Rote Nelke wie rote Rose gehören
beide zum Symbolinventar der politischen Linken. Die Geschichte der
roten Rose ist länger, sie wurde weitgehend von der roten Nelke
verdrängt. 1889 forderte der Gründungskongress der Zweiten
Internationale dazu auf, am 1. Mai 1890 öffentlich für die Rechte
der Arbeiter einzutreten. Meist wurden die Demonstrationen verboten.
Pfiffig traf man sich zu Massenversammlungen in Gartenlokalen und
anderswo und trug dort als Zeichen im Knopfloch eine rote Nelke, die
preisgünstiger war als die rote Rose.
Zu dieser Zeit stand das politische
Selbstbewusstsein der Arbeiterbewegung in seinem Zenit. Die
Sozialdemokratie hatte in den 1880er Jahren Masseneinfluss gewonnen.
Bei den Wahlen zum Reichstag erzielte man deutliche Stimmenzuwächse
und eine Reihe von Tarifverträgen sowie die Bismarckschen
Sozialversicherungsgesetze zeugten von einem zaghaften sozialen
Fortschritt. Die Entwicklung erfuhr bis zum ersten Weltkrieg
Fortsetzung. In einigen Großbetrieben entstanden rechtlich zwar
schwache, für die Entwicklung eines Kollektivsubjekts aber wichtige
Interessenvertretungen der Belegschaften. Es gab Phasen spürbarer
Reallohnsteigerungen sowie Arbeitszeitverkürzungen.
Selbstorganisierte Konsumgenossenschaften verbesserten die
Versorgungslage und ein weitverzweigter Arbeiter-Kulturbetrieb
sorgte für gute Laune. Der Pauperismus des Vormärz war nicht
beseitigt, aber es war häufig besser geworden. Der Arbeiterpolitiker
Stephan Born, der in der Revolution von 1848 der erstmals öffentlich
auftretenden deutschen Arbeiterbewegung ihr reformistisches Gesicht
gab, konstatierte 1898, dass die Lohnabhängigen in den letzten 50
Jahren viel erreicht hätten. Born beobachtete zutreffend, aber er
griff zu kurz, da der historische Vergleich nicht alles sagt. Ein
Blick auf die Möglichkeiten zeigt, dass die Produktivkräfte auch
schon damals so weit entwickelt waren, dass besser hätte gelebt
werden können als gelebt worden ist.
Das Selbstbewusstsein, das die
Arbeiterbewegung bei der innovativen Aktionsform mit den roten
Nelken 1890 zeigte, war auch eine Folge ihres Geschichtsoptimismus.
Nach dem Kapitalismus kommt kladderadatsch der Sozialismus, dachte
man, so will es der gesetzmäßige Gang der Geschichte. Mit den
unvollendeten Revolutionen nach dem ersten Weltkrieg stellten
verschiedene Theoretiker der politischen Linken diese Grundannahme
in Frage. Vor allem die deutsche Arbeiterklasse hatte nicht so
agiert, wie man sich das vorgestellt hatte. Zugeschrieben hatte man
ihr die Rolle als revolutionäres Subjekt, das mit hohen Bewusstsein
die sozialistische Revolution durchführt. So war es aber nicht
gekommen. In der Novemberrevolution 1918 forderte die Arbeiterklasse
die Anerkennung als Staatsbürger und bessere Voraussetzungen für den
Verkauf der Ware Arbeitskraft; sie wollte auf Augenhöhe mit dem
Kapital agieren, sie wollte Waffengleichheit in den ökonomischen
Beziehungen; die Arbeiterbewegung strebte nach wirtschaftliche
Mitbestimmung. Die Arbeiter- und Soldatenräte sahen sich nach dem
Zerfall des Kaiserreiches als staatliche Übergangsorgane und als
Interessenvertretung, nicht als dauerhafte Machtorgane einer neuen
Gesellschaft, die als arbeitende Körperschaften die Gewaltenteilung
überwinden sollten. Räterepubliken, die mehr anvisierten, waren eine
Randerscheinung. Aber selbst dort gab es für eine orthodoxe
Strategie der politischen Machtergreifung nur selten längere Zeit
Mehrheiten. Kurzum: Die überwältigende Mehrheit der Lohnabhängigen
besaß keinen politischen Herrschaftswillen, über politische Systeme
dachte man nicht großartig nach.
Politische Herrschaft in der Form eines
Gegenmodells zur gewaltenteilenden bürgerlichen Republik
anzustreben, war der deutschen Arbeiterschaft immer fremd gewesen.
