Editorial
Ohne Dialektik geht gar nix

von Karl-Heinz Schubert

07/2020

trend
onlinezeitung

""Es gibt nichts in der Welt, das sich in absoluter Gleichmäßigkeit entwickeln würde, und wir müssen die Theorie der gleichmäßigen Entwicklung oder die Gleichgewichtstheorie bekämpfen." (Mao)

Vermittelt über das 1993 erschienene Handbuch "Gesundheitswissenschaften" widmet sich Richard Albrecht in seinem Beitrag "Von theoretischer Salutogenetik zu empirischen Gesundheitswissenschaften" mit einem wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick dem von Aaron Antonovsky angestoßenen Paradigmenwechsel in den Gesundheitswissenschaften der 1970er/80er Jahre. Gerade in den Zeiten von Corona, wo die Definition von Krankheit und die damit verbundenen empirischen RKI-Feststellungen  dem herrschenden politischen Personal als "wertfreie" Richtschnur für die Organisation des Ausnahmezustands dienen, bildet Richard Albrechts Beitrag einen interessanten Anstoß, die aktuelle Gesundheitspolitik ideologiekritisch zu hinterfragen. Doch auch sein Beitrag gibt selber allerlei Anlaß für ideologiekritisches Nachfragen.

Für den Autor liefert Aaron Antonovskys "Gleichgewichts oder Balance-Modell" das zentrale Leitbild für ein "holistisches Handlungsmodell", das der Herausgeber des "Gesundheitshandbuchs" Klaus Hurrelmann als "Modell der dialektischen Beziehungen zwischen Subjekt und gesellschaftlich vermittelter Realität" begreift - so zitiert von Richard Albrecht.


Aaron Antonovskys "Gleichgewichts- oder Balance-Modell"
Quelle: wikipedia

Hier fehlen meines Erachtens  Herleitungschritte, die erklären, wie es möglich sein soll, Antonovskys in sich geschlossenes Kohärenz-Modell in eine prozessförmige, von inneren und äußeren Widersprüchen bestimmte Subjekt-Objekt-Beziehung zu übertragen. Gerade aus marxistischer Sicht gäbe er dazu deutliche Vorbehalte.

Nicht nur wie Friedrich Engels in der "Dialektik der Natur" (z.B. MEW 20/511f) aufzeigt, sondern auch in geschichtlichen Prozessen (z.B. MEW 21/167) bildet der Gleichgewichtszustand in der Bewegung der Ungleichgewichte die Ausnahme. Erschwerend kommt noch hinzu, das die gedachte Kohärenz nur von außen in Bewegung gebracht wird.

Folgen wir Maos Hinweis die "Gleichgewichtstheorie" zu bekämpfen, dann erweist sich das Antonovskys Kohärenz-Modell als Paraphrase auf ein mechanistisches Waage-Modell, das in der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung häufiger einen negativen ideologischen Einfluss hatte (siehe dazu z.B. Lenins Kritik an Bucharins Gleichgewichtsbegriff in dessen "Ökonomik der Übergangsperiode")

Zur ideologischen Einordnung von Aaron Antonovsky gehörte allerdings auch der hier leider fehlende Hinweis von dessen esoterischer Vorstellung, dass  Religion als sinnstiftendes Ferment für die innere Gesundheit des Individuums wichtig sei. (siehe dazu Claudia Barth: Esoterik - Die Suche nach dem Selbst).

Dass in linken Zusammenhängen die Anwendung der materialistischen Dialektik bei der Analyse von gesellschaftlichen Sachverhalten wenig verbreitet ist und durch ex ärmelo Behauptungen ersetzt wird, ist weiterhin die Haupttendenz - wobei Klassenlinke keine Ausnahme bilden.

Im April letzten Jahres veröffentlichten wir eine Kritik der Untersuchung des "deutschen imperialistischen Staatsapparats"  durch die  Gruppe "Kommunistischer Aufbau", in der  Nr.13. ihrer Zeitschrift "Kommunismus". Damals wurde der Mangel an materialistischer Dialektik  durch eine Art strukturalistischen ML kompensiert. In der aktuellen Ausgabe von "Kommunismus" behandelt die Gruppe  Fragen der kommunistischen Betriebs- und Frauenarbeit und stellt dabei fest, dass dadurch auch folgende politisch-ideologischen Grundsatzfragen aufgeworfen werden:

"Was sind die Merkmale des bürgerlichen Individuums, so wie es in der kapitalistischen Gesellschaft besteht, und welche Schritte sind vonnöten, um die Beschränkungen dieses bürgerlichen Individuums zu überwinden?"

die sie in einem Extrabeitrag dieser Ausgabe mit dem Titel "Individuum und Kollektiv" zu beantworten vorgeben.

Wir dokumentieren den Beitrag als eine wenig zufriedenstellende Antwort und als ein vor Nachahmung warnendes Beispiel, wo an Stelle einer Untersuchung der dialektischen Vermittlungsformen von gelebter (Klassen-)Individualität in der kapitalistisch-warenproduzierenden Gesellschaft folgendes schlichte Narrativ geliefert wird:

  • Die "imperialistische Gesellschaft" greift die Individuen auf allen Ebenen an und "umzingelt" sie ideologisch, indem gesellschaftliche Probleme als individuelle dargestellt werden. Dies führt bei "vielen Menschen" zu Passivität.

  • Dieser "abertausenden Kanäle" der ideologischen "Berieselung" will der Kommunistische Aufbau als "revolutionäres Kollektiv" durch "gedankliche" und "praktische" Aktivierung entgegensteuern, damit sich die "Persönlichkeit des bürgerlichen Individuums zu einem sozialistischen Individuum entwickeln" kann.

Damit reduziert die Gruppe kommunistische Politik und Organisierung auf ein pädagogisches Projekt, das beständig gegen ein vermeindlich falsches Bewußtsein anzukämpfen hat. Diese Reduktion folgt denklogisch aus ihrem strukturalistischen Marxismus-Leninismus  - was nicht sein müsste - da mensch bei Lenin "Die Elemente der Dialektik" (LW 38/212) nachlesen und sich durch Anwendung aneignen könnte.

Im Rahmen unserer TREND Serie zum 200. Geburtstag von Friedrich Engels haben wir deshalb einen alten "SoPo"-Aufsatz ausgegraben, in dem Hans-Jörg Schönberger Friedrich Engels gegen die Unterstellung verteidigt, mit seinen Arbeiten zur Dialektik ein deterministisch-finalistisches Natur- und Weltbild konstruieren zu wollen.

Wer einen ersten Gesamtüberblick über die Entwicklung der materialistischen Dialektik von MARX BIS ALTHUSSER erhalten möchte, dem empfehlen wir unseren virtuellen Reprint:

MODELLE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIK
BEITRÄGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von
HEINZ KIMMERLE

Mitglieder der Bochumer Dialektik-Arbeitsgemeinschaft:
Arndt, Andreas - Bock, Klaus - Brackmann, Theo - Buchholz. Ulrich - Clairmont, Heinrich - Dannemann, Rüdiger - Erdbrügge, Wolfgang - Großmaß, Ruth - Hüttel, Martin - Kimmerle, Heinz - Kratz, Steffen - Kuhlmann, Lothar - Reichenberg, Gerd - Schmidt, Giselher - Schweitzer, Dieter - Verhörst, Beate