital
reproduziert sich immer wieder von neuem durch die
Produktionssphäre, die Zirkulationssphäre und die
Konsumtionssphäre hindurch, sondern auch der reale
Lebensprozeß der Individuen vollzieht sich für sie
als ständig wiederholter Durchgang durch diese drei
ökonomischen Sphären. Die einzelnen
Verhaltenselemente im Alltagsleben der Individuen
lassen sich mit größter Eindeutigkeit einer dieser
drei Sphären zuordnen. Schon der Tagesablauf der
lohnabhängigen Massen zeigt eine Gliederung in
drei klar voneinander abgrenzbare Abschnitte:
Arbeiten, Einkaufen, Freizeit. Allerdings wäre es
verfehlt, das Verhältnis von Produktionssphäre,
Zirkulationssphäre und Konsumtionssphäre nur als
ein zeitliches Nacheinander im Lebensprozeß der
Individuen zu begreifen. Es ist ebensogut ein
Nebeneinander. Bei aller Zerrissenheit von Arbeit
und Freizeit, produktiver Konsumtion und
individueller Konsumtion in der kapitalistischen
Gesellschaft zeigt sich doch, daß auch während
der „Verausgabung von Nerv, Hirn und Muskel" im
Produktionsprozeß gewissen Minimalerfordernissen
der individuellen Reproduktion Rechnung
getragewerden muß. Frühstückspausen und gute
Belüftung, aber auch grüngestrichene Wände, die
Herstellung eines wohltemperierten Betriebsklimas
durch human-relations-Fachleute und
„functional-music", die genau komplementär zur
Ermüdungskurve der Arbeiter eingesetzt wird,
erfüllen solche Erfordernisse der individuellen
Reproduktion. (17) Ebensogut kann u. U. das
Einkaufengehen nicht nur Teilhabe an der
Zirkulationssphäre bedeuten, sondern mag zugleich
bereits Momente der „Feierabend"-Reproduktion
beinhalten.
Aber auch wenn man
das Verhältnis von Produktion, Zirkulation und
Konsumtion nicht nur als zeitliche
Aufeinanderfolge von Phasen im alltäglichen
Lebensablauf, sondern auch als ein Nebeneinander in
der jeweils dominanten Sphäre betrachtet und auch
wenn man darüber hinaus noch die übliche
arbeitsteilige Ausgliederung zentraler
individueller Reproduktionsfunktionen in Gestalt
der Hausfrau berücksichtigt, läßt sich immer noch
eine relativ eindeutige Zuordnung von
Verhaltenselementen und Interaktionssequenzen zu
jeweils einer der drei Phasen des
gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses
vornehmen. Dadurch erfährt die Interaktion im
Alltagsleben eine grundlegende Strukturierung.
Wenn man das
Verhältnis von Interaktion und Ökonomie
systematisch fassen will, ist es wenig sinnvoll,
immer nur eine allgemeine, von der Ökonomie
ausgehende Formbestimmung, wie das „Tauschprinzip"
in der Frankfurter Schule der Soziologie,
hervorzuheben. Damit wird am Prozeßcharakter sowohl
der Ökonomie als auch des sich reproduzierenden
Lebens der Individuen vorbeigegangen. Dagegen wäre
es nach den unterschiedlichen und
widersprüchlichen Formbestimmtheiten zu fragen,
die der widersprüchliche ökonomische Prozeß in
seinen einzelnen Phasen der Interaktion der
Individuen aufprägt. Bestimmten ökonomischen
Kategorien müssen bestimmte Interaktionsformen
entsprechen. Die ökonomischen Kategorien
Produktion, Zirkulation und Konsumtion bezeichnen
natürlich zunächst nur eine allererste, wenn auch
grundlegende Grobgliederung des ökonomischen
Prozesses, aber mit ihrer systematischen
Berücksichtigung ist der erste Schritt zu einer
Untersuchung möglich, die über den erstarrten
Vorwurf der Allgegenwart des „Tauschprinzips"
hinausgelangt. Zwar begegnet der Doppelcharakter
der Waren, aus dem sich der Begriff „Tauschprinzip"
herleitet, den Indivuen in allen Phasen, die diese
im kapitalistischen Reproduktionsprozeß
durchmachen, aber doch auf sehr unterschiedliche
Weise. So sind die Anforderungen der Produktion, wo
der Doppelcharakter der Waren nur als Bewegung, als
Einheit von Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß
erscheint, ein Bereich, der von der Frankfurter
Schule so gut wie vergessen worden ist. Der Begriff
des „Tauschprinzips" bringt so eine einseitige
Fixierung auf die Formierung von Bewußtsein und
Interaktion durch die bereits vergegenständlichten
Produkte hervor, wie sie in der Zirkulation und
Konsumtion erscheinen. Die Stärke der „Kritischen
Theorie", ihre Konzentration auf die Kritik des
bürgerlichen Kultur- und Konsumbetriebs, ist
zugleich ihre Schwäche.
