Betrieb & Gewerkschaft
Martin Gohlke
Kontext im Klartext
Gewerkschaftliche Bildungsarbeit angesichts der Normalität prekärer Arbeitsverhältnisse

Vortrag auf der Tagung "Alte Fundamente und neue Orientierungen in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit" des DGB-Bildungswerks vom 03./04. September 2014 in Hattingen.

12-2014

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Politische Bedeutung der Prekarität für die Bildungsarbeit

Wenn ich im Titel des Referats von der Normalität prekärer Arbeitsverhältnisse spreche, so begründet sich das auf zwei Beobachtungen.

Zum einen ist der prozentuale Anteil der prekären Arbeitsverhältnisse zu nennen. 35-40 Prozent aller Erwerbstätigen arbeiten mit keinen oder eingeschränkten Arbeitnehmerrechten, können von ihrem Lohn nicht ihre wirtschaftliche Existenz sichern oder sind nicht in das übliche soziale Netz eingebunden.

Zum anderen wird die Normalität der prekären Arbeitsverhältnisse auch deutlich, wenn man sie an die Aussage knüpft, mit welcher der Gewerkschafter und Soziologe Pierre Bourdieu vor 15 Jahren eine alsbald berühmt gewordene Rede überschrieb; eine Rede, die eine Art Resümee seiner bald zehnjährigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit den prekären Arbeitsverhältnissen in Frankreich darstellte, wo die Prekarität bereits seit den späten 1980er Jahren Massenerscheinung geworden war. "Prekarität ist überall" titulierte Bourdieu seinen Vortrag, was er in erster Linie so verstanden haben wollte, dass sie auch die scheinbar von Prekarität und Arbeitslosigkeit Verschonten betrifft. Oft müssen sie befürchten, sich irgendwann selbst in prekären Arbeitsverhältnissen verdingen und somit in einer neuen Qualität mit Zukunftsunsicherheit und unsicherer Lebensplanung auseinandersetzen zu müssen.

Bourdieus Rede - gehalten übrigens vor 1.000 Akademikern und 1.000 Gewerkschaftern in den Räumen der ehrwürdigen Pariser Universität Sorbonne - war eine Abrechnung mit einem Kapitalismus, der für seine Generation von Gewerkschaftern unerträglich war, denn ihre ganze Tatkraft hatten sie dafür verwertet, den Kapitalismus so zu gestalten, dass er von vielen Lohnabhängigen als erträglich empfunden werden und dass er sich im geographischen und historischen Vergleich sehen lassen konnte. Die von Bourdieu erlebte, fordistisch geprägte Phase des Kapitalismus hatte mit seiner unaufhaltsam steigenden Wertproduktion viel Partizipation der abhängig Beschäftigten möglich gemacht; in Deutschland waren mit der ersten Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes 1971/72 alle Forderungen der Arbeiterbewegung aus dem 19. Jahrhundert und der Novemberrevolution erfüllt, jedenfalls wenn man weiß, dass die Lohnabhängigen die Gleichheit als Staatsbürger und die Gleichheit als Warensubjekt zu ihrem Ziel erklärt hatten und nicht eine von Grund auf andere, nicht-kapitalistische Gesellschaft.

Für Bourdieu und andere brach eine Welt zusammen, als sich die Erfahrung eines "funktionierenden Kapitalismus" nicht verstetigen ließ und mit den prekären Arbeitsverhältnissen ein Dasein in den ökonomischen Beziehungen einzog, das erschreckend an frühere Zeiten erinnerte und darüber hinaus im völligen Kontrast zu den Möglichkeiten von stofflich immer reicheren Gesellschaften stand. Pierre Bourdieu wollte den Sozialstaat, und zwar in dessen blühender Form, von den Gewerkschaften mit Zähen und Klauen verteidigt sehen; dabei glaubte er an die Möglichkeit dieses Ziel über eine Änderung der politischen Mehrheitsverhältnisse erreichen zu können. Somit thematisierte Bourdieu m.E. nicht ausdrücklich, dass die Probleme tiefer liegen, dass sich mit den verselbständigenden Rationalisierungswellen in der wertschöpfenden Industrie, in dessen Folge seit der mikroelektronischen Revolution stets mehr Mehrwert generierende Arbeitsplätze wegbrechen als anderorts neu geschaffen werden können, die Arbeitsgesellschaft mit fundamentalen Problemen in Kontakt kommt; Probleme, mit denen sie bis heute nicht so richtig etwas zu tun haben will.

Da die Prekarität die Arbeitswelten und auch die Sphäre der Reproduktion immens verändert hat, ist es selbstredend, dass die damit zusammenhängenden Themenfelder in die gewerkschaftliche Bildungsarbeit integriert werden.

Prekarität als Paradoxon für die Bildungsarbeit

Wer nimmt an den gewerkschaftlich veranstalteten Bildungsurlaubswochen teil? Etwa die prekär Beschäftigten?

