Editorial
Der autoritäre Staat und seine Apologeten

von Karl Mueller

10/10

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Zum 20. Jahrestags des Beitritts der DDR machte der BRD-Staat während der Feierlichkeiten durch seine Lautsprecher Wulff und Gauck deutlich, was "das Volk" unter Staatsraison heute zu verstehen hat. Während Wulff die bekannten Worthülsen abließ: "Wir sind ein Volk! Dieser Ruf der Einheit muss heute eine Einladung sein an alle, die hier leben. Eine Einladung, die nicht gegründet ist auf Beliebigkeit, sondern auf Werten, die unser Land stark gemacht haben." machte Gauck klar, was unter "stark machenden Werten" zu verstehen sei: "Die «Abgehängten unserer Gesellschaft» müssen wieder Eigenverantwortung erlangen." Und ließ keinen Zweifel aufkommen, wer und was gemeint sei, denn er berief sich nämlich ausdrücklich auf die rassistischen Konzepte der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig und ihres Förderers, den Bezirksbürgermeisters von Neukölln, Heinz Buschkowsky (SPD).

Für Rudi Dutschke war in Anlehnung an Horkheimer (1942) der bürgerliche Staat in den Metropolen des Spätkapitalismus zum autoritären Staat mutiert, dessen ökonomische Basis von ihm und Hans-Jürgen Krahl folgendermaßen beschrieben wurde:

"Außerökonomische Zwangsgewalt, Staat und andere Überbauphänomene greifen derart in die Warenzirkulation ein, daß die abstrakte Arbeit durch ein gigantisches institutionelles Manipulationssystem artifiziell reproduziert wird. Ebenso greift sie in die Warenproduktion der Ware Arbeitskraft ein. Wenn der technische Fortschritt der Maschine zwar potentiell die Arbeit abschafft, aber faktisch die Arbeiter abschafft und eine Situation eintritt, in der die Herrschenden die Massen ernähren müssen, wird die Arbeitskraft als Ware tendenziell ersetzt. Die Lohnabhängigen können sich nicht einmal mehr verdingen, die Arbeitslosen verfügen nicht einmal mehr über ihre Arbeitskraft als Ware."

Wulff und Gauck als Charaktermasken dieser trefflich beschriebenen ökonomischen Verhältnisse und Apologeten des autoritären Staates müssen natürlich anerkennen, dass der Staat unter solchen Bedingungen und unter dem aktuellen Druck einer tiefen ökonomischen Krise erhebliche Legitimationsverluste zu verzeichnen hat. Und zwar gerade deshalb, weil sein bisheriges Image durch seine Funktion als so genannter Sozialstaat bestimmt war. Was übrigens vor 20 Jahren die Mehrheit der BürgerInnen der niedergehenden DDR zum beschleunigten Beitritt animierte.

Den sozialen Verwerfungen (2008: Armutsgefährdungsquote in der BRD im Durchschnitt 18 % = 14,7 Millionen gesamt) als zentrale Ursache der Staatsverdrossenheit soll nach Meinung des herrschenden politischen Personals mit massiven staatlichen Maßnahmen entgegengetreten werden. Thilo Sarrazin, wegen seines Sozialdarwinismus der Form halber von Seinesgleichen kritisiert, bringt die zu ergreifenden Maßnahmen auf den Punkt: Arbeitspflicht für Erwerbslose - "Entscheidend ist, das sie ausnahmslos eingefordert wird und die Anforderungen in Bezug auf Pünktlichkeit, Disziplin und Arbeitsbereitschaft dem regulären Arbeitsleben möglichst nahe kommen." (Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 183)

Kirsten Heisig - in Regierungsetagen und Medien dagegen uneingeschränkt beliebt - vertritt die Ansicht, dass nur ein starker Staat ein richtiger Staat sei. Ihre Zielgruppe ist vor allem die Schuljugend, deren Widerstandskraft frühzeitig gebrochen werden muss, damit sie sich dem fügt, was Sarrazin und Co. nach Beendigung der Schulpflicht an Arbeitspflichtmaßnahmen bereithalten.

Karl-Heinz Schubert wird am 18.10.2010 die "Kampfschriften" von Heisig & Sarrazin vorstellen.  Er wird zeigen, das deren Bücher dem herrschenden politischen Personal die passenden Feindbilder und Vorschläge für den Ausbau des autoritären Staates liefern.