Die sich bis heute hartnäckig haltende Vorstellung von der
revolutionären Tradition der deutschen Arbeiterbewegung ist ein
Mythos. Zur Untermauerung der Ansicht musste der spannende Satz,
dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, für das Dogma herhalten,
dass die industriell tätigen Lohnabhängigen aufgrund ihrer
Produktion von abstrakten Reichtum in der Form des Mehrwerts am
besten in der Lage sind, die komplizierten Verblendungszusammenhänge
der bürgerlichen Gesellschaft zu durchschauen. Diese Auffassung
begründete den Arbeiterkult, der linke Intellektuelle in die
Fabriken trieb und sie dort unglücklich werden ließ. Recht häufig
geschah das nach dem Pariser Mai 1968 und dem bundesdeutschen
Septemberstreik 1969. Danach waren einige Achtundsechziger beseelt
von ihrem Willen zur Arbeiteragitation. Hierbei schnitten sie sich
mitunter die langen Haare ab, um nicht gleich am Werkstor von ihrem
Liebesobjekt gemaßregelt zu werden.
Eigentlich hätten die Achtundsechziger es
besser wissen müssen. Denn Herbert Marcuse, der ihnen einmal
nahestehende Vertreter der undogmatischen Kritischen Theorie, hatte
wenige Jahre zuvor darauf aufmerksam gemacht, dass im
Spätkapitalismus eine eindimensional denkende und materiell halbwegs
befriedete Arbeiterklasse keine prinzipiell anderen Verhältnisse
mehr anstreben wird. Marcuse schlug die Marginalisierten als
revolutionäres Subjekt vor: Frauen, Arbeitslose, Studierende,
Künstler und andere – alle, die aufgrund bewusster Entscheidungen
oder wenig normierter Alltagsverhältnisse noch halbwegs in einem
authentischen Kontakt zu ihren Bedürfnissen standen. Verweigerung
sollte die gescheiterte Strategie des Strebens nach politischer
Macht ersetzen.
Im Ablösungsprozess vom revolutionären
Subjekt folgte auf Marcuse der politische Ökologe Andre Gorz, als er
1980 sein Buch „Abschied vom Proletariat" veröffentlichte. Sich vom
Klassenkampf zu verabschieden, traf nach dem Irrsinn der
verschiedenen, in der Weimarer Republik steckengebliebenen
Linksradikalismen und einer mehr denn je integrierten
beziehungsweise von ihrer warengesellschaftlichen Subjektivität
geprägten Lohnarbeiterschaft auf offene Ohren, endete aber in
Perspektivlosigkeit. Der Abschied von einer „Ideologie der Arbeiter
als den neuen und politisch herrschaftswilligen Menschen" war nicht
im Schnelldurchgang zu erledigen, dafür hatte dieses Denken seit der
im sozialdemokratischen Zentrum des Kaiserreiches erlangten
Vorherrschaft der marxistischen Ideologie über die marxistische
Theorie zu sehr zur gedanklichen Grundausstattung gehört.
Die Suche nach dem revolutionären Subjekt
ist nicht abgeschlossen, denn die weltweit prekären Verhältnisse
schreien nach Veränderung und lassen bei denjenigen, die den
herkömmlichen politischen Institutionen keine
Transformationsfähigkeiten zutrauen, die Frage als
selbstverständlich erscheinen, wer denn die notwendige Veränderung
erringen soll. Guy Debord hatte einen weiträumigen Begriff des
Proletariats eingeführt, der sich beispielgebend von dem unfassbar
klischeehaften, auf muskelbepackte männliche Malocher beschränkten
Proletenbild unterschied, mit dem die Thälmanns der dritten
Internationale agitiert hatten. Toni Negris Kollektivsubjekt der
Multitude betonte die
neue Vielfalt der abhängig Beschäftigten, die als gut ausgebildete
Menschen mit oft kritischem Bewusstsein die Basiskategorien der
warenproduzierenden Moderne von Arbeit, Geld und Ware erleben und im
Widerstreit dazu direkte Wege in eine von Dauerängsten befreiten
Gesellschaft eröffnen können. Wertkritiker wie Ernst Lohoff lehnen
jedes subjektorientierte Denken ab. Sie betonen die hohe
Wirkmächtigkeit der den Klassen übergeordneten Matrix der
Warengesellschaft, in welcher nicht Menschen, sondern der Wert – ein
esoterisch anmutender Begriff aus dem Marxschen „Kapital" – die
Herrschaft hat.
