Ekel und Emanzipation
Vom Gutmenschen zum Zyniker

von
Martin Gohlke

11/2016

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"Weitermachen!", steht auf Herbert Marcuses Grabstein geschrieben. Womit gesagt ist, dass das nicht selbstverständlich ist.

1. Daseinsekel und Weltekel

Dass Ekel nicht angeboren, sondern durch Sozialisation erworben, "kulturell bedingt und pädagogisch  vermittelt" ist (Lothar Penning, S. 2), schien Konsens. 2004 präsentierte der Wissenschaftler Val Curtis die These, dass Ekel keine Lernerfahrung, sondern genetisch bedingt sei. In Bezug auf den Daseinsekel und den damit verwandten Weltekel dürfte das auszuschließen sein.

Für den Daseinsekel steht das literarische Hauptwerk des Existenzialismus aus der Feder von Jean-Paul Sartre. Im 1938 erschienenem Roman "Der Ekel" spürt die Hauptfigur tiefe Abneigung gegen die Sinnlosigkeit und Ungewissheit jeglicher Existenz; der Protagonist sieht seine Nichtigkeit erschütternd klar vor Augen. Für Sartre wie auch für die Psychologen, die den Protagonisten des Buches analysierten, verband sich hinter den Empfindungen Melancholie. In psychologischer Sicht wird darunter krankhafte Trauer und in existenzanalytischer Sicht die Entfremdung des Menschen von anderen und von sich selbst verstanden. Der Begriff der Selbstentfremdung umfasst im Verständnis der Kritischen Theorie ein Dasein als Waren- und Konsumsubjekt, das als alternativlos und natürlich angesehen wird. Eine Opposition erscheint als irrsinnig – eine "geistige und gefühlsmäßige Weigerung 'mitzumachen' als neurotisch" (Herbert Marcuse, S. 29).

Mit der relativen Etablierung der Kritik "falscher Bedürfnisse" und "falschen Bewusstseins" im Zuge der 68er-Bewegung verlor der Daseinsekel in Deutschland seine Absonderlichkeit. Die Sympathie für Menschen, die den Daseinsekel in ihre Außendarstellung integrieren, wurde gesellschaftsfähig. Exemplarisch dafür stehen die Verliebtheit in die Bohème sowie die innere Verneigung vor Obdachlosen. Hinter dieser Zuneigung steht die Ahnung, dass der Preis für das eigene Funktionieren als Warensubjekt hoch ist.

Stärker als der Daseinsekel ist der Weltekel von gesellschaftlichen Gegebenheiten geprägt. Ein alltagsrelevantes, tendentiell paranoides Gefühl der Verlassenheit und Zerrissenheit im modernen Dasein kann sich dadurch erklären, dass mit der "Entzauberung der Welt" (Max Weber) die fundamental-ontologischen und metaphysischen Fragen weniger denn je Wahrheit beanspruchende und somit  Identitätsbildung erleichternde Antworten erhalten können. Die Abscheu gegen die Welt erklärt sich  insbesondere darüber, dass die Unmöglichkeit einer Politisierung des von Marx dargelegten Fetischcharakters der Warengesellschaft sowie die von Adorno und Horkheimer betonte misslungene Ablösung des Menschen von der Natur eine Verbesserung der Welt als Illusion erscheinen lassen. Da Weltekel nur schwer einen Bogen um radikale Gesellschaftskritik machen kann, verhält sich das bürgerliche Subjekt reservierter als beim Daseinsekel gegenüber Menschen, die ihren Ekel nicht abspalten – wer seine Aversion gegen die moderne Welt zeigt und somit ganz "für sich selbst" (griechisch: ein Idiot) bleibt, wird zum Außenseiter.


2. Emanzipation

Der Begriff der Emanzipation kann nur im Kontext der reflektierten wie aber auch traditionellen Linken gedacht werden. Der Begriff der Emanzipation ist Eigentum der Linken, denn er steht in einer Deutlichkeit für die Befreiung von Abhängigkeiten und für soziale, politische und geschlechtliche Gleichberechtigung, wie sie von politischen Orientierungen, die Marktwirtschaft und Sphärentrennung in Lohnarbeit und Leben zu überhistorischen gesellschaftlichen Formprinzipien erklären, nicht geteilt werden.

