Editorial
Wohnungspolitik als Lebensreform

von Karl Müller

11-2014

trend
onlinezeitung

Gut 60 Leute, die meisten zwischen 20 und 30, kamen am 10. Oktober 2014 zur Veranstaltung der Gruppe  "Andere Zustände ermöglichen" (AZE) in die Veranstaltungsetage in der Neuköllner Hermannstr.48, um die AZE-Thesen über linksradikale Stadtpolitik zu diskutieren. Die Thesen wurden zu Beginn der Veranstaltung in schriftlicher Form ausgegeben und dann abschnittweise als "Input" vorgelesen und diskutiert.

Diskussion kann man diese Art der Kommunikation eigentlich nicht nennen, denn es ging den meisten Redner_innen eher um ein Vermitteln ihres inneren Zustands, um über den Umweg der Thematisierung der "ersten Person" herauszukriegen, was linksradikale Stadtpolitik sein könnte. Streckenweise erschien diese durch Kreisform angeordnete Versammlung wie eine große Selbsterfahrungsgruppe, in der jedoch nur wenige das Wort führten. Inhaltlich fiel die Aussprache noch hinter das dürftige Selbstverständnis der AZE-Thesen zurück, "die die Stadt prägenden Herrschaftsverhältnisse zu benennen", als Kern eines linksradikalen Politikverständnis bezeichnen. Vielmehr mäanderte das Gespräch zwischen erzählter Selbsterfahrung und dem Befund hin und her, dass leider viele Mieter_innen  "nicht durch eine Auseinandersetzung mit linksradikaler Politik, sondern durch Betroffenheit" Wohnraumkämpfe führen. Ideologisch überformt blieb diese Selbstbespiegelung durch  die in den Thesen formulierte politisch-moralische Selbstverpflichtung, dass Linksradikale sich "im Denken und Handeln nicht der gesellschaftlichen Konformität und Vorgabe zu fügen" hätten und "sich von der Repression, der Entfremdung zum eigenen Wohnort, der Unsicherheit und den Ausschlüssen" nicht fertigmachen lassen dürften, sondern stattdessen "dagegen zu kämpfen" hätten.

Das in diesen selbstbezüglichen Schilderungen weitestgehende Fehlen von gesellschaftlicher Klassenrealität sowie von  Perspektiven und Inhalten der Aufhebung der kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung reduzierte das Anliegen "andere Zustände ermöglichen" schließlich auf eine Frage der Reform der persönlichen Lebensumstände. An dieser Stelle klinkte sich  ein Protagonist des Mietshäuser Syndikats(MhS)( ein. Mit Verweis auf dessen betriebswirtschaftliches Konzept der so genannten Kapitalneutralisierung (siehe dazu in TREND Nr.3/2014 "Miete neu denken" ) versprach er, dass bereits im kapitalistischen Hier und Jetzt adäquate Lebens- und Erlebnisräume für Linksradikale (und andere an Lebensreform Interessierte) möglich sind.

Statt der Affirmierung kapitalistischer Verwertungsverhältnisse durch MhS-spezifische, kapitalistische Eigentumsformen entgegen zu treten, wurde dem MhS-Protagonisten vorgehalten, dass die langen Vorlauflaufzeiten zur Gruppenbildung und für den Hauskauf - lebensweltlich betrachtet - nur einen geringen Spaßfaktor ermöglichen, den mensch ja gleich haben könnte, wenn einfach ein leerstehendes Haus besetzt würde.

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Der Tagespresse war jetzt zu entnehmen, dass in der BRD rund 13 Millionen Menschen armutsgefährdet sind. Das entspricht in etwa der Größenordnung der ostdeutschen BRD-Beitrittswilligen infolge der Implosion der DDR vor 25 Jahren. Die inneren Klassenbedingungen der DDR, die als sozialistisch gelabelt wurden und schlussendlich implodierten, entzogen einer kommunistischen Aufhebungsperspektive im öffentlichen Bewußtsein bekanntlich die Legitimation. Gleichwohl verweisen die aktuellen BRD-Armutszahlen und ein bundesweit protzender Reichtum der Wenigen, dass die kapitalistische Produktionweise selbst in den Metropolen keine menschenwürdige Gesellschaft hervorbringen kann.  Oder anders: Diese gesellschaftlichen Verhältnisse verlangen ihre Aufhebung.

