Welke Träume
Zwei Demütigungen der politischen Linken
Weder das revolutionäre Subjekt noch die soziale Marktwirtschaft sind, was sie niemals waren...

von Martin Gohlke

04-2015

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Rote Nelke wie rote Rose gehören beide zum Symbolinventar der politischen Linken. Die Geschichte der roten Rose ist länger, sie wurde weitgehend von der roten Nelke verdrängt. 1889 forderte der Gründungskongress der Zweiten Internationale dazu auf, am 1. Mai 1890 öffentlich für die Rechte der Arbeiter einzutreten. Meist wurden die Demonstrationen verboten. Pfiffig traf man sich zu Massenversammlungen in Gartenlokalen und anderswo und trug dort als Zeichen im Knopfloch eine rote Nelke, die preisgünstiger war als die rote Rose.

Zu dieser Zeit stand das politische Selbstbewusstsein der Arbeiterbewegung in seinem Zenit. Die Sozialdemokratie hatte in den 1880er Jahren Masseneinfluss gewonnen. Bei den Wahlen zum Reichstag erzielte man deutliche Stimmenzuwächse und eine Reihe von Tarifverträgen sowie die Bismarckschen Sozialversicherungsgesetze zeugten von einem zaghaften sozialen Fortschritt. Die Entwicklung erfuhr bis zum ersten Weltkrieg Fortsetzung. In einigen Großbetrieben entstanden rechtlich zwar schwache, für die Entwicklung eines Kollektivsubjekts aber wichtige Interessenvertretungen der Belegschaften. Es gab Phasen spürbarer Reallohnsteigerungen sowie Arbeitszeitverkürzungen. Selbstorganisierte Konsumgenossenschaften verbesserten die Versorgungslage und ein weitverzweigter Arbeiter-Kulturbetrieb sorgte für gute Laune. Der Pauperismus des Vormärz war nicht beseitigt, aber es war häufig besser geworden. Der Arbeiterpolitiker Stephan Born, der in der Revolution von 1848 der erstmals öffentlich auftretenden deutschen Arbeiterbewegung ihr reformistisches Gesicht gab, konstatierte 1898, dass die Lohnabhängigen in den letzten 50 Jahren viel erreicht hätten. Born beobachtete zutreffend, aber er griff zu kurz, da der historische Vergleich nicht alles sagt. Ein Blick auf die Möglichkeiten zeigt, dass die Produktivkräfte auch schon damals so weit entwickelt waren, dass besser hätte gelebt werden können als gelebt worden ist.

Das Selbstbewusstsein, das die Arbeiterbewegung bei der innovativen Aktionsform mit den roten Nelken 1890 zeigte, war auch eine Folge ihres Geschichtsoptimismus. Nach dem Kapitalismus kommt kladderadatsch der Sozialismus, dachte man, so will es der gesetzmäßige Gang der Geschichte. Mit den unvollendeten Revolutionen nach dem ersten Weltkrieg stellten verschiedene Theoretiker der politischen Linken diese Grundannahme in Frage. Vor allem die deutsche Arbeiterklasse hatte nicht so agiert, wie man sich das vorgestellt hatte. Zugeschrieben hatte man ihr die Rolle als revolutionäres Subjekt, das mit hohen Bewusstsein die sozialistische Revolution durchführt. So war es aber nicht gekommen. In der Novemberrevolution 1918 forderte die Arbeiterklasse die Anerkennung als Staatsbürger und bessere Voraussetzungen für den Verkauf der Ware Arbeitskraft; sie wollte auf Augenhöhe mit dem Kapital agieren, sie wollte Waffengleichheit in den ökonomischen Beziehungen; die Arbeiterbewegung strebte nach wirtschaftliche Mitbestimmung. Die Arbeiter- und Soldatenräte sahen sich nach dem Zerfall des Kaiserreiches als staatliche Übergangsorgane und als Interessenvertretung, nicht als dauerhafte Machtorgane einer neuen Gesellschaft, die als arbeitende Körperschaften die Gewaltenteilung überwinden sollten. Räterepubliken, die mehr anvisierten, waren eine Randerscheinung. Aber selbst dort gab es für eine orthodoxe Strategie der politischen Machtergreifung nur selten längere Zeit Mehrheiten. Kurzum: Die überwältigende Mehrheit der Lohnabhängigen besaß keinen politischen Herrschaftswillen, über politische Systeme dachte man nicht großartig nach.