Auch wenn schon Marx mit dem Begriff der Emanzipation dachte, so zog der Begriff vorerst sparsam in den Sprachgebrauch der Linken ein. Sozialismus und Kommunismus erschienen als die passenderen Wörter, wenn man radikalen Veränderungsvorstellungen einen Namen geben wollte. Mit dem Verlust ihrer Unschuld gingen die beiden Wörter nicht mehr leicht über die Lippen und der Begriff der Emanzipation erlebte in der politischen Agitations- und Debattenkultur eine Aufwertung. Zurzeit der Weimarer Republik war es in den wenigen linksakademischen Kreisen und in den zaghaft undogmatischen Abspaltungen der traditionellen Linken etabliert, mit den Wörtern Sozialismus und Kommunismus behutsamer umzugehen und als Ersatz dafür den Begriff der Emanzipation zu verwenden, wenn auch vorzugsweise in einem herkömmlichen Rahmen, indem man beispielsweise von der "Emanzipation der Arbeiterklasse" sprach.

Konjunktur erhielt "Emanzipation" nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt durch die zweite Welle der Frauenbewegung. Zur Hochkonjunktur kam es mit der 68er-Bewegung, deren "Kritische Theorie" mit dem Begriff geradezu inflationär arbeitete. Auf einem relativ hohen Level bewegt sich die Verwendung des Begriffs in der reflektierten Linken bis heute. "Emanzipatorische Linke", "Emanzipation und Frieden", "emanzipatorische Bewegungen" oder "emanzipatorische Politik" stehen stellvertretend für eine Vielzahl von sprachlichen Konstruktionen, die sich des Begriffs der Emanzipation bedienen.

Wie der Wiener Publizist Franz Schandl es schon für die Wörter Ganzheitlichkeit und Nachhaltigkeit  dachte, kann der reflektierte Linke auch Emanzipation als ein affirmatives "Juhu-Wort" erfassen, dessen mögliche Verwertung für relativistische Denkmuster des "ideologisch verwahrlosten postmodernen Subjekts" (Daniel Späth) das Gefühl des Weltekels steigern kann. Eine solch negative Wahrnehmung von "Emanzipation" korreliert mit einem Begriffsempfinden, das Emanzipation als den noch übrig gebliebenen gemeinsamen sprachlichen Nenner definiert, wenn die Linke nach einem Ausdruck sucht, der den Gedanken an die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft wachhält (Marcuse).

3. Emanzipation und Weltekel

Je weniger man ein Leben als Konkurrenzsubjekt als scheinbar unabänderliche Normalität hinzunehmen vermag und je mehr man sich der Emanzipation seines Selbst verbunden fühlt, desto deutlicher kann man mit dem Gefühl des Weltekels in Kontakt kommen. Ob diese Ekelform zu einem schwerer wiegenden Problem mit der Folge von Misanthropie oder Zynismus werden kann, ist auch von der frei zur Verfügung stehenden Zeit abhängig. Denn Muße kann nicht nur Seinsfragen ins Bewusstsein drängen, sondern auch daran anschlussfähige weltliche Erwägungen, auch wenn allein eine eingehende Aufnahme fetischisierter Vergesellschaftungsformen und tierischer menschlicher Verhaltensweisen nicht in den Ekel führt. Es muss mehr passieren.

Der reflektierte Linke muss die Erfahrung machen, dass problematische gesellschaftliche Verhältnisse auch von deren emanzipatorischen Gegnern reproduziert werden und dass auch diese sich wie Tiere verhalten können. Er muss diesbezüglich in herrschaftskritischen Verbindungen, wie beispielsweise einer Kommune oder einem Alternativbetrieb oder in anspruchsvollen, traditionellen arbeitsgesellschaftlichen Zusammenhängen ausgesprochen oft enttäuscht worden sein – und zwar in solch hohem Maße, dass die Frustration auch auf seinen Verhaltenskodex negativ wirkt, ob lediglich selektiv und für die Außenwelt kaum wahrnehmbar oder ihn neu konstituierend, wobei er zu einem anderen Menschen, und zwar nicht zum Paulus, sondern zum Saulus werden kann. Gerade wenn er sich den Gutmenschen in jungen Jahren nicht hat antrainieren müssen, wenn der Gutmensch sozusagen in ihm war und ihn wie von selbst zur Menschlichkeit hatte antreiben können, gerade dann, wenn ihm das optimistische Menschenbild selbstverständlich war, dass der Mensch ein "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" (Karl Marx), ein Produkt seiner gesellschaftlich bedingten Kindheitserfahrungen (materialistische Freudianer) und der Hobbes'sche Wolfsmensch lediglich eine wirtschaftsliberale Konstruktion ist, die legitimiert, dass auf dem Prinzip der Konkurrenz aufgebaute ökonomische Strukturen die Menschen gegeneinander aufhetzt – gerade dann kann er, sofern seine Resilienz  aufgebraucht ist, beim Erleiden von zwischenmenschlichen Abgründen in betont anspruchsvollen  sozialen Zusammenhängen mit dem Weltekel in Kontakt kommen. Erst recht, wenn dies von entsprechenden Erfahrungen in anspruchsloseren Orten flankiert und nicht von gegenteiligen Erfahrungen in der Liebe relativiert wird.