So oder so. Wer die tiefe geschichtliche
Erfahrung nicht ignoriert, dass eine direkte Teilhabe an der
Mehrwertproduktion alles andere als eine Garantie für ein hohes
Bewusstsein und kapitalismuskritische Handlungsfähigkeit ist, kommt
entweder zu einer Modernisierung des Verständnisses vom
revolutionären Subjekt – oder zu seiner Verwerfung. Auch wenn dieses
Thema vor allem in der radikalen, aber kaum in der gemäßigten Linken
wahrgenommen wird. Zum eigentlichen Adressaten wird die
Sozialdemokratie aber, wenn man sich die zweite Kränkung der
politischen Linken vergegenwärtigt.
Mit der Erfahrung zunehmender Partizipation
der Lohnabhängigen war es in der Weimarer Republik nicht vorbei.
Zwar war nach dem ersten Weltkrieg das geschichtsphilosophische
Denken von einer quasi automatischen Abfolge der
Gesellschaftsformationen beschädigt, aber schon bald konnte es den
Sozialdemokraten für einen kurzen historischen Augenblick so
scheinen, dass eine dauerhafte Entwicklung zum Besseren möglich ist.
Betriebsrätegesetz, sozialer Wohnungsbau, Tarifverträge als Regel
und eine sich mit dem Weimarer Gründungskompromiss gezwungenermaßen
vorerst defensiv gebende Unternehmerschaft hegten fast bis zum
Börsencrash 1929 die Hoffnung, den Kapitalismus in nicht allzu
ferner Zukunft in den Griff zu bekommen. Wieder kam es anders. Aber
trotz des folgenden Niedergangs in der Zeit der Weltwirtschaftskrise
und des Nationalsozialismus belegten die erlebten Phasen sozialer
Verbesserungen den ersten Platz im Kollektivgedächtnis der
Sozialdemokratie und galten als Beweis einer relativen
Erfolgsgeschichte der eigenen Partei, als es nach 1945 weiterging.
Es folgten fast dreißig Jahre krisenfreier
Kapitalismus, Minikrisen unberücksichtigt. Das war ein Novum, so
kannte man diese Produktionsweise nicht. Nach den Zerstörungen im
zweiten Weltkrieg war die Nachfrage erheblich und die fordistische
Massenproduktion konnte preiswert Güter herstellen, die vormals den
Besserverdienenden vorbehalten waren. Die Rechte von Betriebsräten
nahmen zwar nicht mehr so zu wie in der Nachkriegszeit, als man sich
die Hilfe bei der Entnazifizierung der Betriebe mit rechtlichen
Zugeständnissen begleichen ließ, sie waren aber weitreichender als
in der Weimarer Republik. Nach einigen Veränderungen im Arbeitsrecht
Anfang der 1970er Jahre waren die großen Belegschaften, sofern sie
über einen Betriebsrat verfügten, der sein Geschäft verstand, ein
Machtfaktor. Freilich hörte die Demokratie auch weiterhin an den
Werkstoren auf, aber so richtige Schandtaten konnten sich viele
Unternehmer nicht mehr leisten. Hierzu passte es, dass die
Sozialdemokratie nun erstmals den Bundeskanzler stellte. Willy
Brandt schien nicht die schlechten, sondern die guten Eigenschaften
der geschichtsträchtigen Sozialdemokratie zu vereinen. In einer
Mischung aus warmherzigem Lebemann und politischem Kopf wirkte er
authentisch wie kompetent zugleich. Unter ihm wurde der Sozialstaat
noch einmal ausgebaut. Die Sozialdemokratie war glücklich.
Gemessen an ihrem Selbstverständnis hatte
sie dazu auch allen Grund. Mit der Kritik der Achtundsechziger hatte
sie nicht viel am Hut. Berührungspunkte gab es allenfalls beim Thema
deutscher Faschismus. Was scherten die Sozialdemokratie die vielen
anderen Fragen, mit denen sich Linke ansonsten so herumschlugen. Was
scherten sie, jedenfalls über Gebühr, die Enge und Normierung des
Alltags, die Abschaffung des Individuums oder die Verdinglichung der
sozialen Beziehungen. Warum sollte sie in der Kritik an der
instrumentellen Vernunft etwas anderes sehen als lebensferne
Problematisierungen. Kritik jenseits der Fragen der
Verteilungsgerechtigkeit musste dem von Krieg und sozialen
Entbehrungen geprägten Kernklientel der Sozialdemokratie als
Luxusproblem erscheinen. Der erste Bezugspunkt deren politischen
Denkens waren stets die unmittelbaren materiellen
Reproduktionsmöglichkeiten.
