Texte  zur antikapitalistischen Organisations- und Programmdebatte

08-2012

trend
onlinezeitung

 

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011/12 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Red. Vorbemerkung: Im Nachgang zu unserem TREND-Gespräch Nr. 8 "Revolutionärer Kommunismus in der Partei DIE LINKE – Geht das?" mit GenossInnen der Proletarischen Plattform veröffentlichen wir eine Stellungnahme des Gen. Dockerill  im Hinblick auf die Entscheidung der "Plattform" sich in der PdL mit der  Antikapitalistischen Linken (AKL) zusammenzuschließen. Wenngleich die Orientierung der "Plattform" nicht auf eine Organisierung links von der PdL abstellt, beinhaltet dieser Aufsatz einige bedenkswerte Aspekte für den NaO-Prozess.

Der Geist des Klassenkampfes auf der Höhe der Zeit
von Daniel D
ockerill - Proletarische Plattform 

Auf ihrem letzten Bundestreffen hat die proletarische Plattform beschlossen, ihre Aktivitäten in der Partei DIE LINKE vorläufig auf die Mitarbeit in der Arbeitsgemeinschaft der Antikapitalistischen Linken (AKL) zu konzentrieren. Ausschlaggebender Grund dafür war die Entscheidung der AKL, sich auch auf Bundesebene als formeller Zusammenschluss in der Partei zu konstituieren. Indem die AKL sich selbst auf verbindlichere organisatorische Strukturen festlegt, so steht zu hoffen, bietet sie der Zusammenarbeit und Auseinandersetzung der Linken in der Partei eine institutionalisierte Form. Ob es eine sachliche Grundlage für eine solche Zusammenarbeit überhaupt gibt und wie sie gegebenenfalls auszusehen hätte, bleibt in der Auseinandersetzung noch zu klären. Dazu seien im Folgenden ein paar Überlegungen skizziert und zur Debatte gestellt.

Zwitterwesen: DIE LINKE

Die Partei DIE LINKE (s. dazu die Thesen der proletarischen Plattform zu Klasse und Politik heute) ist das politische Feld, auf dem für die Formierung der lohnabhängigen Klasse zu neuer politischer Selbständigkeit in Deutschland zurzeit immer noch die entscheidenden Weichenstellungen passieren.

Die vor vier bis fünf Jahren manifest gewordene Weltwirtschaftskrise hält insbesondere große Teile Europas nach wie vor fest im Würgegriff. Davon wird auch Deutschland auf Dauer nicht verschont bleiben. Noch jedoch lässt die dann unvermeidliche neuerliche Eskalation der sozialen Gegensätze in Deutschland mit all der ihnen innewohnenden Destruktivkraft auf sich warten. Das gewährt der hiesigen Linken innerhalb wie außerhalb der linken Partei einen gewissen Aufschub. Zu welcher Seite die Gewichte des politischen Zwitterwesens DIE LINKE ausschlagen werden, falls es einmal drauf ankommen sollte, bleibt zunächst weiterhin offen.

Im Osten war die PDS und ist DIE LINKE vor allem die Partei eines aus der so genannten Wende hervorgegangenen mittelständischen Milieus ostdeutscher Prägung ohne relevante Verbindungen in die dort ohnehin schwach organisierte Arbeitbewegung hinein. In diesem spezifisch deutsch-provinziellen Sinne ist sie dort Volkspartei und also gepolt auf Mitregieren um fast jeden Preis – allerdings an sich selbst ohne jede Aussicht auch auf Bundesebene eine maßgebliche Rolle zu spielen.