Auch eine zu intensive Aufnahme von stets wiederkehrenden Diskussionen kann den Weltekel zum Daseinsbegleiter machen. So kann jemanden die Beobachtung der seit 1899 im linken Blätterwald immer wieder aufs Neue diskutierten Frage nach "Reform oder Revolution" den nihilistischen Gehalt von Nietzsches "ewiger Wiederkehr des Gleichen" spüren lassen. Ähnliches kann auch eine erschöpfende Aufarbeitung, dass Revolutionen ihre Kinder fressen, zur Folge haben – jedenfalls wenn man sich dabei von der Empathie und nicht von der Kritischen Vernunft leiten lässt. Auch Opportunismus hat das Potential, ekelerregend zu wirken, wenn beispielsweise ein sich als widerspenstig darstellender Mensch im beruflichen Kontakt mit den Sonntagsgefühlen von bewusstlosen Protagonisten einer selbstzweckhaften Arbeitsgesellschaft zum Staatsbürger in Potenz mutiert. Wird das in abgewandelter Form auch bei einem selbst beobachtet, konstituiert sich der Weltekel über den Selbstekel. Der "Ekel an der Verschwendung", von Marcuse konstatiert und angesichts der Möglichkeit irreversibler ökologischer Katastrophen mehr als je zu ertragen, macht auch nicht fröhlicher. Fehlt bei alledem  jeder transzendentale Rückhalt, kann dem Reflektierenden irgendwann die Polemik, dass wir alles kleine Eichmänner sind (Peter Klein), in unheimlicher Weise wahrhaftig und ihm infolgedessen übel werden. Der Weltekel kann sich dann verselbstständigen und zum zeitweisen oder gar dauerhaften Bestandteil der Persönlichkeit werden. Er wird steter Teil der immer mehr als Belastung und immer weniger als Mittel der Entfaltung erfahrenen eigenen Reflexionsmaschine – dieser hoch vernetzten Gedankenmaschine, die sich nicht einfach per Beschluss abschalten lässt.

Sofern man ein hohes Bewusstsein über die gesellschaftlichen Verblendungszusammenhänge und  einen kritischen Blick auf den Rationalitätsbegriff der Aufklärung, der einer Verzweckung des Daseins wie auch dem Kapital als "automatischem Subjekt" (Marx) den Weg erleichterte, für unabdingbar für eine emanzipatorische Entwicklung hält, kann auch der Tatbestand der diesbezüglichen allgemeinen  Bewusstlosigkeit ein Moment des Weltekels sein. Als wirkungsmächtig kann sich außerdem die zuweilen umgedrehte Hierarchie der Arbeitsgesellschaft erweisen, die den nicht selten dort prekär beschäftigten reflektierten Linken beruflich unter seinen Möglichkeiten bleiben lässt. Lebt er bewusst weitgehend "im Verborgenen" (Epikur) oder im Sinne von Marcuses "Großer Verweigerung", ist ihm die Nicht-Zugehörigkeit zur Funktionselite nur recht, denn deren zuweilen wichtigste Arbeitsleistung, sich verhalten zu können, möchte er gar nicht als einen Schwerpunkt seiner Ich-Aufstellung leisten  müssen. Lebt er jedoch beruflich ehrgeizig – ideologisch womöglich flankiert vom Kollektivbewusstsein über Dutschkes "langen Marsch durch die Institutionen" – wird ihn der Ausschluss von der Funktionselite zu schaffen machen.