Politische Herrschaft in der Form eines Gegenmodells zur gewaltenteilenden bürgerlichen Republik anzustreben, war der deutschen Arbeiterschaft immer fremd gewesen. Die sich bis heute hartnäckig haltende Vorstellung von der revolutionären Tradition der deutschen Arbeiterbewegung ist ein Mythos. Zur Untermauerung der Ansicht musste der spannende Satz, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, für das Dogma herhalten, dass die industriell tätigen Lohnabhängigen aufgrund ihrer Produktion von abstrakten Reichtum in der Form des Mehrwerts am besten in der Lage sind, die komplizierten Verblendungszusammenhänge der bürgerlichen Gesellschaft zu durchschauen. Diese Auffassung begründete den Arbeiterkult, der linke Intellektuelle in die Fabriken trieb und sie dort unglücklich werden ließ. Recht häufig geschah das nach dem Pariser Mai 1968 und dem bundesdeutschen Septemberstreik 1969. Danach waren einige Achtundsechziger beseelt von ihrem Willen zur Arbeiteragitation. Hierbei schnitten sie sich mitunter die langen Haare ab, um nicht gleich am Werkstor von ihrem Liebesobjekt gemaßregelt zu werden.

Eigentlich hätten die Achtundsechziger es besser wissen müssen. Denn Herbert Marcuse, der ihnen einmal nahestehende Vertreter der undogmatischen Kritischen Theorie, hatte wenige Jahre zuvor darauf aufmerksam gemacht, dass im Spätkapitalismus eine eindimensional denkende und materiell halbwegs befriedete Arbeiterklasse keine prinzipiell anderen Verhältnisse mehr anstreben wird. Marcuse schlug die Marginalisierten als revolutionäres Subjekt vor: Frauen, Arbeitslose, Studierende, Künstler und andere – alle, die aufgrund bewusster Entscheidungen oder wenig normierter Alltagsverhältnisse noch halbwegs in einem authentischen Kontakt zu ihren Bedürfnissen standen. Verweigerung sollte die gescheiterte Strategie des Strebens nach politischer Macht ersetzen.

Im Ablösungsprozess vom revolutionären Subjekt folgte auf Marcuse der politische Ökologe Andre Gorz, als er 1980 sein Buch „Abschied vom Proletariat" veröffentlichte. Sich vom Klassenkampf zu verabschieden, traf nach dem Irrsinn der verschiedenen, in der Weimarer Republik steckengebliebenen Linksradikalismen und einer mehr denn je integrierten beziehungsweise von ihrer warengesellschaftlichen Subjektivität geprägten Lohnarbeiterschaft auf offene Ohren, endete aber in Perspektivlosigkeit. Der Abschied von einer „Ideologie der Arbeiter als den neuen und politisch herrschaftswilligen Menschen" war nicht im Schnelldurchgang zu erledigen, dafür hatte dieses Denken seit der im sozialdemokratischen Zentrum des Kaiserreiches erlangten Vorherrschaft der marxistischen Ideologie über die marxistische Theorie zu sehr zur gedanklichen Grundausstattung gehört.

Die Suche nach dem revolutionären Subjekt ist nicht abgeschlossen, denn die weltweit prekären Verhältnisse schreien nach Veränderung und lassen bei denjenigen, die den herkömmlichen politischen Institutionen keine Transformationsfähigkeiten zutrauen, die Frage als selbstverständlich erscheinen, wer denn die notwendige Veränderung erringen soll. Guy Debord hatte einen weiträumigen Begriff des Proletariats eingeführt, der sich beispielgebend von dem unfassbar klischeehaften, auf muskelbepackte männliche Malocher beschränkten Proletenbild unterschied, mit dem die Thälmanns der dritten Internationale agitiert hatten. Toni Negris Kollektivsubjekt der Multitude betonte die neue Vielfalt der abhängig Beschäftigten, die als gut ausgebildete Menschen mit oft kritischem Bewusstsein die Basiskategorien der warenproduzierenden Moderne von Arbeit, Geld und Ware erleben und im Widerstreit dazu direkte Wege in eine von Dauerängsten befreiten Gesellschaft eröffnen können. Wertkritiker wie Ernst Lohoff lehnen jedes subjektorientierte Denken ab. Sie betonen die hohe Wirkmächtigkeit der den Klassen übergeordneten Matrix der Warengesellschaft, in welcher nicht Menschen, sondern der Wert – ein esoterisch anmutender Begriff aus dem Marxschen „Kapital" – die Herrschaft hat.