Charaktermaske und
nicht-normative Verhaltensbestimmungen
An diesem Punkt muß
auch der mittlerweile vielstrapazierte Begriff der
Charaktermaske in Bewegung gebracht, sozusagen
verflüssigt werden.
Wenn der Begriff der
Charaktermaske die verknöcherten Verkehrsformen
bezeichnet, unter denen die Individuen einander
nur als „Personifikation ökonomischer Kategorien"
gegenübertreten können, (18) dann müssen die Formen
des Sich-Gegenübertretens mit dem Wechsel der
ökonomischen Kategorien innerhalb der Phasen des
kapitalistischen Reproduktionsprozesses ebenfalls
einem Wechsel unterworfen sein. Kapitalist und
Lohnarbeiter begegnen sich auf dem Arbeits- oder
Konsumgütermarkt, im Betrieb oder der Konsumsphäre
auf höchst unterschiedliche Weise, ohne daß sie
auch nur in einem dieser Bereiche aufhören könnten,
Träger ihrer Charaktermasken zu sein. So betrachtet
gibt es also nicht eine ungegliederte
Charaktermaske für die Individuen, sondern eine
Vielzahl unterschiedlicher Charak-(ennasken, die
durch den ökonomischen Prozeß miteinander
vermittelt sind.
Mit Hilfe eines
solcherart in Bewegung gebrachten Begriffs der
Charaktermaske lassen sich die grundlegenden
Verhaltensanforderungen, die von den ökonomischen
Kategorien auf die konkreten, ihr Alltagsleben
reproduzierenden Individuen ausgehen, zunächst
rekonstruiert, bevor die konkrete Art und Weise
betrachtet wird, in der sich die Individuen mit der
Formbestimmtheit ihres Verhaltens herumschlagen
und arrangieren. Mit der rollenanalytischen Methode
in der bürgerlichen Soziologie hat dieser Ansatz
gemein, daß die beobachtbaren Verhaltensformen und
-regelmäßigkeiten von „außen" her, von den
Anforderungen der sozialen Umgebung abgeleitet
werden. (19) Was ihn von der Rollensoziologie
unterscheidet, ist der Umstand, daß die
Anforderungen nicht als Erwartungen von Personen,
oder, wie es in der betreffenden Terminologie
heißen würde: „sanktionsfähiger Normenbenefi-ziare"
gefaßt werden, sondern als objektive
Verhaltenszwänge, die von den dinglich
erscheinenden ökonomischen Verhältnissen als
solchen ausgehen. Die grundlegenden
Verhaltensregelmäßigkeiten kommen „bei Strafe des
ökonomischen Untergangs" zustande. Das wird
besonders deutlich bei den Verhaltenszwängen, die
von der kapitalistischen Konkurrenz ausgehen. Man
denke etwa an „Verhaltensregelmäßigkeiten", die
sich in ökonomischen Krisenzeiten bei den
arbeitslos gewordenen Massen herausbilden:
Aufstehen noch vor Morgengrauen, unermüdliches
Schlangestehen vor den Arbeitsämtern, Wettrennen
um die in Erfahrung gebrachten Arbeitsplätze,
regelmäßige Lektüre im Anzeigenteil der Zeitungen
etc. (20) Wenn man das Zustandekommen solchen
Verhaltens mit der Terminologie der Rollentheorie
zu beschreiben versuchen würde, käme man sofort in
Teufels Küche. Es wäre unsinnig, wollte man die
Interaktionspartner auf dem Arbeitsmarkt, denen
gegenüber der einzelne jene verzweifelte Konstanz
seines Verhaltens herausbilden muß, als
„Erwartungsneger" oder „Normenbenefiziare"
bezeichnen, die aus der Aufrechterhaltung der
individuellen Verhaltensregelmäßigkeiten
irgendeinen Nutzen zögen. Im Gegenteil: gerade ein
Abweichen von der Verhaltensregelmäßigkeit muß in
ihrem Interesse liegen, weil jedes Versagen, jedes
„Aussteigen" eines Schicksalsgenossen die Chancen
zu Verkauf der eigenen Arbeitskraft verbessert. Es
folgen hier also von den Konkurrenten als Personen
auf das Nichteinhalten der grundlegenden situativen
Verhaltensanforderungen keinerlei Sanktionen.