Es muss also etwas zusammenkommen, wenn Weltekel manifest werden soll. Wie kann man die Frustrationen ertragen und in emanzipatorischer Absicht "weitermachen" wollen? Humor ist seit  Hermann Hesses Steppenwolf ein gern gegebener Tipp, der vorrübergehend als Placebo wirkt. Meditation ist eine andere Möglichkeit, sofern sie dazu verhelfen mag, andere Sichtweisen auf den Menschen zu erhalten. Jedoch erfassen beide Vorschläge die Persönlichkeit des reflektierten Linken nur  unzureichend, denn er benötigt ein geistiges Unterpfand – anders als das postmoderne Subjekt braucht er ein gedankliches Angebot, sonst findet er seine Ruhe nicht.

4. Albert Camus

Weltekel und das Gefühl von Sinnlosigkeit sind eng miteinander verzahnt. Albert Camus gab in Bezug  auf den Umgang mit Sinnlosigkeit eine metaphysische Offerte.

Der reflektierte Linke kann Melancholie, Angst und Langeweile nicht nur in Bezug auf die gesellschaftlichen Verhältnisse einordnen, sondern ihnen auch eine davon unabhängige Problematisierungswürdigkeit geben. In allen drei Regungen wird das Absurde spürbar, das aus der Diskrepanz zwischen Sein und Wollen entsteht. Timotheus Schneidegger unterscheidet in Camus' Werk zwei Arten des Absurden: Zum einen entspringe es aus dem Missverhältnis zwischen Mensch und seiner natürlichen Umwelt, einer Umwelt, die den Hunger des Menschen nach Sinn nicht stillen kann, sondern ihn stattdessen zum Tode verurteilt. Zum anderen zeige sich die Schere zwischen Sein und Wollen in den von den Menschen gemachten gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Welt soll geordnet und ohne allzu große Mühe durchschaubar sein, frei und gerecht. Die Wirklichkeit ist bekanntlich anders.

Schneidegger findet in Camus' Werk also einen "Willen zum Sinn" und einen "Willen zu einer harmonischen Menschenwelt" als anthropologische Konstanten. Zumindest Letzteres kann aus materialistischer Perspektive untermauert werden, sofern es richtig ist, dass das "Denken wie andere Prozesse in der Psyche auf [...] Harmonie orientiert ist" (Meinhardt Creydt, S. 125).

Mit dem vorausgesetzten "Willen zum Sinn" sieht Camus das Agieren der Subjekte in den gesellschaftlichen Verhältnissen in Abhängigkeit von der Sinnsuche bzw. in der von ihm konstatierten Sinnlosigkeit. Das Absurde der Existenz, also dass das Leben die Sehnsucht nach Sinn nicht stillen kann, sei für den Menschen eine Demütigung. Darüber ist der Mensch empört. Seine Arten, damit umzugehen, zentrieren sich um zwei Haltungen: Entweder negiert er das Absurde oder er begehrt gegen  das Absurde auf.

Nach Camus mache man sich etwas vor, wenn man das Absurde negiert und einen Sinn zu konstruieren versucht. Camus nennt das den "Sprung" – den Versuch, dem demütigenden Schicksal der unvermeidlichen eigenen körperlichen wie seelischen Auslöschung mit Hilfe einer Art "Durchbruchstrategie" zu entkommen. Das kann zum Beispiel über die Aneignung eines analytischen Begriffsgebäudes geschehen, sofern dessen Aufnahme nicht nur der Erklärung komplizierter gesellschaftlicher Gegebenheiten, sondern darüber hinaus dem identitären Zweck der Abspaltung der metaphysischen Ich-Anteile dient. Diese Komplexitätsreduzierung der eigenen Existenz wirke erlösend; die demütigende Sinnlosigkeit und damit die eigene Nichtigkeit scheint aufgehoben. Philosophisch bedeutet  dieser Selbstbetrug für Camus Selbstmord, da er die Kapitulation vor dem Absurden darstellt. Diese Verleugnung begünstigt den Sprung in den Nihilismus, eine Denkform, die zu unerbittlichen Standpunkten und damit zu einem politischen Zynismus führen kann, der leicht Gewaltherrschaft zu rechtfertigen weiß.