So oder so. Wer die tiefe geschichtliche Erfahrung nicht ignoriert, dass eine direkte Teilhabe an der Mehrwertproduktion alles andere als eine Garantie für ein hohes Bewusstsein und kapitalismuskritische Handlungsfähigkeit ist, kommt entweder zu einer Modernisierung des Verständnisses vom revolutionären Subjekt – oder zu seiner Verwerfung. Auch wenn dieses Thema vor allem in der radikalen, aber kaum in der gemäßigten Linken wahrgenommen wird. Zum eigentlichen Adressaten wird die Sozialdemokratie aber, wenn man sich die zweite Kränkung der politischen Linken vergegenwärtigt.

Mit der Erfahrung zunehmender Partizipation der Lohnabhängigen war es in der Weimarer Republik nicht vorbei. Zwar war nach dem ersten Weltkrieg das geschichtsphilosophische Denken von einer quasi automatischen Abfolge der Gesellschaftsformationen beschädigt, aber schon bald konnte es den Sozialdemokraten für einen kurzen historischen Augenblick so scheinen, dass eine dauerhafte Entwicklung zum Besseren möglich ist. Betriebsrätegesetz, sozialer Wohnungsbau, Tarifverträge als Regel und eine sich mit dem Weimarer Gründungskompromiss gezwungenermaßen vorerst defensiv gebende Unternehmerschaft hegten fast bis zum Börsencrash 1929 die Hoffnung, den Kapitalismus in nicht allzu ferner Zukunft in den Griff zu bekommen. Wieder kam es anders. Aber trotz des folgenden Niedergangs in der Zeit der Weltwirtschaftskrise und des Nationalsozialismus belegten die erlebten Phasen sozialer Verbesserungen den ersten Platz im Kollektivgedächtnis der Sozialdemokratie und galten als Beweis einer relativen Erfolgsgeschichte der eigenen Partei, als es nach 1945 weiterging.

Es folgten fast dreißig Jahre krisenfreier Kapitalismus, Minikrisen unberücksichtigt. Das war ein Novum, so kannte man diese Produktionsweise nicht. Nach den Zerstörungen im zweiten Weltkrieg war die Nachfrage erheblich und die fordistische Massenproduktion konnte preiswert Güter herstellen, die vormals den Besserverdienenden vorbehalten waren. Die Rechte von Betriebsräten nahmen zwar nicht mehr so zu wie in der Nachkriegszeit, als man sich die Hilfe bei der Entnazifizierung der Betriebe mit rechtlichen Zugeständnissen begleichen ließ, sie waren aber weitreichender als in der Weimarer Republik. Nach einigen Veränderungen im Arbeitsrecht Anfang der 1970er Jahre waren die großen Belegschaften, sofern sie über einen Betriebsrat verfügten, der sein Geschäft verstand, ein Machtfaktor. Freilich hörte die Demokratie auch weiterhin an den Werkstoren auf, aber so richtige Schandtaten konnten sich viele Unternehmer nicht mehr leisten. Hierzu passte es, dass die Sozialdemokratie nun erstmals den Bundeskanzler stellte. Willy Brandt schien nicht die schlechten, sondern die guten Eigenschaften der geschichtsträchtigen Sozialdemokratie zu vereinen. In einer Mischung aus warmherzigem Lebemann und politischem Kopf wirkte er authentisch wie kompetent zugleich. Unter ihm wurde der Sozialstaat noch einmal ausgebaut. Die Sozialdemokratie war glücklich.

Gemessen an ihrem Selbstverständnis hatte sie dazu auch allen Grund. Mit der Kritik der Achtundsechziger hatte sie nicht viel am Hut. Berührungspunkte gab es allenfalls beim Thema deutscher Faschismus. Was scherten die Sozialdemokratie die vielen anderen Fragen, mit denen sich Linke ansonsten so herumschlugen. Was scherten sie, jedenfalls über Gebühr, die Enge und Normierung des Alltags, die Abschaffung des Individuums oder die Verdinglichung der sozialen Beziehungen. Warum sollte sie in der Kritik an der instrumentellen Vernunft etwas anderes sehen als lebensferne Problematisierungen. Kritik jenseits der Fragen der Verteilungsgerechtigkeit musste dem von Krieg und sozialen Entbehrungen geprägten Kernklientel der Sozialdemokratie als Luxusproblem erscheinen. Der erste Bezugspunkt deren politischen Denkens waren stets die unmittelbaren materiellen Reproduktionsmöglichkeiten.