„Benefiziar" ihrer Einhaltung ist nur der einzelne.
Und als „Sanktionssubjekt" erscheinen nur die
ökonomischen Verhältnisse selbst, oder aber, anders
betrachtet, das Individuum sich selbst gegenüber,
wenn es, nach Verinnerlichung der ökonomischen
Gewalt, sich die fürs Uberleben erforderliche
Verhaltenskonstanz immer wieder aufzwängt.
Was hier nur
besonders deutlich hervortritt, gilt auch für die
beiden anderen Formen der
Konkurrenz: die zwischen Kapitalisten und
Lohnarbeitern und die innerhalb der
Kapitalistenklasse. (21) Darüber hinaus muß man
sich vor Augen halten, daß ja auch nach der
gelungenen Einstellung in einem Betrieb für die
Arbeiter die Auswirkungen der
Arbeitsmarktbewegungen auf ihr Verhalten keineswegs
aufhören. Am Beispiel der ökonomischen Kategorie
der Konkurrenz zeigt sich, wie wenig eine
Verhaltenstheorie, die auf der Ebene der normativen
Beziehungen zwischen den Individuen verbleibt, zur
Erklärung wichtiger Verhaltensstrukturen beitragen
kann. Die grundlegenden Verhaltensanforderungen,
die den Menschen unter der Charaktermaske des
Warenbesitzers aufgezwungen werden, lassen sich aus
den Interaktionen und den in ihrem Verlauf
zustandekommenden Konsensus zwischen den Personen,
die einander auf dem Markt gegenübertreten, nicht
herleiten; sie dringen gleichwohl in ihre
Interaktionen und normativen Übereinkünfte ein und
sind für diese konstitutiv.
Im Begriff der
Charaktermaske sind die ökonomischen
Verhältnisse und das Verhalten von
Individuen miteinander vermittelt. Erst in der
revolutionären Aktion kehrt sich die
„Alltags"-Beziehung zwischen ihnen um. Das
Verhalten beginnt, sich gezielt gegen die
Verhältnisse zu wenden. Im spontanen
Streikverhalten von Arbeitern etwa, mit dem
partiellen Heraustreten aus dem kapitalistischen
Produktionsprozeß und dem Erkämpfen neuer
solidarischer Verkehrsformen und
Kommunikationsstrukturen, wird die Einseitigkeit
des Konstitutionsverhältnisses zwischen
Verhältnissen und Verhalten negiert - und zugleich
die Charaktermaske, die im Alltagsleben die
Interaktionen durch und durch präformiert, in
ersten Ansätzen zertrümmert.
Gegen die falsche
Gleichsetzung von „Charaktermaske" und „Rolle" bei
Mer-ton und Dahrendorf (22) soll also festgehalten
werden, daß der Begriff der Charaktermaske
zunächst nicht auf die Normreguliertheit von
Interaktionen innerhalb eines bestimmten
„Handlungssektors" zielt, sondern auf die
nicht-normativen Formbestimmtheiten sozialer
Interaktion durch ökonomische Kategorien, die als
konstitutive Bedingungen die Grundstruktur
abstecken, innerhalb derer dann eine bewußte (oder
unbewußte) Einigung auf bestimmte Normen,
gemeinsame Situationsdefinitionen etc. als
konkretes Arrangement mit den vorgefundenen
widersprüchlichen Interessen der
Interaktionspartner möglich wird. Über die
Charaktermaske gehen die nicht-normativen
Verhaltenszwänge, denen sich die Individuen
gegenübersehen, in den konkreten normvermittelten
Handlungskontext ein. (23)
Individuelle
Synthesis und Ich-Identität
Unter der
Charaktermaske begegnen sich die beiden oben
skizzierten Reproduktionsprozesse: einmal der der
falschen Subjektivität des Kapitals, zum anderen
der der lebenden, sinnlich-konkreten Individuen.