Diese schien sich erstmals zu eröffnen, als im Westen der Republik in Gestalt der WASG ein wenn auch der Zahl nach eher geringer, so doch politisch durchaus relevanter Teil der organisierten Arbeiterbewegung sich von der Vormundschaft der SPD befreit und selbständig gemacht hatte. Auch dieser neue politische Ansatz nämlich war allein zunächst viel zu schwach, um aus dem Stand auf Bundesebene eine irgend gewichtige Rolle zu spielen. Die politische Konstellation, der man sich selbst verdankte, ließ aber keine Zeit, in einer längeren Wachstumsphase eigene Stärke zu gewinnen. Es schien daher ein Gebot bitterer Vernunft, sämtliche völlig berechtigten Vorbehalte gegen die PDS zurückzustellen und sich mit ihr zu arrangieren.

Seither ist um DIE LINKE herum, mit ihr und in ihr politisch allerhand passiert und hat eine Menge verändert. An jenen Momenten der politischen Konstellation ab dem Sommer 2005 aber, welche die beiden höchst divergenten politischen Gebilde, aus denen sie komponiert ist, zur eher lieblosen Vernunftehe zusammentrieben, hat sich wesentlich nichts geändert. Nach wie vor sind beide ungleichen Teile aufeinander angewiesen und passen doch nicht recht zusammen.

Oder sagen wir besser: Es ist zu hoffen, dass es – immer noch – so ist. Denn es gab und gibt ein Charakteristikum, das nahezu sämtliche disparaten Bestandteile der Partei auf fatale Weise vereinigt. Es ist der deutsch-brave Aberglaube an eine Instanz, die über allen sozialen Gegensätzen waltet und dem gemeinsamen Wohl der widerstreitenden Interessen verpflichtet ist oder jedenfalls sein sollte. Diesen Denkhorizont überschreiten übrigens auch jene Linken in der LINKEN nicht, die zurzeit die Parole ausgeben, die Partei müsse sich von der Fixierung auf die Parlamente weg und zur „Basis“ und auf „die Bewegungen“ hin orientieren. Denn so wenig die Parlamente über den die Gesellschaft durchziehenden Gegensätzen thronen, sondern vielmehr sie verhandeln und mehr oder weniger durchsichtig machen, so wenig zusammenstimmend und gar überparteilich können die da beschworene „Basis“ und „Bewegungen“ sein. Sie sind im harmloseren Fall Projektionsfläche eines Mythos’ vom wahrhaft Allgemeinen, zu dem die klassenpolare Wirklichkeit es noch gar nicht gebracht hat. Im schlimmeren Fall kündeten sie gar, auch dafür gibt es leider gewisse Anzeichen, von einer Neuinszenierung jenes Grauens, womit „die Bewegung“ (so dereinst die Selbstbezeichnung des Nationalsozialismus) das vom Klassenkampf tief zerrissene Deutschland zur Volksgemeinschaft nachhaltig zusammenzwang.

Kein höheres Wesen: der Staat

Dem stellt sich die Erwägung entgegen, womit vor etwa 150 Jahren die erste internationale Arbeiterpartei der Weltgeschichte ihre Statuten eingeleitet hat: „dass die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muss“.

In dem Gedanken ist zweierlei impliziert.

Zum einen enthält er die Absage an jegliche Hoffnung auf Hilfe für die besitzlose und daher lohnabhängige Klasse von anderer Seite; weder von Seiten derer, die auf eben dieser Besitzlosigkeit ihre ganze Daseinsweise gründen, noch von dritter, staatlicher Seite, die es doch nur wegen des sozialen Gegensatzes von Besitzlosen und Besitzenden gibt, den sie zu bewahren hat. Im verklärenden Blick zurück mag es uns momentan vielleicht so vorkommen, als hätte früher einmal irgendein philanthropischer Geist klassenübergreifend dahin gewirkt, dass dem lohnabhängigen Teil der Bevölkerung mehr Gerechtigkeit widerfuhr. Näher besehen zeigt sich jedoch, dass die Bourgeoisie und ihr politisches Personal immer nur dann, wenn sie ihre eigene Existenz als Bürger bedroht sahen, von philanthropischen Anwandlungen heimgesucht wurden und sich – provisorisch versteht sich (die Bonner Republik zum Beispiel war bekanntlich auch offiziell ein einziges solches Provisorium) – dazu breitschlagen ließen, die Ketten der Lohnabhängigkeit – wenn sie nur nicht gesprengt werden! – hier oder dort etwas zu lockern. Nichts spricht dafür, dass das inzwischen anders wäre.