Das Absurde der menschlichen Existenz erschwere die Klärung von Gut und Böse – die Sinnlosigkeit macht die Aufstellung moralischer Grundsätze diffizil. Für Camus benötigt man ein "Aufbegehren  gegen das Absurde", um Moral setzen zu können. Dafür denkt Camus mit den beiden Begriffen "Revolte" und "metaphysische Ehre". Den Begriff der Revolte verwendet er "als Metapher einer Ethik, die einen metaphysischen Kern und lebenspraktische wie politische Konsequenzen hat" (Schneidegger). Der metaphysische Kern besteht darin, das Absurde der menschlichen Existenz mit einem erheblichen Schuss Pathos anzunehmen und sich dagegen aufzulehnen. Die lebenspraktischen wie  politischen Konsequenzen aus Camus' Konzept der "Revolte" existieren sowohl in einem aus der Wahrhaftigkeit der metaphysischen Ehre abgeleiteten Anspruch auf einen "humanitären Imperativ" (Angela Merkels Begründung der Öffnung der Grenzen für Flüchtende) wie auch in der Ablehnung  extremer Radikalität, denn im Extremismus zeige sich lediglich der "Sprung" als der unbewusste wie verzweifelte Versuch, ungeliebten Regungen wie Melancholie, Angst und Langeweile sowie dem Absurden entfliehen zu können.

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Ist "Ekel an und in der Emanzipation" ein enttäuschter "Sprung"? Sofern die Vorstellungen der gesellschaftlichen Emanzipation und der Kampfgeist für entsprechende Veränderungen von einem Leiden am bzw. einer Verdrängung am Absurden angetrieben werden, ist das denkbar. Dabei ist die Frage, ob es sich um eine von vielen, gleichwertigen Antriebskräften handelt oder ob die Verdrängung vorherrscht. Zumindest bei Letzterem käme es darauf an, sich dieser Antriebskräfte bewusst zu werden, wenn gesellschaftliches Unheil oder persönliche Tragik vermieden werden sollen.

Jeder bürgerliche Materialismus wird die dem "Sprung" vorausgesetzte Sinnlosigkeit verwerfen; eher wird er auf die von ihm ebenfalls wenig geliebte Individual-Psychologie zurückgreifen und im Fall  eines Leidens an den Grundbedingungen der menschlichen Existenz Pathologisches vermuten, als  sich vom Nachdenken über Ekel und Sinnlosigkeit bereichert zu fühlen.

Es scheint in der Tat schwer, dem Begriff der Sinnlosigkeit mehr als die Beschreibung einer persönlichen Empfindung ohne besondere gesellschaftliche Tragweite zukommen zu lassen. Sofern man selbst nicht schon existentiell mit dem Gefühl der Sinnlosigkeit zu tun gehabt hat, kann man ihre das Individuum quälende und die Gesellschaft mit-konstituierende, sozusagen nicht-metaphysische Bedeutung schwer erkennen. Es ist ähnlich wie mit der Religion: Die Illusion einer persönlichen Gotteserfahrung macht einem ein Leben lang gegen jeden Zweifel an seinem Glauben immun; wer selbiges nicht erfährt, kann dagegen mit dem Zweifel sehr wohl in Kontakt kommen und erlebt dabei womöglich den bekannten Wandel vom Theologen zum Philosophen.

Literatur

Meinhardt Creydt, Der bürgerliche Materialismus und seine Gegenspieler, zitiert nach: Petra Ziegler, Was  kommt an?, in: Streifzüge 66, 2016.

Val Curtis, http://www.bbc.co.uk/science/humanbody/mind/articles/emotions/disgust.shtml.  Abgerufen am 15.4.2016.

Alice Holzhey-Kunz: Leiden am Dasein. Die Daseinsanalyse und die Aufgabe einer Hermeneutik psychopathologischer Phänomene, Wien 1994.

Peter Klein, Eichmann, das sind wir alle, in: Streifzüge 43, 2008.

Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Springe 2014.

Lothar Penning, Kulturgeschichtliche und sozialwissenschaftliche Aspekte des Ekels. Universität Mainz, 1984 (Dissertation).

Jean Paul Sartre, Der Ekel, Hamburg 552012.

Daniel Späth, Die Dialektik des Triebs in der Postmoderne, 2014, exit-online.org.

Timotheus Schneidegger, Metaphysik und Revolution, in: Lichtwolf: Die erste Dekade, S. 235-240, 2012.

Editorischer Hinweis

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.

Bei TREND erschien von Martin Gohlke