Auf beiden Seiten erhält sich durch die besonderen
Abschnitte des Reproduktionsprozesses hindurch ein
Identisches. Die eine Identität ist die des
akkumulierenden Kapitals (24), die andere die
Identität der Individuen. Damit ist auf das
Verhältnis von gesellschaftlicher Synthesis und
individueller Synthesis verwiesen.
Als weiterer Schritt
für die Vermittlung einer Interaktionstheorie mit
den Kategorien der Politischen Ökonomie scheint uns
nun folgende, auf den zweiten Reproduktonsprozeß
bezogene Frage von zentraler Bedeutung: Welches
sind die grundlegenden Synthestisierungsleistungen,
die von den Individuen angesichts der
unterschiedlichen Gestalten ihrer ihnen vom
ökonomischen Prozeß aufgezwungenen Charaktermasken
vollzogen werden müssen?
Nicht nur stehen die
Verhaltensanforderungen der aufeinanderfolgenden
Charaktermasken - grob zu gliedern nach:
Marktverhalten, Produktionsverhalten,
Konsumtionsverhalten - zueinander in
Widerspruch, sondern die Verhaltensanforderungen
der einzelnen Charaktermasken sind zudem, wie noch
genauer gezeigt werden wird, in sich
widersprüchlich. Es soll danach gefragt werden, wie
das Individuum gegenüber den von der Charaktermaske
bewirkten „Kompartmentalisierungen" (25) des
eigenen Verhaltens eine Identität in der
Nichtidentität aufrechterhalten kann. Damit nähern
wir uns dem sozialpsychologischen Begriff der
Ich-Identität. Seit Erikson bezeichnet in der
psychoanalytischen und phänomenologischen
Sozialpsychologie „Ich-Identität" den Inbegriff
der synthetisierenden Leistungen des Individuums.
„Das bewußte Gefühl, eine persönliche Identität
zu besitzen, beruht auf zwei gleichzeitigen
Beobachtungen: Der unmittelbaren Wahrnehmung der
eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit und
der damit verbundenen Wahrnehmung, daß auch andere
diese Gleichheit und Kontinuität erkennen. Was wir
hier Ich-Identität nennen wollen, meint also mehr
als die Tatsache des bloßen Existierens,
vermittelt durch die persönliche Identität; es ist
die Ich-Qualität dieser Existenz. So ist
Ich-Identität unter diesem subjektiven Aspekt das
Gewahrwerden der Tatsache, daß in den
synthetisierenden Methoden des Ichs eine Gleichheit
und Kontinuierlichkeit herrscht und daß diese
Methoden wirksam dazu dienen, die eigene Gleichheit
und Kontinuität auch in den Augen der anderen zu
gewährleisten." (26) Das
Wechselverhältnis von Identität und Nichtidentität
wird in anderen Formulierungen Eriksons, die stark
an das Verhältnis von Identität und Sozialität bei
G. H. Mead erinnern, noch deutlicher: „Der Begriff
.Identität' drückt also insofern eine
wechselseitige Beziehung aus, als er sowohl ein
dauerndes inneres Sich-Selbst-Gleichsein als auch
dauerndes Teilhaben an bestimmten
gruppenspezifischen Charakterzügen umfaßt." (27)
Für unsere Zwecke kommt nun alles darauf an, die
Nichtidentität der kompartmentalisierten
Verhaltenselemente nicht bloß, wie es in dieser
Formulierung angelegt ist, auf die Teilhabe an den
Normensystemen unterschiedlicher „Bezugsgruppen"
zurückzuführen, sondern darüber hinaus auf das
nichtnormative Substrat der wechselnden
ökonomischen Kategorien.
Man kann zwei
Dimensionen der durch Ich-Identität geleisteten
Synthesis unterscheiden: eine horizontale, in der
die unterschiedlichen sozialen „Rollen" integriert
werden (Beruf, Familie, Männergesangverein etc.)
und eine vertikale, in der der individuelle
Entwicklungsprozeß (oder Verkümmerungsprozeß) zu
einer mehr oder weniger konsistenten Biographie
zusammengefaßt wird.
