Am Anfang war eine informelle Arbeiterpartei...

von einer ArbeiterInnengruppe bei INNSE

10/10

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Sich als Arbeiter zu organisieren und als solche zu handeln, ist bereits ein Programm. Sobald die Arbeiter
sich als solche zusammenschliessen und einen Ausweg aus ihrer prekären gesellschaftlichen Lage suchen, finden
sie schon bei der Suche die Mittel und Wege, um diesen Ausweg in die Tat umzusetzen. Sie brauchen kein fertiges
Programm, bis in alle Einzelheiten ausgearbeitet, mit einer Liste von Forderungen, halbwegs zwischen grossspurigen
Zielen und kleinen, vergänglichen Ergebnissen.

Diese Partei richtet sich auf einem Gebiet ein, das nicht geografisch, lokal oder national begrenzt ist: Es
ist ein gesellschaftliches Territorium, auf dem sie ihre Kraft entfaltet. Die Fabrik oder irgendein Arbeitsplatz, wo
es eine Arbeitergemeinschaft gibt, das ist das Gebiet der Arbeiterpartei. Dort muss ein unerbittlicher Kampf gegen
die politischen Parteien der andern Klassen geführt werden. Der politische Einfluss auf die Arbeiter kommt von
ausserhalb dieses Gebiets; die politischen Parteien beinflussen die Arbeiter zu Hause, am Wohnort, als Einwohner,
als Staatsbürger unter Staatsbürgern; die Arbeiterpartei hat ein Gebiet zur Verfügung, das von der Politik verlassen
ist. Bei der Teilung der Macht obliegt es dem Unternehmer, seine Leute direkt zu verwalten; es wird keine
Einmischung geduldet, die Produktion ist heilig. Die Arbeiterpartei kann diesem Umstand zu ihren Gunsten ausnutzen,
die Arbeitergemeinschaft kann diesen Hohlraum ausfüllen, indem sie zu einer unabhängigen und eigenständigen
Art von politischem Handeln findet.

Die Arbeiterpartei führt den Widerstand der Arbeiter über die versöhnlerische Gewerkschaftspolitik hinaus.
Die alte Gewerkschaftspolitik des kleineren Übels („Lieber den Spatz in der Hand...“) wird von der Wirtschaftskrise
überrannt, die den Arbeitern nicht einmal mehr das „kleinere Übel“ gewährt, sondern sie mit weniger
als Nichts dastehen lässt. Statt aus der Wirtschaftskrise – als Beweis für den Bankrott der auf dem Profit aufgebauten
Produktionsweise – Kraft zu schöpfen, verständigen sich die eingespielten Gewerkschaftsführer darauf,
mit sozialen Abfederungen das Elend der Arbeiter zu verwalten, in der Erwartung, dass der Sturm vorübergehe.
Gesetzt den Fall, dass das Unwetter nicht so schnell vorbeigeht und dass die Überwindung der Krise unerträgliche
Opfer verlangt, so dass die Arbeiter im Widerstand gegen die Auswirkungen der Krise zur Überzeugung gelangen,
dass die Zeit für diese Art von Produktion und Austausch abgelaufen ist und dass sie überwunden werden
muss, in welche Richtung und auf welche Perspektiven hin müssen wir uns dann bewegen? Wird es dann nicht
vielleicht die Aufgabe der informellen Arbeiterpartei sein, mit der Ausarbeitung von Antworten zu beginnen?

Die Tatsache, dass namhafte Teile der Arbeiter den klassischen parlamentarischen Parteien fremd gegenüber
stehen, zeigt sich auf alle Arten. Nicht so sehr in der Stimmenthaltung, die eine zahlenmässig bedeutende Erscheinung
ist, als vor allem in der Militanz, im konkreten Beitrag zur Unterstützung dieses oder jenes politischen
Vorhabens. Die Parteien, die wir kennen, fischen ihre Führungsgruppen und Mitglieder aus den andern Klassen,
sie sind Ausdruck von andern gesellschaftlichen Klassen. An der aktiven Mitgliederbasis der Parteien, die sich als
Parteien der Arbeiter (“dei lavoratori”) bezeichnen, finden wir bestenfalls Lehrer, Angestellte, Techniker, aber nie
Arbeiter. Die Arbeiter hingegen, seit sie auf dem Schauplatz der Gesellschaft aufgetaucht sind, haben Organisatoren,
Agitatoren und Propagandisten hervorgebracht, welche Parteien mit grossen Mitteln und grosser finanzieller
Unterstützung in den Sack gesteckt haben. Können heute die Arbeiter keine derartige politische Schicht mehr hervorbringen?