Dass die lohnabhängige Klasse ihre Befreiung von der Lohnabhängigkeit selber bewerkstelligen muss, impliziert aber noch einen zweiten Aspekt: Als die Klasse, die sie an sich, also unabhängig davon, was die Lohnabhängigen selbst darüber denken, objektiv ist, muss sie für sich selbst und alle andern, an der Oberfläche der Gesellschaft auch praktisch in Erscheinung treten. Sie muss im Alltagsbewusstsein der sie bevölkernden Individuen wieder präsent sein, sie muss wieder lernen, im politischen Alltag ihr spezifisches Gesicht zu zeigen. Eine Linke, die in Formeln wie „Basis“, „Bewegungen“ etc. das Subjekt der Emanzipation bloß unspezifisch beschwört und so dessen Klassencharakter weiterhin bis zur Unkenntlichkeit im Trüben belässt, leistet ihm einen schlechten Dienst.

Für die Linken in der LINKEN wird es in der näheren Zukunft vielmehr darauf ankommen, ob sie sich der Aufgabe stellt, dabei zu helfen, dass die lohnabhängige Klasse ihr politisches Gesicht wieder zurückgewinnt. In negativer Hinsicht bedeutet das, überall wo Lohnabhängige, ob beschäftigt oder unbeschäftigt, sich bewegen, in Aktion treten, sich organisieren, namentlich also in den Gewerkschaften und vor allem in der linken Partei selbst, jeglicher Tendenz entgegenzutreten, sich mit den Interessen der deutschen Bourgeoisie gemein zu machen.

Für die Gewerkschaften heißt das insbesondere, ein Konzept zu entwickeln, das geeignet ist, der dort grassierenden Standortpolitik das Wasser abzugraben, die bei der IG Metall mittlerweile wieder soweit gediehen ist, dass man u. a. ganz ungeniert von der Regierung verlangt, sie möge der deutschen Rüstungsindustrie im Kampf gegen ihre internationale Konkurrenz gefälligst unter die Arme greifen.

In der Partei wird im bereits erreichten Vorfeld der kommenden Bundestagswahlen nachdrücklich daran zu erinnern sein, warum es DIE LINKE überhaupt gibt und gegen welche Politik sie einmal sich zur neuen Partei formiert hatte. Es wird daran zu erinnern sein, dass die Aussicht auf eine künftige Regierung mit Beteiligung von SPD und Grünen nicht im Geringsten irgendetwas Gutes verhieße. Hat doch die letzte rotgrüne Bundesregierung das auf neue Militanz im Äußeren wie im Innern gepolte Programm der deutschen Bourgeoisie mit einer Rücksichtslosigkeit und Gründlichkeit zur Ausführung gebracht, wie sie Schwarz-Gelb in den sechzehn Jahren davor niemals gewagt hatte. Es wird die Lernresistenz von Leuten wie dem Chef der Thüringer Landtagsfraktion der LINKEN zu thematisieren sein, der 1997 mit der „Erfurter Erklärung“ eifrig für diese damals bereits als das größere Übel durchaus erkennbare „andere Politik“ getrommelt hatte und sich heute mit trotzigem Stolz darauf als „das erste bundesweite Signal“ beruft, „das politisch die drei Parteien SPD, Grüne und PDS mahnte, das Trennende zu überwinden“ (s. seine „Erfurter Wortmeldung“ vom Oktober 2011).

Dem ist entgegenzuhalten, dass die Partei, wo sie nicht einfach nur ihre eigene Überflüssigkeit beförderte, unweigerlich ins gegnerische politische Lager wechselte, das wir bekämpfen, sollte sie es versäumen, gerade das, was DIE LINKE von SPD und Grünen trennt, scharf herauszuarbeiten und in den Focus ihrer praktischen Politik zu rücken.