In den nachfolgenden
Abschnitten wird es vor allem um die Probleme der
ersten, horizontalen Form der Synthesis gehen, weil
wir uns auf die „sozialisierenden" Wirkungen der
ökonomischen Kategorien in der Reproduktion des
Alltagslebens konzentrieren wollen.
Es muß darauf
hingewiesen werden, daß Erikson den Begriff der
Ich-Identität in vereinseitigender Weise an den
durchaus schichtspezifischen Selbsterfahrungsmodi
von Intellektuellen oder zumindest „Gebildeten"
gewonnen hat, was etwa in seiner" Analyse der
Biographie von G. B. Shaw besonders deutlich wird.
(28) Darüber hinaus hat der Begriff durch seine
Aufnahme in den Sprachgebrauch der
phäno-menologischen Sozialpsychologie in der
Nachfolge von G. H. Mead eine kognitivisti-sche
Verengung und idealistische Verdünnung erfahren.
(29) Während bei Erikson zumindest noch versucht
wird, eine Verbindung zur Freudschen Libidotheorie
und Phasenlehre herzustellen, ist in der
phänomenologischen Sozialpsychologie die Seite der
kognitiven und sprachlichen Integration abstrakt
zum Gegenstand genommen worden. Hier müßte der
Begriff der Ich-Identität, wie er heute gebraucht
wird, ausgehend von der materialistischen
Sozialisationstheorie Lorenzers, eine kritische
Aufarbeitung erfahren, um die Verankerung der
kognitiven und sprachlichen
Synthetisierungsleistungen in den Prozessen der
Triebintegration wiederherzustellen. (30)
Obwohl diese Kritik
noch nicht geleistet ist, scheint es uns sinnvoll,
vorläufig mit dem Begriff der Ich-Identität zu
arbeiten. Daß — jenseits der elaborierten und auf
relativ hohe Konsistenz zielenden Synthetisierung
von Verhaltenselementen bei
Intellektuellen - ohne solche elementaren
Synthetisierungsleistungen der Reproduktionsprozeß
des individuellen Alltagslebens nicht funktionieren
kann, kann als einleuchtend vorausgesetzt werden.
So lassen sich die schizophrenen Phänomene, die ja
sozusagen ein Aussteigen aus der
Alltagswirklichkeit bedeuten, als ein
Zusammenbruch der einheitsstiftenden Kraft von
Ich-Identität beschreiben. Verlust von
Ich-Identität geht u. a. mit dem Verlust der
Fähigkeit einher, die Ich-Grenzen durch den Wechsel
des eigenen Verhaltens hindurch wahrzunehmen und
die inneren Impulse und Umweltreize getrennt zu
halten. Damit wird das elementare Vermögen, innere
Ansprüche und äußere Realität praktisch miteinander
zu vermitteln, gefährdet. (31)
Das systematisierende
Prinzip, unter dem im Folgenden die drei Phasen des
kapitalistischen Reproduktionsprozesses
durchgegangen werden, ist das Aufzeigen der
spezifischen Belastungen für die Erhaltung von
Ich-Identität, die von der Charaktermaske in
ihren sich mit dem Reproduktionsprozeß verändernden
Gestalten ausgeht. Dabei sollen vor allem die
widersprüchlichen Züge herausgearbeitet werden,
die den Verhaltenszwängen unter der Charaktermaske
anhaften. Der Bereich, auf den die Untersuchung
zielt, befindet sich sozusagen dort, wo die
Charaktermaske auf dem Gesicht der sinnlichen
Individuen aufliegt und als Formbestimmtheit in ihr
konkretes Sozialverhalten und ihre Selbst- und
Fremdwahrnehmung eingeht.