Sind sie nicht mehr in der Lage, Kämpfer für ihre Sache hervorzubringen? Diese Möglichkeit zu verneinen,
kommt andern gelegen, nicht uns selber; es kommt darauf an, für welche Partei man sich einsetzen soll,
für welche Partei zu kämpfen man anfangen soll, und eine Möglichkeit ist heute gegeben: Man kann Mitstreiter
und Organisator für eine Partei werden, die unser ist, für eine Arbeiterpartei, oder wenigstens die ersten Schritte in
diese Richtung tun. Die Programme und Organisationsformen werden wir miteinander finden, wenn wir uns allmählich
als Klasse und damit als unabhängige politische Partei zusammenschliessen.

Am Anfang soll jeder bleiben, wo er ist, und weiterhin mit den politischen Formationen sympathisieren,
mit denen er will, sich an den Aktivitäten von Komitees, autonomen Zentren, dieser oder jener Basisgewerkschaft
beteiligen. Die informelle Arbeiterpartei verlangt keine Glaubensbekenntnisse, als vielmehr dass man damit beginne, als Arbeiter zu denken und zu handeln, zu allen Fragen, die uns direkt betreffen, einen eigenen Standpunkt
zu erarbeiten und zu vertreten. Die grosse Krise hat den Nebel aufgelöst, der den Interessengegensatz, auf dem
diese Gesellschaft aufgebaut ist, verschleiert hatte: Wo ist die produktive Arbeit von Millionen Arbeitern all dieser
Jahre verschwunden? In den Taschen der Unternehmer, in den Kassenschränken der Banken, in den goldenen
Gehältern der Staatsbeamten. Den Arbeitern blieben die Brosamen -und heute das Elend. Es ist zum Lachen, mit
welcher Frechheit sie von allen, uns eingeschlossen, verlangen, gemeinsam Opfer zu bringen um die Krise zu überwinden.

Die Krise jedoch ist die Krise ihres Systems. Es ist ihre Art, aus unserer Arbeit Reichtum anzuhäufen,
die an an einem bestimmten Punkt in sich zusammengefallen ist. Und nun sollten wir wie kopflose Lämmer uns
bereit erklären, weitere Opfer zu bringen, damit sie sich noch mehr bereichern können, bis dann eine neue, noch
erschütterndere Krise auf uns wartet? Heissen wir die grosse Krise willkommen! Die sozialen Revolutionen reifen
dort heran, wo die alten wirtschaftlichen Strukturen nicht mehr in der Lage sind, ihren Ablauf von Kapitalanhäufung
fortzusetzen. Die Arbeiterrebellion ist heute zu einer realen Möglichkeit geworden. Die direkt produktive
Arbeit der Arbeiter kann für eine andere Gesellschaftsordnung ohne Unternehmer, Banker und gut bezahlte
Staatsbeamte verwendet werden, sie kann den Arbeitern selber dienen.