Im Prinzip konnte es für die Sozialdemokratie wie gehabt weitergehen. Dabei war es außerhalb ihres Vorstellungsvermögens, dass der Kapitalismus die Menschen in Unsicherheit und Angst versetzen könne, wie er es mal getan hatte. Aber wieder kam es anders. Die Geschichte des Sozialabbaus und der Verschlechterung vieler Arbeitsverhältnisse ist lang. Sie begann Mitte der 1970er Jahre und vollzog sich in kleinen Schritten. Erst in der Summe zeigt sich der Bruch. Quantität kann in eine neue Qualität umschlagen, weiß die Dialektik, in diesem Fall in eine schlechtere. Es existiert mittlerweile nicht mehr der Kapitalismus, der für die Sozialdemokratie mal Voraussetzung war, um zu ihm Ja zu sagen. Hätte ein überzeugter, vom historischen Pathos getragener Sozialdemokrat der 1970er Jahre gewusst, dass vierzig Jahre später um die vierzig Prozent aller lohnabhängig Beschäftigten sich in einem prekären Arbeitsverhältnis verdingen müssen, hätte er, obwohl Noske-Anhänger und somit strenger Antikommunist, zur Revolution aufgerufen. Auch andere aktuelle Wirklichkeiten, wie der Neo-Pauperismus in verschiedenen Ländern Europas oder die den Aufbau des europaweit größten Niedriglohnsektors ermöglichenden Hartz-Arbeitsgesetze, die vielfach zu einer allgemeinen "Haltung der Unterwerfung" (Tomasz Konicz) geführt haben, hätte kein damaliger Sozialdemokrat für möglich gehalten.

Die Sozialdemokratie muss die wahren Gründe für die veränderten sozialen Wirklichkeiten aus ihrem Bewusstsein streichen, will sie innerlich nicht kollabieren. Denn die Auffassung, dass der Kapitalismus politisch für alle Zeiten erfolgreich gesteuert werden kann, ist bei ihr ebenso identitär besetzt wie in Teilen der radikalen Linken der Glaube an das revolutionäre Subjekt. Stellt sich ein Sozialdemokrat empört den neuen Wirklichkeiten, so bleibt ihm mit seinem Begriffsinventar nichts anderes übrig, als eine „echte" sozialdemokratische Politik einzufordern, die alles wieder ins Lot bringen soll. Dass der Kapitalismus ein dynamisches Gebilde ist, dass infolgedessen die geschichtliche Erfahrung, dass er politisch im Sinne eines imaginären Allgemeininteresses gelenkt werden konnte, nicht einfach wiederholbar ist, dass die Gründe für die Krisenerscheinungen in erster Linie in den veränderten ökonomischen Strukturen zu suchen sind und nicht zuvörderst in einem falschen Handeln der wirtschaftlichen und politischen Akteure, kann kein leidenschaftlicher Sozialdemokrat einsehen, ohne seine Grundannahmen zu revidieren. Es würde das Ende seines Jahrzehnte lang gepflegten Glaubens an die immerwährende Möglichkeit eines zwar unvollkommenen, aber funktionierenden Kapitalismus bedeuten.

Ausschlaggebend für diesen sozialdemokratischen Glaubenssatz sind die Erfahrungen der stalinistischen Verbrechen und die Karl Marx von Eduard Bernstein fälschlicherweise, aber überaus erfolgreich in den Mund gelegte Aussage von einem baldigen Zusammenbruch des Kapitalismus. Auch die unschlagbare Fähigkeit der Marktwirtschaft, die Arbeitsproduktivität zu steigern, erklärt das sozialdemokratische Postulat. Maßstab der stillen Bewunderung für die ökonomische Effizienz des Kapitalismus sind Erscheinungen wie riesige Containerschiffe, robotergesteuerte Fabriken sowie sechsspurige Autobahnen mit kreuzenden Kanalbauten und sauber angelegten Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsstrecken sowie lässig über all das hinweg fliegenden dreistöckigen Flugzeugen. Die immense gesellschaftliche Leistungsfähigkeit des Kapitalismus, so ist ein Sozialdemokrat überzeugt, zeige sich auch in dem ungeheuren Warenreichtum, der bei einem Gang durch eine Innenstadt bestaunt werden kann. Wird die Argumentation volkswirtschaftlicher, wird auf das Bruttoinlandsprodukt hingewiesen, welches angeblich recht zuverlässig nach oben zeige.