Die Betonung der
widersprüchlichen Belastungen, die von der
Charaktermaske ausgehen, beruht auf einem
bestimmten politischen Interesse. Wenn es, wie
Peter Brückner vermutet (32), stimmt, daß die
Verhaltenszumutungen der einzelnen Lebensbereiche,
etwa der Konsumtion und der Produktion, im
Spätkapitalismus in einem „tendenziell anomischen"
Verhältnis zueinander stehen — Produktionsaskese
auf der einen und „repressive Entsublimierung" auf
der anderen Seite —, so ist es sinnvoll, über die
Ebene der konkret-historisch in Erscheinung
tretenden „Wert-musterkonflikte" (Vester) hinaus zu
untersuchen, ob nicht schon den allerallge-meinsten
Verhaltensanforderungen unter der kapitalistischen
Charaktermaske eine tiefe Widersprüchlichkeit
innewohnt. Bestimmte Seiten dieser
widersprüchlichen Verhaltensstruktur gilt es in
politischen Lernprozessen hervorzutreiben und zur
Sprengung der Charaktermaske, deren Moment sie
zunächst noch sind, zu verwenden.
Anmerkungen
1)
Vgl. zu den folgenden Thesen vor allem: H.
Reichelt, Zur logischen Struktur des
Kapitalbegriffs bei Karl Marx, Ffm. 1970, und J.
Zeleny, Die Wissenschaftslogik bei Karl Marx, und
„Das Kapital", Ffm. 1969, S. 75 ff.
2) Kapital, Bd. 1, S. 86
3) Kapital, Bd. 1, S. 86
4) Ebenda, S. 168
5) Ebenda, S. 169
6) Kapital, Bd. 1, S. 169
7) Phänomenologie des
Geistes, ed. Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 20.
Unmittelbar im Anschluß an die gerade zitierte
Stelle aus dem Kapital bezieht sich Marx
explizit, wenn auch ironisch, auf den Hegeischen
Geistbegriff: „Statt Warenverhältnisse
darzustellen tritt (der Wert) jetzt in ein
Privatverhältnis zu sich selbst. Er unterscheidet
sich als ursprünglicher Wert von sich selbst als
Mehrwert, als Gott Vater von sich selbst als Gott
Sohn, und beide sind vom selben Alter und bilden
in der Tat nur eine Person, denn durch den
Mehrwert von 10 Pfd. St. werden die
vorgeschossenen 100 Pfd. St. Kapital, und sobald
sie dies geworfen, sobald der Sohn und durch den
Sohn der Vater erzeugt, verschwindet ihr
Unterschied wieder und beide sind Eins, 101 Pfd.
St." (S. 169 f.)
8)
Grundrisse, S. 942/943
9) Kapital, Bd. I, S. 209
10) Kapital, Bd. 1,S. 442
11) Vgl. S. 51 f. dieser Arbeit
12) Zur Vermengung beider Aspekte im Deutschen
Idealismus vgl. auch Alfred Schmidt, Der Begriff
der Natur in der Lehre von Karl Marx, Ffm. 1962,
S. 17 f.
13) Grundrisse, S. 61. Vgl. Adornos Polemik gegen
die vorschnelle Integration von Soziologie und
Psychologie. „Die Trennung von Soziologie und
Psychologie ist richtig und unrichtig zugleich.
Richtig, indem sie die den Verzicht auf die
Erkenntnis der Totalität giriert, die noch ihre
Trennung befiehlt; richtig, als sie den real
vollzogenen Bruch unversöhnlicher . registriert
als die vorschnelle Vereinigung im Begriff." (Zum
Verhältnis von Soziologie und Psychologie (1955),
in: Aufsätze zur Gesellschaftstheorie und
Methodologie Ffm 1970)
14) Vgl. S. 52 f. dieser Arbeit.
15) Grundrisse, S. 20 - Distribution und
Austausch sind nicht identisch, aber die
ökonomische Sphäre, in der sie wirken, ist
dieselbe: die Distributions- oder
Zirkulationssphäre. Im folgenden sprechen wir
deshalb nur noch von drei ökonomischen Sphären.
(Vgl. auch den „Exkurs" in Teil II.2 dieser
Arbeit)
16) Vom wichtigen Problem der unproduktiven
Schichten, die zwar in einem
Lohnarbeitsverhältnis stehen, aber ihre
Arbeitskraft nicht gegen Kapital tauschen,
sondern aus Revenue bzw. Steuergeldern
(abgeleiteter Revenue) bezahlt werden, muß hier
abstrahiert werden. Es könnte erst auf einer
höheren Konkretionsebene behandelt werden.