Ausgesprochen selten. Das Recht auf Bildungsurlaub durchzusetzen, erfordert selbst bei Inhabern von Normalarbeitsplätzen oft viel Hartnäckigkeit. Zuweilen relativ unkompliziert kann ein Bildungsurlaub im öffentlichen Dienst und in Großbetrieben wahrgenommen werden. In Klein- und Mittelbetrieben ist die Teilnahme nur schwer zu verwirklichen; dort besteht ein Arbeitnehmer in der Regel nur dann auf sein Recht, wenn er sich alsbald gekündigt sehen will. Noch unwahrscheinlicher ist es, dass ein prekär Beschäftigter die Mühen auf sich nimmt, sich über sein Recht zur Teilnahme an Bildungsurlaubsseminaren zu erkundigen, geschweige denn es durchzusetzen.

Wer leitet die gewerkschaftlich organisierten Bildungsurlaube? Etwa die Inhaber von Normalarbeitsplätzen?

Ebenfalls kann geantwortet werden: Ausgesprochen selten. Zwar nennt sich ein Seminarleiter in der gewerkschaftlichen Weiterbildung oft freiberuflich oder selbstständig, aber diese Begriffe suggerieren einen sozialen Status, dem die Realität oft nicht entspricht. Denn Teamende haben keinerlei Arbeitnehmerrechte; darüber hinaus beziehen sie - nicht zuletzt dank zuweilen ausgesprochen engagierter Bildungsplaner - zwar keinen Niedriglohn, aber ihre wechselvolle Auftragslage macht ihre Tätigkeit nicht mit traditionellen Berufen, in denen Selbstständigkeit vorherrscht, vergleichbar. Sie erfahren beruflich das permanente Gefühl von Unsicherheit, also einen Zustand, der nach den Kriterien von Bourdieu ganz unzweifelhaft ein Kriterium für Prekarität ist.

Der Tatbestand, dass prekär arbeitende Teamende mit fest angestellten Arbeitnehmern zu Fragen der Prekarität arbeiten, ist paradox. Das Paradoxon macht die Seminare aber nicht, wie man denken könnte, zu einer skurrilen Veranstaltung, denn die Prekarität ist ja - wie uns Bourdieu mitteilte - überall, eben auch bei vielen Inhabern von Normalarbeitsplätzen in der Form von Abstiegsängsten in Potenz. Und genau diese Beobachtung von Bourdieu kann ich mittlerweile nach vielen Seminarerfahrungen ausdrücklich bestätigen: Auch meine, im Wesentlichen sich in Normalarbeitsplätzen verdingenden Seminarteilnehmer erleben das Thema der Prekarität ausdrücklich als ihre eigene Angelegenheit, wobei ihre Sorgen sich nicht zuletzt über Berichte von prekär Beschäftigten aus ihren eigenen sozialen Zusammenhängen begründen.

Prekarität und der Anspruch der Totalität

Auch beim Thema Prekarität muss der Teamende eine Menge Vorentscheidungen treffen, sofern er seine Bildungsarbeit am von Oscar Negt formulierten Anspruch reibt, am exemplarischen Wissen soziologisch phantasievoll die Totalität zu vermitteln.

Sich in der Totalität angesichts der Komplexität der Verhältnisse zu üben, hat immer etwas Kühnes. Die "Allheit des Vielen in Einem" in kritisch-theoretischer Absicht zusammenzufassen, kann bei dem Thema der Prekarität und eines Klientel, dessen Lebenswirklichkeiten ganz entschieden von sozialen Interessensauseinandersetzungen geprägt sind, m.E. gut in Bezugnahme auf die entscheidenden Basiskategorien der Warengesellschaft, also auf Arbeit, Geld und Ware, gewährleistet werden. Arbeit als Lohnarbeit und somit auch prekäre Arbeit ist nichts, was immer existierte, sie ist von Menschen erdacht und gemacht und sie ist damit im Hegelschen Sinn aufhebbar. Eine so kategorische Bestimmung als nützliches Wissen für unsere Vertrauensleute und Betriebsräte ansehen zu können, ist ein Ergebnis meiner Bildungsarbeit. Im konkreten Interessenskampf stützt das Bewusstsein von der Veränderbarkeit scheinbarer Selbstverständlichkeiten - stützt ein so gefüllter ganzer Blick aus der Totalität - das Selbstbewusstsein der Arbeitnehmer-Interessenvertreter, wenn sie sich wieder einmal mit einem Gefühl der Ohnmacht mit diversen Sachzwängen und Kompromissen auseinandersetzen und mit ihnen leben müssen.

Der Verzicht auf die Totalität und damit der Verzicht auf die Vermittlung von nützlichen abstrakten Wissen kann keine Schwerpunkte im Denken setzen und damit auch wenig zu dem von uns zu Recht als axiomatisch gesetzten Ziel der Stärkung der Handlungsfähigkeit der Kolleginnen und Kollegen beitragen. Der Verzicht auf die Totalität öffnet m.E. der Beliebigkeit, der Desorientierung und einer für den kollektiven Interessenkampf unangebrachten, überzogenen Individualisierung Tür und Tor, die im Seminarbetrieb zuweilen nur mit Hilfe eines inflationären Methodenwechsels, der vom geringen Wissens- und Problematisierungsniveau ablenkt, friedlich durch die Woche gebracht werden kann.