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20 Jahre Beitritt, 20 Jahre deutsche Einheit haben uns motiviert, in unserem Archiv zu kramen. Und tatsächlich konnten wir noch die Oktobernummer 1990 des TREND-Print finden, die wir nun online stellen. Hier geht es weniger um Nostalgie, sondern darum zu überprüfen, ob sich damalige Prognosen erfüllt haben. Zur Beantwortung dieser Frage empfehlen wir u.a. folgende Artikel: "Demosplitter", S.4, "Wider die stillschweigende Anpassung", S.8 und "Der Ermittlungsausschuss stellt sich vor" S.12

Aber wir wollten nicht nur zurückblicken, sondern auch zeitgenössische Einschätzungen zu "20 Jahre Einheit" publizieren. Anne Seeck, DDR-Bürgerin bis zum Beitritt, bilanziert aus heutiger Sicht ("Die deutsche Vereinigung und die Folgen") nicht nur den Umgang mit diesem historischen Ereignis sondern auch die Bewertung der DDR einerseits aus "Wessie"-Perspektive und andererseits durch Ostalgie. Ihren Aufsatz ergänzen wir mit Statements aus anderen politischen Zusammenhängen, die u .E. zu vergleichenden Diskussionen anregen.

Allerdings ist allen Texten gemeinsam, dass unterlassen wird, zu untersuchen, welche Klassenstruktur sich im Beitrittsgebiet in den letzten beiden Jahrzehnten herausgebildet hat. Hier interessieren uns weniger begriffliche, d.h. erkenntnistheoretische  Probleme, sondern eher soziologische Fakten, die illustrieren, wie und wodurch die herrschende Klasse der DDR Teil der bürgerlichen Klasse der BRD werden konnte und welches Ausmaß die Proletarisierung auf dem ehemaligen Territorium der DDR nahm und wie dadurch die proletarische Klasse der BRD insgesamt neu zusammengesetzt wurde.

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Am 2.10 2010 führten wir im Rahmen der Berliner "Herbstaktionstage" eine Veranstaltung zur Erinnerung an den Häuserkampf in Westberlin 1981 durch. Dort mussten wir in der Diskussion erneut erleben, wir schwer es ist,  praktische Antworten auf die Frage zu finden, wie der Kampf gegen den kapitalistischen Stadtumbau mit den Betriebskämpfen zusammenzubringen ist. Und zwar Antworten die nicht  rein additiv nur ein Bündnis für eine Kampagne an einem Punkt darstellen, sondern die strategisch und konzeptionell von der Errichtung einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus bestimmt sind. Unter diesem Gesichtspunkt halten wir es für spannend, die in dem Papier "Am Anfang war eine informelle Arbeiterpartei..." der INNSE-GenossInnen vorgeschlagene Gründung von informellen ArbeiterInnengruppen als Einstieg in eine umfassende und dauerhafte politische Organisierung der proletarischen Klasse bezogen auf die hiesigen Verhältnisse zu diskutieren. Ergänzend sollte unbedingt das Papier
Einige Gedanken zu Betriebsgruppen
in so eine Diskussion einbezogen werden.

Vielleicht werden wir diese Diskussion führen, wenn wir am 21./22. Januar 2011 "15 Jahre TREND online" feiern und in diesem Rahmen einige Veranstaltungstage organisieren. Soviel darf jedoch heute schon verraten werden. Die Räume dafür sind im Mehringhof bereits fest gebucht.

TREND(s) im Netz - hier die jüngsten Zahlen:

Die BesucherInnenzahlen vom September 2010, in Klammern 2009, 2008

  • Infopartisan gesamt:  117.754   (124.569, 102.115)
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  • 1.396 BesucherInnen verbuchte die Agit 883 Seite.
  • Es wurden 2.174  Ausgaben der Agit 883 aufgerufen
     
  • 4.195  BesucherInnen besuchten das Rockarchiv
  • 7.273  Seiten wurden im Rockarchiv abgerufen
  • 1.339 Seiten wurde in der "Berlin-Szene" besucht

Die am meisten gelesene Seite im September 2010 war:
Portal-Seite Infopartisan
http://www.infopartisan.net   8.556

Der am meisten gelesene TREND-Artikel im September 2010:

Die französischen Trabantenstädte oder Die Ethnisierung des Sozialen
785
http://www.trend.infopartisan.net/trd1204/t031204.html

Der am meisten gelesene TREND-Artikel der 09/2010- Ausgabe im September:
Alex Feuerherdt: Wir machen uns die Welt, wiede wiede wie sie uns gefällt!

http://www.trend.infopartisan.net/trd0910/t140910.html   348

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