17) Zur Berechtigung dieser These vom
Nebeneinander beider Bereiche vgl. MEW 23, S. 597
18) Vgl. MEW 23, S. 16, 100 und 591
19) Nur auf die wenigen Rollentheoretiker, die,
wie etwa Popitz, als Rollen nicht die mehr oder
minder konstanten „Erwartungsbündel" der
Bezugsgruppen, sondern das faktische Verhalten
der einzelnen definieren, trifft das nicht zu.
Allerdings wird mit der positivisti-schen
Ausblendung des „Rollenverhältnisses", in dem
sich der einzelne mit der Rolle als einem seinen
Bedürfnissen Äußerlichem arrangieren muß, völlig
uneinsichtig, warum gerade die Rollenmetapher
zur Beschreibung von Verhaltensregelmäßigkeiten
herangezogen wird. Mit demselben Recht könnte man
dann auch das Verhalten von Reitpferden oder
dressierten Hunden als Rollenverhalten
bezeichnen. (Vgl. H. Popitz, Der Begriff der
sozialen Rolle als Element der soziologischen
Theorie, Tübingen 1967, S. 32 f.)
20) Vgl. anschaulich die Anfangsszenen von
Brechts Film „Kuhle Wampe"
21) Zur Dreiteilung der Konkurrenz vgl. Karl
Marx, Lohnarbeit und Kapital, Berlin o. J. S. 28
22) Vgl. R. Dahrendorf, Homo sociologicus,
Köln/Opladen 1971, S. 27 und zur Kritik J.
Matzner, 23) Der Begriff der Charaktermaske bei
Karl Marx, in: Soziale Welt, Jg. 15, 1964, S. 130
ff.
Vgl. erstaunlicherweise auch A. v. Cicourel,
Method and Measurement in Sociology, New York
1964, S. 194
24) Die Rede vom
akkumulierenden Kapital bleibt hier abstrakt. Das
Problem der gesellschaftlichen Synthesis
konkretisiert sich erst als das Verhältnis von
Gesamtkapital und Einzelkapitalien, die in
beständiger Repulsion und Attraktion das
Gesamtkapital konstituieren. Vgl. R. Rosdolsky,
Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen
„Kapital", Ffm. 1968, Bd. 1, S. 61 ff.
25) Zur
„compartmentalization" in der Rollentheorie vgl.
E. Goffmann, Role-Distance, in: Encounters,
Indianapolis 1961, S. 85 ff.
26) E. H. Erikson,
Ich-Identität und Lebenszyklus, Ffm. 1966, S. 18;
wichtig scheint mir Habermas' Bemerkung, daß „die
Grunderfahrung der Reflexionsphilosophie (...)
die Erfahrung de;Ich-Identität in der
Selbstreflexion"sei. Technik und Wissenschaft als
„Ideologie", Ffm. 1968, S. 12
27) Erikson, a.a.O., S.
124
28) Erikson, a. a. O., S.
125 ff
29) Vgl. als
abschreckendes Beispiel: A. Stauss, Mirrors and
Masks. The Search for Identy, Glencoe 1959 und
zur Kritik: J. Habermas, Zur Logik der
Sozialwissenschaften, Ffm. 1971, S. 290 ff.
30) Als Überblick über die
Theorien, die sich mit dem Problem der
Ich-Identität befassen und zum emanzipativen
Anspruch einer Theorie der Ich-Identität vgl. L.
Krappmann, Soziologische Dimensionen der
Identität, Stuttgart 1969
31) zum Erscheinungsbild
verlorener Ich-Grenzen vgl. Th. Freeman et. al.,
Studie zur chronischen Schizophrenie, Ffm. 1969.
Zur Ätiologie der Unfähigkeit, widersprüchliche
Verhaltenselemente zu synthetisieren vgl. die
„double-bind-Hypothese", die sich mehrfach
formuliert findet in: Bateson u. a.,
Schizophrenie und Familie, Ffm. 1969
32) Vgl. Brückner, Zur
Sozialpsychologie des Kapitalismus, Ffm. 1972 und
M. Vester, Die Entstehung des Proletariats als
Lernprozeß, Ffm. 1970
Editorischer Hinweis
Der
Text wurde entnommen aus:
Klaus Ottomeyer, Soziales Verhalten und Ökonomie
im Kapitalismus, Vorüberlegungen zur
systematischen Vermittlung von
Interaktionstheorie und Kritik der politischen
Ökonomie, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage
von 1974, Göttingen 1976, S.76-87
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