Die Kunst besteht darin, dass die Teilnehmenden sich selbst zur Totalität führen. Mittel dafür sind verschiedene Methoden; ein erfolgreicher Abschluss einer Seminareinheit zeigt sich oft über einen sokratisch geführten Dialog des Seminarleiters mit den Teilnehmenden im Plenum, in welchem die entscheidenden Totalitäten gemeinsam visualisiert und somit nach Möglichkeit bleibend festgehalten werden.

Beispiel einer Seminareinheit zur Prekarität

Im Seminarbetrieb benötigt das Thema Prekarität ein bis eineinhalb Tage Zeit. Entsprechend dem Selbstverständnis der Soziologischen Phantasie von einer empathischen Aufnahme des Seminargeschehens kann sich die Anwendung ungeahnter und auch neuer, aus dem Bauch heraus entwickelter Methoden als sinnvoll erweisen, die ich im Folgenden aber nicht darlege. Erfahren wir meine Konzeption stattdessen in idealtypischer Konstruktion.

1. Ich gebe visualisiert Input zur wissenschaftlichen Definition des Begriffs der prekären Arbeitsverhältnisse. Dabei geht es nicht um Einzelheiten, lediglich der gemeinsame Nenner aller prekären Arbeitsverhältnisse kommt zur Sprache.

2. Gut orientiert durch die allgemeine Begriffsbestimmung gehen die Teilnehmer im Plenum der Frage nach, welche prekären Arbeitsverhältnisse ihnen bekannt sind.

3. Mein Clustern führt zur von den Sozialwissenschaften favorisierten Einteilung der prekären Arbeitsverhältnisse in die fünf Großgruppen Arbeitnehmerüberlassung, Befristete Arbeitsverhältnisse, Geringfügige Beschäftigung, Teilzeitarbeit und Niedriglöhner.

4. Die Teilnehmer arbeiten zu zweit über ein oder mehrere prekäre Arbeitsverhältnisse mit Hilfe des Internets. Dabei entscheiden sie sich in der Regel für diejenige Form der Prekarität, mit der sie mittelbare oder unmittelbare Erfahrungen haben. Im Vorfeld klären Sie ausgiebig ihre Fragen.

5. Bei der Vorstellung der Arbeitsergebnisse im Plenum werden von den Teilnehmenden mehr als lediglich positivistisch dargelegte Informationen über Zahlen und Fakten gegeben, denn der Horizont der Gruppe hat sich zu diesem Zeitpunkt längst geöffnet. Immer wieder hatte ich als Totalitätssteuerung die Anwesenden für die Frage nach den eigentlichen Möglichkeiten sensibilisiert; von dem Kriterium der Möglichkeiten inspirierte Fragen steuern das Denken stets in Richtung Totalität und Emanzipation, denn sie führen zu einer selbstbewussten Haltung gegenüber den sogenannten Sachzwängen.

6. Es werden fünf kurze, prägnante, bewegende Absätze der Rede von Pierre Bourdieu "Prekarität ist überall!" vorgelesen. Dabei führt eine einfache, alte Methode dazu, dass die ernsthafte Stimmung nun intellektuelle Energien freisetzt, die verschiedene Teilnehmende sich diesbezüglich kaum wiedererkennen lässt, eine Erfahrung, die sie natürlich stärkt. Jeder Absatz wird laut vorgelesen, jeder kreuzt dabei das seines Erachtens wichtigste Wort an; es kommt infolge der materialistischen Textgrundlage und der bisherigen Arbeitseinheiten ganz selbstverständlich zu einem Konglomerat von Beiträgen, die immer in Kontakt zur Totalität stehen. Die hierbei aufgeworfenen Fragen schreibe ich mit. Nach einer Pause sehen die Seminarteilnehmer ihre Fragen an der Tafel angeschrieben. Mit dem Vorlesen der Fragen wird das Thema beendet. Es gibt keine weiteren Diskussionen, ganz entsprechend des zapatistischen Leitsatzes "Fragend gehen wir voran".

Ich schließe meinen Vortrag mit einer Frage, wie sie erst kürzlich in meinem Seminar von einer Kollegin aufgeworfen wurde und die m.E. sehr schön den Bezug zur Totalität zeigt: "Warum soll eigentlich eine Gesellschaft, die Güterreichtum ohne Ende herstellen kann, nicht immer bessere, humanere, nicht-prekäre Arbeitsverhältnisse möglich machen können?"

Ich danke Ihnen fürs Zuhören.

 

Editorische Hinweise

Den Vortrag erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.
Mehr zum Autor auf dessen Homepage:
www.martin-gohlke.de