Im Prinzip konnte es für die
Sozialdemokratie wie gehabt weitergehen. Dabei war es außerhalb
ihres Vorstellungsvermögens, dass der Kapitalismus die Menschen in
Unsicherheit und Angst versetzen könne, wie er es mal getan hatte.
Aber wieder kam es anders. Die Geschichte des Sozialabbaus und der
Verschlechterung vieler Arbeitsverhältnisse ist lang. Sie begann
Mitte der 1970er Jahre und vollzog sich in kleinen Schritten. Erst
in der Summe zeigt sich der Bruch. Quantität kann in eine neue
Qualität umschlagen, weiß die Dialektik, in diesem Fall in eine
schlechtere. Es existiert mittlerweile nicht mehr der Kapitalismus,
der für die Sozialdemokratie mal Voraussetzung war, um zu ihm Ja zu
sagen. Hätte ein überzeugter, vom historischen Pathos getragener
Sozialdemokrat der 1970er Jahre gewusst, dass vierzig Jahre später
um die vierzig Prozent aller lohnabhängig Beschäftigten sich in
einem prekären Arbeitsverhältnis verdingen müssen, hätte er, obwohl
Noske-Anhänger und somit strenger Antikommunist, zur Revolution
aufgerufen. Auch andere aktuelle Wirklichkeiten, wie der
Neo-Pauperismus in verschiedenen Ländern Europas oder die den Aufbau
des europaweit größten Niedriglohnsektors ermöglichenden
Hartz-Arbeitsgesetze, die vielfach zu einer allgemeinen "Haltung der
Unterwerfung" (Tomasz Konicz) geführt haben, hätte kein damaliger
Sozialdemokrat für möglich gehalten.
Die Sozialdemokratie muss die wahren Gründe
für die veränderten sozialen Wirklichkeiten aus ihrem Bewusstsein
streichen, will sie innerlich nicht kollabieren. Denn die
Auffassung, dass der Kapitalismus politisch für alle Zeiten
erfolgreich gesteuert werden kann, ist bei ihr ebenso identitär
besetzt wie in Teilen der radikalen Linken der Glaube an das
revolutionäre Subjekt. Stellt sich ein Sozialdemokrat empört den
neuen Wirklichkeiten, so bleibt ihm mit seinem Begriffsinventar
nichts anderes übrig, als eine „echte" sozialdemokratische Politik
einzufordern, die alles wieder ins Lot bringen soll. Dass der
Kapitalismus ein dynamisches Gebilde ist, dass infolgedessen die
geschichtliche Erfahrung, dass er politisch im Sinne eines
imaginären Allgemeininteresses gelenkt werden konnte, nicht einfach
wiederholbar ist, dass die Gründe für die Krisenerscheinungen in
erster Linie in den veränderten ökonomischen Strukturen zu suchen
sind und nicht zuvörderst in einem falschen Handeln der
wirtschaftlichen und politischen Akteure, kann kein
leidenschaftlicher Sozialdemokrat einsehen, ohne seine Grundannahmen
zu revidieren. Es würde das Ende seines Jahrzehnte lang gepflegten
Glaubens an die immerwährende Möglichkeit eines zwar unvollkommenen,
aber funktionierenden Kapitalismus bedeuten.
Ausschlaggebend für diesen
sozialdemokratischen Glaubenssatz sind die Erfahrungen der
stalinistischen Verbrechen und die Karl Marx von Eduard Bernstein
fälschlicherweise, aber überaus erfolgreich in den Mund gelegte
Aussage von einem baldigen Zusammenbruch des Kapitalismus. Auch die
unschlagbare Fähigkeit der Marktwirtschaft, die Arbeitsproduktivität
zu steigern, erklärt das sozialdemokratische Postulat. Maßstab der
stillen Bewunderung für die ökonomische Effizienz des Kapitalismus
sind Erscheinungen wie riesige Containerschiffe, robotergesteuerte
Fabriken sowie sechsspurige Autobahnen mit kreuzenden Kanalbauten
und sauber angelegten Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsstrecken sowie
lässig über all das hinweg fliegenden dreistöckigen Flugzeugen. Die
immense gesellschaftliche Leistungsfähigkeit des Kapitalismus, so
ist ein Sozialdemokrat überzeugt, zeige sich auch in dem ungeheuren
Warenreichtum, der bei einem Gang durch eine Innenstadt bestaunt
werden kann. Wird die Argumentation volkswirtschaftlicher, wird auf
das Bruttoinlandsprodukt hingewiesen, welches angeblich recht
zuverlässig nach oben zeige.