Diese negative Bestimmung proletarischer Politik bedarf allerdings dringend der Ergänzung durch eine positive; schon darum, dass sie nicht, wie gehabt, von den Politprofis des Mitregierens in der Partei als billige Geste, aus der sich keine praktische Politik ergibt, keine jedenfalls, die die Machtverhältnisse im Land verändert, locker kassiert werden kann. Vielmehr noch aber ist ein positives Aktionsprogramm deshalb vonnöten, weil Politik im Sinne einer Selbstermächtigung der lohnabhängigen Klasse zur Beendigung ihres Klassendaseins schlicht nicht geht, ohne das Problem der Handlungsmacht der Klasse im Hier und Jetzt auszubuchstabieren.

„Die Lohnarbeit“, heißt es im Manifest der kommunistischen Partei, „beruht ausschließlich auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich.“ Wie präzise das bis heute die Klassenwirklichkeit der Lohnabhängigkeit kennzeichnet, beweist hierzulande immer wieder von neuem noch jedes weitere von der Bourgeoisie aufgelegte Programm zur Reform des so genannten Arbeitsmarkts. Niederreißen sämtlicher Schranken, die im Laufe ihrer etwa 170-jährigen Geschichte die Arbeiterbewegung in Deutschland gegen diese Konkurrenz sich erstritten hat, bezeichnet die Hauptmaxime aller neueren Reformprogramme. Das in seiner Wirkung stärkste und nachhaltigste davon in den letzten zwei Jahrzehnten war und ist weiterhin die Hartz-Reform. Mit ihr gelang es der deutschen Bourgeoisie den wichtigsten Mechanismus zur Aufrechterhaltung der Konkurrenz unter den Lohnabhängigen und zur Steigerung ihrer Intensität: die durch den Gang der kapitalistischen Produktion selbst bewirkte Massenarbeitslosigkeit, mit einer Durchschlagskraft zu versehen, wie sie mindestens eine Generation von Lohnabhängigen bis dahin noch nicht kennengelernt hatte. Das soziale Klima, worin lohnabhängige Menschen in diesem Land leben und arbeiten, wurde davon gründlich umgeprägt. Armut an der Grenze des Existenzminimums oder gar jenseits davon wurde wieder Massenschicksal, das grundsätzlich alle treffen kann, die kein Vermögen besitzen, um arbeitslos existieren zu können. Dauernde Existenzunsicherheit, Angst, durch Verlust des Arbeitsplatzes buchstäblich ins Nichts zu stürzen, ist dauerhaft wieder eine massenhafte Erfahrung. Und ebenso massenhaft wächst die Bereitschaft, zu den miesesten Konditionen irgendwo sich zu verdingen, um nur der schikanösen und demütigenden Mühle der staatlichen Arbeitsverwaltung zu entkommen.

Der erreichte Zustand markiert einen gewissen Tiefpunkt der Zerstörung der besitzlosen Klasse als handlungsfähiges soziales Subjekt, daher der völligen Degradation der Masse lohnabhängiger Individuen zur Ansammlung ohnmächtiger Objekte des sozialen Geschehens. Dem total gewordenen Status als bloßem Objekt fremder Mächte entspricht dabei mit einer gewissen Logik die Fixierung auch sämtlicher Hoffnungen auf ein besseres Leben an solch einer fremden, höheren Macht: an jenem Staat, der die Bescherung soeben angerichtet hat. So weit davon entfernt, uns unsere Emanzipation selbst zu erobern, waren wir jedenfalls lange nicht mehr.