Für die antikapitalistische Linke bedeutet dies, dass sie im Hinblick darauf nur dann Wirksamkeit  entfalten wird, wenn sie sich selbstkritisch auf ihre eigene Geschichte bezieht, statt verkürzend bestimmte sinnvolle soziale Sicherungssysteme der DDR, die mit deren Beitritt untergegangen sind, als Surrogat für einen tauglichen Gegenentwurf zum Kapitalismus zu nehmen.

Zum kritischen Bezug auf die eigene Geschichte gehört unseres Erachtens zu untersuchen, welche Strömungen und Konzepte der Arbeiter_innenbewegung hier und international für heute noch bedeutsam sein könnten. Insofern ist es wichtig, von der SED-affinen Geschichtsschreibung marginalisierte Entwicklungslinien aufzuspüren und der aktuellen Debatte wieder zugänglich zu machen. Das steht politisch dahinter, wenn der Schwerpunkt dieser Ausgabe mit "1918 Unser November" getitel wird, statt sich mit dem Weben von Legenden und den damit einher gehenden Geschichtklitterungen des herrschenden medialen und politischen Personals zu befassen. Gleichwohl sind wir uns bewußt, dass wir mit dem vorgelegten Textmaterial nicht über einen propädeutischen Ansatz hinauskommen. Allerdings wäre der Anspruch, in einem Online-Magazin mehr als das leisten zu können, schlicht vermessen.

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Es wäre es auch ein schwerwiegender Fehler anzunehmen, dass die Untersuchung der Geschichte der  Klassenkämpfe nach dem Motto "Die richtigen Antworten für heute liefert uns die Geschichte" von der Ausgabe einer Realanalyse des zeitgenössischen Kapitalismus entbindet. In diesem Sinne beschäftigt sich der "Arbeitskreis Kapitalismus aufheben" mit der aktuellen Wohnungspolitik und deren polit-ökomischen Grundlagen. Dazu gehört allerdings nicht nur das Verständnis für die Kapitalverwertungsprozesse in diesem Wirtschaftszweig, sondern auch die Entwicklung einer politischen Programmatik, die ihre Denkgrenze nicht im Reformismus hat, sondern einer politischen Praxis zweckdienlich ist, die die Überwindung des Kapitalismus anstrebt. Als Beispiel dafür seien die Vorschläge "Den kommunalen Wohnungsbau als Klassenfrage behandeln" von Karl-Heinz Schubert genannt. Hier sei angemerkt, dass es in den Diskussionen mit der INKW nicht gelungen ist, deren reformistischen Denkgrenzen über die Affirmierung des Kapitalismus hinaus zu verschieben. Bedauerlich war es vor allem festzustellen, dass gerade Vertreter_innen aus dem trotzkistischen Spektrum, die im Arbeitskreis der INKW als lenkende Stichwortgeber fungieren, solche notwendigen Diskursverschiebungen trickreich abwehrten. Mit ihrer Fokussierung auf das angeblich nur Machbare haben diese Kräfte auch kein Problem, sich in stadtpolitischen Bündnissen zu betätigen, die, wie oben beschrieben, Wohnungspolitik als Lebensreform betreiben.

Dass lebensreformerische Stichwortgeber im linken Spektrum mittlerweile akkreditiert sind, hat nicht nur damit zutun, dass durch den Einfluss von Anarchist_innen das bürgerlich-monadenhafte Politikverständnis "der ersten Person" im linken Spektrum theoretisch grundiert wird, wie Peter Bierl in seinem Aufsatz "Der Geheimbund der Revolutionäre" aufzeigt, sondern dass ab den 1970er Jahren bis heute Anthroposoph_innen und Gesellianer_innen eine ideologische Assimilation vollzogen, deren heutige Protagonist_innen weder das eine noch das andere sind, sondern eine spezifische Mixtur ihrer Akkulturation. Indem die Akkulturation der lebensreformerisch-völkischen Kräfte durch die Parteigründung der Grünen wie durch einen Durchlauferhitzer befördert wurde, überwanden die Lebensreformer_innen nicht nur ihre gesellschaftspolitische Isolierung, sondern konnten sich vor allem in existenz-phobischen Mittelschicht-Milieus verankern. Tendenz beständig zunehmend.
 

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