Wir haben keine Zeit, die Kapitalbesitzer werden an einem bestimmten Punkt darauf angewiesen sein, die
Befehlsgewalt über die Gesellschaft zu zentralisieren, die Beziehungen zwischen den Klassen neu festzulegen, um
den Vorgang der Kapitalanhäufung wieder in Gang zu setzen. Sie selber werden die Arbeitsweise der politischen
und staatlichen Institutionen in Frage stellen. Wenn die demokratische Form ihnen nicht mehr dient, werden sie
die ersten sein, die ihre Überwindung fordern. Verdammen wir uns nichts selbst dazu, unter jenen zu sein, die
immer die Vergangenheit verteidigen, neben der Republik der Unternehmer, kann es in der geschichtlichen Reihenfolge
auch die Republik der Arbeiter sein. Wenn den Unternehmern, um ihr Kapital zu retten, Kraftproben auf
dem Weltmarkt dienen, werden sie „aus Notwendigkeit auf den Krieg hinsteuern“. Die ständigen Aufrufe zur nationalen
Einheit gehen in diese Richtung. Wer wird sie aufhalten können, wenn nicht die Arbeiter, die eine internationale
Klasse sind? Arbeiter, wir haben keine Zeit! Eine Parteiorganisation ist nötig, die -in jeder Fabrik anwesend
-damit beginnt, sich ohne unnütze Formalitäten zu bilden und stattdessen schon heute anfängt zu handeln.
Es ist kein Zufall, dass ab und zu sich jemand daran erinnert, dass die lebendigen Arbeiter aus Fleisch und Blut
existieren und dass niemand fähig ist, sie politisch zu vertreten. Wir haben die Absurdität, dass die Lega von Bossi
sich die Fähigkeit anmasst, auch Arbeiterschichten „des Nordens“ zu vertreten und einige Sektionen in den Fabriken
gründet. Ausgerechnet die Lega, welche die übelsten Unternehmer und Kleinunternehmer vertritt, die um
Profit zu machen zu einer unerhörten Ausbeutung der Arbeiter fähig sind! Die Arbeiterpartei wird – indem sie
sich auf dem ihr eignen Gebiet, in der Fabrik, Achtung verschafft – alle andern auf Trab halten und die klassenübergreifende Farce von den „Norditalienern“ („Padani“) auflösen. Denn dort, wo es einen Unternehmer gibt, hat
es auch Arbeiter, der ihm den unerbittlichen Kampf ansagen. Der schreckliche Kampf zwischen den Klassen, der
so sehr Angst einflösst, auch der „kämpferischen und regierungsverantwortlichen“ Lega (Lega di „lotta e di governo“).

Nun sind einige Anmerkungen zu machen zu unserem Lager, zu den von der Krise betroffenen Arbeitern
und jenen, die auf irgendeine Art behaupten sie zu vertreten. Die gesellschaftliche Struktur in Italien bringt immer
neue poltische Gruppen hervor. Wir stehen nicht nur einer Masse von Gewerbetreibenden und Krämern gegenüber,
sondern auch Selbständigerwerbenden sowie Staatsangestellten und freien Berufen, Angestellten in der Produktion,
die die Ausbeutung der Arbeiter verwalten... Jeder mit seinen eigenen wirtschaftlichen und eigenen politischen
Interessen. Es stimmt zwar, dass die Krise für viele, die geglaubt hatten, eine befriedigende Arbeit und
Anstellung gefunden zu haben, einen sozialen Abstieg hervorbringt. Unter allen Arbeitenden wächst die Unzufriedenheit,
das ist das Ergebnis der Krise. Die politischen Antworten, die jeder dieser Sektoren gibt, entspricht
den besonderen gesellschaftlichen Bedingungen, die sie verspüren und die sie voneinander unterscheiden. Die
Staatsangestellten wollen die Verteidigung des „öffentlichen Dienstes“, die Angestellten des Handels eine Politik
der Ankurbelung des privaten Konsums, die Forscher eine Förderung der nationalen Forschungsprojekte, und so
weiter... Lassen wir hier den eigentümliche Wahn beiseite, Linksparteien links von der Rifondazione zu erfinden,
jede in der Hoffnung, in den regionalen, kommunalen Behörden oder im Parlament wieder eine Rolle zu spielen.
Sprechen wir lieber von den verschiedenen Versuchen: Koordinationskomitees, Basisgewerkschaften, autonome Zentren, Studentenkomitees, die alle im Kampf um die Vorherrschaft miteinander wetteifern, ins Leben zu rufen,
und sagen wir ihnen, dass es ohne das Auftreten der Arbeiter keine echte Alternative zu diesem System gibt, dass
ohne die zentrale Bedeutung der Arbeiter („centralità operaia“) die kleinen Gruppen nicht überwunden werden
können. Ab sofort, auch auf informelle Weise, eine Arbeiterpartei zu gründen, das ist im Interesse all jener, welche
die Absicht haben, die Krise zu benützen, um diese Art von Produktion und Austausch in Frage zu stellen.
Vom kläglichen „eure Krise bezahlen wir nicht“ werden wir übergehen zum Schlachtruf „Unternehmer, wir werden
in der Krise mit euch abrechnen“. Sollte hingegen die notwendige Vereinigung der Arbeiter zur Partei als
neue, zentrale Tatsache anerkannt werden, könnte ein wichtiger Beitrag auch von jenen Mitstreitern kommen, die
selber zwar keine Arbeiter sind, jedoch mühsam aus eigener Erfahrung, aus theoretischer Aneignung dazu gelangt
sind, die Rolle zu begreifen, welche die Arbeiter in der Möglichkeit der Überwindung dieses Systems haben.