Holzweg: Staat und Klasse

Jedoch ist die Klasse damit keineswegs auf ihren Urzustand zurückgeworfen, hätte also sozusagen ihre Unschuld zurückgewonnen. Ihr traditioneller Kern, das Industrieproletariat, längst neu zusammengesetzt und sich als solches kaum mehr begreifend, erhält gleichwohl eben jene traditionellen Formen der Organisation mit einer fast erstaunlichen Hartnäckigkeit aufrecht und bleibt in hohem Grad darin organisiert. Soweit Lohnarbeit, die sich jenseits ihrer traditionellen Bereiche entwickelt hat, neu organisiert, gruppiert sie sich um die alten Organisationen und lehnt sich an sie an. Potentiell ist die Arbeiterbewegung in Deutschland nach wie vor eine enorme Macht, an der sich beispielsweise in ihren letzten Jahren noch die Kohlregierung die Zähne ausgebissen hat und deshalb Rot-Grün das Feld überlassen musste. Dass die Gewerkschaften in das Geschäft der Hartz-Reform tief verstrickt waren, war darum keine lässliche Zutat, schon gar kein Unfall, sondern wesentlich. Wie insbesondere die jüngste Entwicklung einer gleichsam dem Jungbrunnen entstiegenen SPD zudem zeigt, ist das alte Zusammenspiel der die Gewerkschaften beherrschenden Sozialdemokratie und der die Politik der Sozialdemokratie prägenden Gewerkschaften noch keineswegs ausgespielt.

Aber selbst davon abgesehen ist in der ganzen Konstitution des deutschen Staatswesens die einstige Geschichtsmächtigkeit der Arbeiterbewegung präsent. Das gesamte komplexe Gebilde der so genannten Sozialversicherungen ist institutionalisierte Geschichte der Klassenkämpfe in Deutschland, an der freilich jede Spur davon ausgelöscht scheint. Noch die Hartz-Reform mit ihrer letztlich bloß halben Demontage des deutschen Sozialstaats verweist auf diese seine Doppelgesichtigkeit: institutionalisiertes Resultat heftigster Kämpfe des Proletariats zu sein und zugleich deren gründliche Stillstellung. Sie verweist aber auch darauf, dass die Bedingung dieser eigenartigen Konstellation, die anhaltende Angst der Bourgeoisie vor dem Kommunismus und dessen brachiale Selbstverstümmelung zur Systemalternative, bis auf kümmerliche Reste schon zuvor aufgezehrt waren. Dass der Begriff der „Reform“, der einmal das Versprechen friedlich erreichbaren allgemeinen Glücks zu sein schien, als jener Schrecken kenntlich wurde, den er an sich immer schon bezeichnet hat, ist nicht umkehrbar. So auch der Sozialstaat: Er wurde nicht „abgebaut“, sondern auf seinen Wesenskern zurückführt.

Insofern ist DIE LINKE mit ihrem stolzen Programm, dem alle ihre Strömungen die Reverenz erweisen, komplett auf dem Holzweg: einerseits. Denn fast das gesamte Tableau ihrer „Reformprojekte“ ist eine Sammlung frommer Wünsche. Kaum eines der Projekte ist mit diesem Staat zu machen, kein einziges realisierbar „ohne eine Reihe von Revolutionen“ (Lenin). Nichtsdestotrotz trifft sie – mit just demselben Programm – den Nerv der Sache: andererseits. Hinter den Stand der Dinge führt nämlich auch insofern kein Weg zurück, als das Gesamtresultat der geschichtlich aufgetürmten Reformen des Staatswesens, die Institutionen, in deren Gestalt die vergangenen Klassenauseinandersetzungen in unsere Gegenwart hineinragen, ebenso wenig vornehm umgangen, gar hinterschritten werden könnten; vielmehr wird die erneut für ihre Selbstbefreiung sich zusammenfindende Klasse um diese Institutionen entschieden kämpfen müssen. Kämpfen allerdings nicht im Sinne eines links gern strapazierten „Drucks“ auf Staat und Regierung seitens der berüchtigten „Bewegungen“, die, auf ihre Staatsferne viel sich einbildend, der konkreten Gestalt der Staatsmacht, deren innerer Struktur gleichgültig gegenüberstehen und sie daher unangetastet lassen.