Warum hat sich Marx 16 Jahre an dem
„Kapital" abgearbeitet? Weil er Zweifel an solch scheinbar
problemlosen Beobachtungen hatte, die auch schon in seinen Jahren in
aller Munde waren. Um der Oberflächlichkeit zu entgehen, benötigt
man nicht nur Kenntnis vom Bruttoinlandsprodukt, dem obersten
Begriff der etablierten Volkswirtschaftslehre, sondern auch von der
Wertmasse, einem Leitbegriff der marxschen Kritik der Politischen
Ökonomie. Erfährt man dann, dass bei steigendem Bruttoinlandsprodukt
die Wertmasse fallen und diese Bewegung das kapitalistische Getriebe
substantiell ins Stocken bringen kann, wird man eventuell neugierig
für die gar nicht mehr so seltenen Diskussionen über die
strukturellen Grenzen des Kapitalismus. Aber so weit lässt es die
Sozialdemokratie nicht kommen, denn die totalitäre
Wirkungsgeschichte eines geschichtsdeterministisch angetriebenen,
traditionellen Marxismus lässt es ihr unmöglich erscheinen, dass
eine ernsthafte Beschäftigung mit Marx ihr etwas zu bieten hat.
Diese Haltung wird dadurch bestärkt, dass der Zusammenbruch des
Kapitalismus nie kam, sondern er mal sämtliche Forderungen der alten
deutschen Arbeiterbewegung erfüllen konnte.
Aber trotz dieser zweifellos bemerkenswerten
Erfahrung verdient die in verschiedenen Publikationen auch in
wissenschaftlicher Gründlichkeit erhältliche Auffassung von einer
„inneren Schranke des Kapitalismus" (Robert Kurz) Aufmerksamkeit.
Allein der Tatbestand, dass trotz der hohen Entwicklung der
Produktivkräfte immense soziale und ökologische Verwerfungen an der
Tagesordnung bleiben, sollte einen an der Gesellschaft
interessierten Menschen offen für die Frage werden lassen, ob dem
Kapitalismus möglicherweise ein Konstruktionsfehler zugrunde liegt,
der ab einer bestimmten Entwicklungsstufe seine erfolgreiche
politische Steuerung immer schwieriger werden lässt. Viele Zugänge
zu diesem Konstruktionsfehler sind möglich, neben dem Hinweis zum
Auseinanderdriften von Bruttoinlandsprodukt und Wertmasse sei ein
weiterer genannt: Die Entwicklung der Arbeitsproduktivität führt zur
großen Entwertung der Waren, da immer weniger Arbeitszeit für die
Herstellung eines Produktes benötigt wird. In einem komplexen
Prozess von dynamischen Bezugssystemen bekommt der Kapitalismus an
den Orten der Mehrwertproduktion immer weniger Luft, da ihm mit der
Eliminierung der lebendigen Arbeitskraft aus dem Produktionsprozess
sein Sauerstoff ausgeht. Jahrzehnte über Jahrzehnte kann dieser
Prozess kompensiert werden durch die Ausweitung der Produktion und
durch die krisenaufschiebende Wirkung der Verlagerung der
selbstzweckhaften Geldmacherei in die fiktiven Finanzwelten. Aber
die innere Programmierung des Kapitalismus auf Selbstzerstörung ist
damit nicht außer Kraft gesetzt.
Es scheint eine Sisyphusarbeit zu sein, dem
Mythos von einer zeitlosen Entwicklungsmöglichkeit des Kapitalismus
die Aufklärung über seine bedingte Entwicklungsmöglichkeit
entgegenzusetzen. Die
Zeitlichkeit eines funktionierenden
Kapitalismus ist eine Demütigung für die Sozialdemokratie ohne
Gleichen, denn sie hat sich mit besten Wissen und Gewissen alle Mühe
der Welt gemacht, ihm seine hässlichsten Seiten so gut es geht zu
nehmen.
Demütigungen sind für die Menschheit nichts
Neues. Sigmund Freud sah das naive narzisstische Bewusstsein der
Menschen gekränkt durch das Wissen, dass die Erde nicht der
Mittelpunkt des Universums, der Mensch nicht die Tat eines Schöpfers
und er auch nicht mit einem freien Willen sein ganzes Seelenleben
beherrscht. Entgegen früherer Prognosen sind zwei dieser Mythen bis
heute nicht verwelkt. Ob auch der
Mythos vom revolutionären
Subjekt und der Mythos von einer zeitlosen
Entwicklungsfähigkeit des Kapitalismus eine gefühlte
Ewigkeit blühen werden?
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