Vom Sprechen über die Arbeiterpartei überzugehen zu ihrer Gründung, ist ein sehr schwieriger Sprung.
Nahezu unmöglich, aber die unmöglichen Aufgaben, einmal verwirklicht, können sich als die einzigen erweisen,
die grosse Resultate bringen. Bei INNSE hat die informelle Arbeiterpartei vorgemacht, was eine Arbeitergemeinschaft,
die einig ist und weiss, wohin sie will, zustande bringen kann. Warum nicht in anderen Fabriken die gleiche
organisatorische Praxis versuchen? Kurzum, ist es derart schwierig, an allen Arbeitsplätzen, unter Arbeitern,
sich als Sektion einer noch informellen Partei, die ihren Wegen finden muss, zu verstehen und zu vereinen? Die
Antwort kann nur aus den Betrieben kommen. Zum Zeitpunkt, in dem wir uns gegenseitig bewusst werden, dass
dieses Projekt anfangen kann auf eigenen Füssen zu stehen, können wir mit öffentlichen Versammlungen in den
verschiedenen Industriezentren anfangen und zu neuen Gedankengängen übergehen. Die weltlichen Prediger der
politischen Klein- und Kleinstgruppen, die sich an die Lohnabhängigen richten, werden diesen Vorschlag
hinlänglich prüfen und sogleich als Sektiererum verwerfen, oder versuchen ihn totzuschweigen. Sie haben jedoch
auf der ganzen Linie versagt: Bei ihren öffentlichen Auftritten langweilen sie die Leute mit den üblichen Litanein
über die Kämpfe, die nie organisiert werden, über die Verallgemeinerungen der Initiativen, die sich in einer privaten
Vereinbarung zwischen zwei oder drei Individuen erschöpfen, über die Hirngespinste grosser Bewegungen,
die sich nie bewegen, über ihre unklaren Ziele. Nun, wenn es den fortgeschrittensten Arbeitern nicht gelingt, mit
diesen Leuten abzurechnen, dann wird es sehr schwierig in Richtung einer Arbeiterpartei zu gehen. Aber auch von
dieser Seite her hilft uns die Krise: Der Zusammenprall zwischen Arbeitern und Unternehmern wird immer heftiger,
und für manches Geschwätz über eine linke politische Verwaltung des reformierten Kapitalismus ist die Zeit
abgelaufen.

Diese Anmerkungen sind von einigen Arbeitern der INNSE diskutiert und überarbeitet worden. Es sind
dieselben, die den langen Kampf angeführt haben und sich dabei die Anerkennung ganz vieler, die sie dabei unterstützten, erworben haben. Was wir verlangen, zum Besseren oder zum Schlechteren, ist eine Antwort auf die
Fragen, die wir gestellt haben. Besser als Schweigen und Gleichgültigkeit... Es ist unsere Absicht, allen zu
antworten. Falls Zustimmungen zum Projekt kommen werden, werden wir rasch möglichst, noch vor den
Sommerferien, eine öffentliche Versammlung organisieren, um uns zu treffen und die nächsten Schritte
festzulegen. Auf der Tagesordnung wird nicht das abgenützte Verlangen zur Koordinierung der Kämpfe stehen;
wie aus der Krise herauszukommen ohne den Mut zu haben, über den Kapitalismus hinauszuschauen; zu retten,
was zu retten ist. Das Thema wird schlicht und einfach die Organisierung der Arbeiter zur Partei sein;
festzustellen, in welchen Betrieben es möglich ist oder bereits begonnen hat; wir werden darüber diskutieren, wie
ihre Tätigkeit zusammengefasst werden kann. Das kann tatsächlich zur poltischen Wende führen, zu der uns die
grosse Krise gezwungen hat. Das wäre ein Resultat von geschichtlicher Bedeutung. Es liegt an uns!

Editorische Anmerkungen

Wir spiegelten den Text von http://www.netzwerkit.de/projekte/innse/partopinf/view 

Infos zum 16monatigen Kampf bei INNSE Mailand unter  http://www.labournet.de/internationales/it/innseindex.html