Was sich „sozial“ nennt am heutigen Staat, hat seinen letzten Grund in der massenhaft existentiellen Not, die das Massenschicksal der Lohnabhängigkeit mit der Konsequenz eines Naturgesetzes erzeugt. Es war diese Not, die immer schon die Lohnabhängigen dazu trieb, Schutz dagegen zu suchen in ihrer wechselseitigen Solidarität; Schutz gegen alle Fälle, in denen ihre an sich einzige Quelle, woraus sie ihr Leben bestreiten, der Arbeitslohn, versiegt. Weil aber ohne diesen Schutz die vom Klassenschicksal der Lohnabhängigkeit Betroffenen prinzipiell allesamt ohne Ausnahme gezwungen sind, bei der Erschließung jener Quelle erbittert gegeneinander zu konkurrieren, deshalb ist es im Interesse der Wirkung dieses Schutzes geboten, dass er nach Möglichkeit alle Lohnabhängigen ohne Ausnahme erfasst. Daher das an sich durchaus vernünftige Bestreben der Arbeiterbewegung die Durchsetzung ihres Selbstschutzes durch Klassensolidarität auf allgemeine, staatlich garantierte Gesetze zu stützen. Von dieser Seite betrachtet, drückt der deutsche Sozialstaat bloß aus, in welch hohem Maße die Arbeiterbewegung in Deutschland Klassensolidarität durchsetzen konnte und sie bis heute geltend machen kann. Alle Vorstellungen, in der Arbeiterbewegung den Geist des Klassenkampfes auf einem Niveau wiederzuerwecken, das dieses Maß unterschreitet, wären offensichtliche Kindereien.

Klassensolidarität ist jedoch etwas ganz anderes als das namentlich in Deutschland höchst populäre Ansinnen, in Solidarität den Kampf der Klassen zu ersäufen, wovon auch die links gepflegte Rede von der „solidarischen Gesellschaft“ – gelinde gesagt – nicht frei zu sein scheint. In handfeste Politik umgesetzt, läuft so etwas, wo nicht auf blanken Sozialchauvinismus, auf ordinäre Standortpolitik hinaus. Es ist ein diametraler Unterschied, ob die Klasse ihre Solidarität auf gesamtstaatlichem Maßstab für sich selbst organisiert oder der Staat ihr das aus der Hand nimmt. Die Konkurrenz der Lohnabhängigen untereinander ist die Bedingung ihrer Verwertbarkeit durch das Kapital, die wiederum zu garantieren, zu entwickeln und zu fördern höchster Staatszweck ist. Sozialstaatliche Verwaltung der Organisation von Klassensolidarität ist daher die Quadratur des Kreises. Das weiß niemand besser als die Bourgeoisie selbst, um deren Daseinsgrundlage es beim Kapital sich schließlich handelt. An sich würde sie darum den ganzen Sozialstaatsklimbim lieber heute als morgen einfach abschaffen. Jedoch weiß sie – aus historischer Erfahrung klug geworden – desgleichen nur zu gut, dass sie damit ihres wichtigsten Instruments zur Domestizierung der Klasse sich begäbe, deren prekäre Daseinsweise diese gleichsam naturnotwendig dazu treibt, ihre Solidarität zu organisieren.