Warum hat sich Marx 16 Jahre an dem „Kapital" abgearbeitet? Weil er Zweifel an solch scheinbar problemlosen Beobachtungen hatte, die auch schon in seinen Jahren in aller Munde waren. Um der Oberflächlichkeit zu entgehen, benötigt man nicht nur Kenntnis vom Bruttoinlandsprodukt, dem obersten Begriff der etablierten Volkswirtschaftslehre, sondern auch von der Wertmasse, einem Leitbegriff der marxschen Kritik der Politischen Ökonomie. Erfährt man dann, dass bei steigendem Bruttoinlandsprodukt die Wertmasse fallen und diese Bewegung das kapitalistische Getriebe substantiell ins Stocken bringen kann, wird man eventuell neugierig für die gar nicht mehr so seltenen Diskussionen über die strukturellen Grenzen des Kapitalismus. Aber so weit lässt es die Sozialdemokratie nicht kommen, denn die totalitäre Wirkungsgeschichte eines geschichtsdeterministisch angetriebenen, traditionellen Marxismus lässt es ihr unmöglich erscheinen, dass eine ernsthafte Beschäftigung mit Marx ihr etwas zu bieten hat. Diese Haltung wird dadurch bestärkt, dass der Zusammenbruch des Kapitalismus nie kam, sondern er mal sämtliche Forderungen der alten deutschen Arbeiterbewegung erfüllen konnte.

Aber trotz dieser zweifellos bemerkenswerten Erfahrung verdient die in verschiedenen Publikationen auch in wissenschaftlicher Gründlichkeit erhältliche Auffassung von einer „inneren Schranke des Kapitalismus" (Robert Kurz) Aufmerksamkeit. Allein der Tatbestand, dass trotz der hohen Entwicklung der Produktivkräfte immense soziale und ökologische Verwerfungen an der Tagesordnung bleiben, sollte einen an der Gesellschaft interessierten Menschen offen für die Frage werden lassen, ob dem Kapitalismus möglicherweise ein Konstruktionsfehler zugrunde liegt, der ab einer bestimmten Entwicklungsstufe seine erfolgreiche politische Steuerung immer schwieriger werden lässt. Viele Zugänge zu diesem Konstruktionsfehler sind möglich, neben dem Hinweis zum Auseinanderdriften von Bruttoinlandsprodukt und Wertmasse sei ein weiterer genannt: Die Entwicklung der Arbeitsproduktivität führt zur großen Entwertung der Waren, da immer weniger Arbeitszeit für die Herstellung eines Produktes benötigt wird. In einem komplexen Prozess von dynamischen Bezugssystemen bekommt der Kapitalismus an den Orten der Mehrwertproduktion immer weniger Luft, da ihm mit der Eliminierung der lebendigen Arbeitskraft aus dem Produktionsprozess sein Sauerstoff ausgeht. Jahrzehnte über Jahrzehnte kann dieser Prozess kompensiert werden durch die Ausweitung der Produktion und durch die krisenaufschiebende Wirkung der Verlagerung der selbstzweckhaften Geldmacherei in die fiktiven Finanzwelten. Aber die innere Programmierung des Kapitalismus auf Selbstzerstörung ist damit nicht außer Kraft gesetzt.

Es scheint eine Sisyphusarbeit zu sein, dem Mythos von einer zeitlosen Entwicklungsmöglichkeit des Kapitalismus die Aufklärung über seine bedingte Entwicklungsmöglichkeit entgegenzusetzen. Die

Zeitlichkeit eines funktionierenden Kapitalismus ist eine Demütigung für die Sozialdemokratie ohne Gleichen, denn sie hat sich mit besten Wissen und Gewissen alle Mühe der Welt gemacht, ihm seine hässlichsten Seiten so gut es geht zu nehmen.

Demütigungen sind für die Menschheit nichts Neues. Sigmund Freud sah das naive narzisstische Bewusstsein der Menschen gekränkt durch das Wissen, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums, der Mensch nicht die Tat eines Schöpfers und er auch nicht mit einem freien Willen sein ganzes Seelenleben beherrscht. Entgegen früherer Prognosen sind zwei dieser Mythen bis heute nicht verwelkt. Ob auch der Mythos vom revolutionären Subjekt und der Mythos von einer zeitlosen Entwicklungsfähigkeit des Kapitalismus eine gefühlte Ewigkeit blühen werden?

Editorische Hinweise

Wir erhielten diesen Artikel vom Autor für diese Ausgabe.