Tagesaufgabe: Selbstermächtigung der Klasse

Nicht also um Druck auf den Staat, hinsichtlich seiner „sozialen“ Komponente großzügiger zu sein, kann es gehen, sondern darum, sie seinem Zugriff zu entwinden und der Kontrolle allein durch die lohnabhängige Klasse zu unterstellen. Dies wäre übrigens nicht zuletzt ein wichtiges Moment der zeitgemäßen Interpretation jener bekannten Forderung von Marx, dass das Proletariat zum Zweck seiner Selbstbefreiung zuerst die „bürokratisch-militärische Maschinerie“ der Staatsgewalt zerbrechen müsse. Mehr denn je steht, namentlich was die Bürokratie angeht, der Staat heute der besitzlosen Klasse nicht mehr nur schroff gegenüber, jederzeit bereit und fähig zuzuschlagen, wo und wenn die sich zusammenrottet – wenngleich im Hintergrund, von links weitgehend ignoriert, dies Moment allzeit gegenwärtig bleibt. Vielmehr hat der Staat die Klasse durch Einverleibung wichtiger Elemente ihrer Organisation durchdrungen und treibt ihre Bestandteile sozusagen auch von innen her tagtäglich aus- und gegeneinander. Ohne die gründliche Entwirrung dieses fatalen Ineinanders von Staat und besitzloser Klasse, kann von auch nur der Möglichkeit zu ihrer Selbstbefreiung keine Rede mehr sein. Die Aufgabe des Zerbrechens der Staatsbürokratie ist in weitem Umfang identisch damit, deren Tätigkeitsfelder zu verwandeln in solche von Beauftragten, die allein den demokratischen Organisationen der Lohnabhängigen verpflichtet sind. Das gilt für das ganze umfangreiche Sozialversicherungswesen, aber zum Beispiel auch für die Überwachung der Einhaltung sämtlicher Vorschriften der Arbeitssicherheit, Arbeitszeitbegrenzung etc. pp.

Dies ist aber, daran gemahnt nicht zuletzt die Hartz-Reform mit ihren akut desaströsen Folgen für die lohnabhängige Existenz in Deutschland bis in deren je individuellen Alltag hinein, keine Aufgabe für übermorgen, wenn eines schönen Tages einmal „die Revolution“ ins Haus stehen sollte. Es ist Tagesaufgabe – wenigstens zunächst in Hinsicht auf die Auseinandersetzung um Programm und politische Initiativen der LINKEN.

Mit dem Versuch, die Mächtigen im Land und in der Welt zu Einsicht und Vernunft zu bekehren, als welcher in Summe Programm und Politik der Partei daherkommen, kann die Parteirechte, die so genannten „Reformer“ (wie viel manchmal, recht bedacht, eine Name verrät!), ganz prima leben – hält er ihr doch den Weg offen, mit jenen ins Geschäft zu kommen. Es bringt sie auch kaum in Verlegenheit, wenn die Parteilinke darauf besteht, beim Zurvernunftbringen die Mächtigen durch außerparlamentarische Action zu pressen und ihnen mit Enteignung (durch wen denn?) zu drohen – wenn nur die Hauptrichtung stimmt: dass an der Struktur der Machtverhältnisse im Land für erste nichts Entscheidendes zu ändern sei. Zusammen ergäbe das vielleicht sogar eine hübsche Arbeitsteilung: die Rechte fürs Politisch-Praktische, die Linke fürs Spektakel und das Wort zum Sonntag.

Soll die Linke in der Partei so (wofür übrigens ein Teil derer, die draußen geblieben sind, vor geraumer Zeit bereits ganz explizit sich entschieden hat) nicht enden, wird es unerlässlich, dass sie sich wenigstens zu nennenswerten Teilen dazu aufrafft, Programm und Politik der Partei einer gründlichen Revision im Sinne des hier Dargelegten zu unterziehen und eine Plattform auszuarbeiten, die die Entwicklung der rückhaltlosen politischen Selbständigkeit der lohnabhängigen Klasse ins Zentrum gemeinsamer Aktivitäten der klassenbewussten Linken in der Partei rückt. Der Gebrauchswert der AKL wird zunächst wohl sich daran erweisen, ob über den einen oder anderen Beitrag dazu eine konstruktive Debatte in ihrem Rahmen möglich ist.

Editorischer Hinweis: Dieser Artikel wurde am 31. Juli 2012 auf der Website der Proletarischen Plattform erstveröfffentlicht.