Individuum und Kollektiv
Vom scheinbaren Widerspruch zur untrennbaren Einheit

Gruppe "Kommunistischer Aufbau"

07/2020

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Die imperialistische Gesellschaft greift uns auf allen Ebenen an. Wenn man die Angriffe des Imperialismus auf die Arbeiterinnen und andere unter­drückte Massen nur ökonomisch oder politisch betrachtet, so ist das ein beschränktes Verständnis. Oftmals werden auch in revoluti­onären Kreisen die Angriffe des Imperialismus auf unser Denken, Fühlen und das entsprechende Handeln - oder anders gesagt: auf ideologischer Ebene - ausgeblen­det bzw. kaum beachtet.

Wie ist es sonst zu erklären, dass selbst in der politischen Wi­derstandsbewegung heute der angebliche „Egoismus des Men­schen" als das größte Übel be­handelt wird, dem wir heute ge­genüber stehen. Als ob Egoismus und Selbstbezogenheit etwas in unserer DNA Festgeschriebenes wären, dem wir nicht entkom­men könnten, ja das gar unsere menschliche Natur ausmacht.

Daraus folgt unter anderem der massive Fokus großer Teile der po­litischen Widerstandsbewegung auf die persönliche Konsumkritik. Die Erzählung, man könne durch eine bewusstere und gezielte per­sönlich-individuelle Lebenswei­se nicht nur sein eigenes Leben wesentlich besser gestalten, son­dern würde damit auch noch die Gesellschaft verändern können, ist ein immer wieder verbreitetes Märchen. Die Auswüchse dieser Illusionen können wir bis weit in die revolutionäre Bewegung hin­ein feststellen.

DAS INDIVIDUUM IM IMPERIALISMUS

Der Imperialismus ist nicht nur auf ökonomischem Gebiet eine Weiterentwicklung des Kapitalis­mus und seiner brutalen Ausbeu­tungsformen, sondern auch auf dem Gebiet der Ideologie. Durch die ideologische Umzingelung und die dauerhafte Präsenz der gegen die soziale Natur des Men­schen gerichteten bürgerlichen Kultur und Lebensweise werden wir durch diese geprägt und erzo­gen.
Der Imperialismus lässt von dem sozialen menschlichen We­sen nur noch einen Schatten sei­ner selbst übrig: Dieses soziale Wesen wird verkümmert durch die Berieselung mit imperialisti­scher Propaganda und die Aus­richtung auf Egoismus und Kon­kurrenz. Das Menschsein wird weiter verkümmert durch das ge­zielte Ansprechen und die Beein­flussung von verschiedenen Tei­len der Bevölkerung auf der Ebene der Stimmungen und Gefühle zur Aufrechterhaltung der politischen und ökonomischen Herrschaft des Imperialismus („political enginee-ring").
Die Ausrichtung der kapitalisti­schen Ökonomie auf Konkurrenz und Profitmaximierung wirkt sich auch immer mehr auf das Zusam­menleben der Menschen aus. Der Imperialismus schafft eine Ge­sellschaft, in der sich jeder selbst der Nächste ist. Eine Gesellschaft, in der die Konkurrenz nicht al­lein zwischen den Herrschenden stattfindet, sondern auch nach unten weiter verteilt wird und so
zu massiven Spaltungslinien und Konkurrenzkämpfen auch inner­halb der Arbeiterinnenklasse und den unterdrückten Massen führt.

Die berühmte „Ellbogengesell­schaft" und die sich immer weiter fortsetzende Vereinzelung des In­dividuums im Imperialismus sind das Ergebnis. All das wird ergänzt durch die Erzählung, dass jeder und jede des „eigenen Glückes Schmied" wäre, also es an jedem Individuum selber liegen würde, ob man in Armut oder in Reichtum lebt, wo und wie man lebt etc. Mil­lionen Menschen leiden unter die­sem Märchen, dass nur sie alleine für ihre Situation verantwortlich wären und nicht der Chef, der ei­nen ausbeutet und rausschmeißt, die Politiker, die durch ihre Geset­ze noch mehr Reichtum von unten nach oben umverteilen, oder die kapitalistischen Unternehmen, die unsere natürlichen Lebensgrund­lagen zerstören.

Der Imperialismus versucht, alle Probleme, Ereignisse und Gege­benheiten im Leben als individuell darzustellen. Die Klassenwider­sprüche, ja die gesamte Existenz der Klassengesellschaft wird da­mit verschleiert. Gesellschaftliche Probleme werden als individuelle Probleme dargestellt, deren Lö­sungen individuell gefunden wer­den müssen. Dies führt bei vielen Menschen zu Passivität, sowie zu einer ganzen Reihe psychischer und physischer Erkrankungen.

AKTIVES INDIVIDUUM

Als Kommunistinnen müssen wir es als unsere klare Aufga­be verstehen, uns offensiv gegen die bürgerliche Erziehung und Ideologie zu stellen. Wir müs­sen tagtäglich gegen die bürger­lichen Einflüsse, von denen sich im imperialistischen System und insbesondere in seinen Zentren niemand freisprechen kann, an­kämpfen.

Das bürgerlich-individualis­tische Individuum ist oftmals gefangen in einer durch die bür-gerliche-kapitalistische Ideologie hervorgebrachte Erstarrung und Passivität. Die allumfassende Pro­paganda, dass man sich in sein Schicksal fügen müsse bzw. nur durch eigenen Fleiß und gegen seine Mitmenschen etwas errei­chen könne, steht der politischen Aktivierung des Individuums ent­gegen.

Zur Aktivierung des Individu­ums müssen wir die bürgerliche Ideologie und Propaganda, die das Individuum in Passivität hält und durch abertausende Kanäle berieselt, durchbrechen. Wir müs­sen einen Ansatz bieten, welcher zunächst eine kritische Hinter-fragung der bürgerlichen Propa­ganda, ihrem System des bürger­lichen Individualismus und der scheinbaren Selbstverantwortung für die Folgen des kapitalistischen Ausbeutersystems ermöglicht.

Dann geht es uns darum, die Menschen in ihrem kritischen Denken zu bestärken und ihre Aktivierung zum Kampf um die politischen und ökonomischen Rechte und Interessen zu fördern. Aktivierung bedeutet dabei so­wohl gedankliche wie praktische Aktivität zu fördern und hier eine dialektische Einheit herzustellen.

Natürlich darf dies nicht falsch verstanden werden. Wir fördern hier nicht einen kleinbürgerli-chen-individualistischen Aktivis­mus, der am Ende eben auch nur darauf hinausläuft, die eigene in­dividuelle Stellung im kapitalisti­schen System zu verbessern. Uns geht es um die Aktivierung zum Kampf für die kollektiven Interes­sen der eigenen Klasse. Diese po­litische Aktivität kann im Kleinen wie im Großen schlussendlich nur im Kollektiv zum Erfolg führen.

KOLLEKTIVES INDIVIDUUM

Unser Ziel muss es also nicht nur sein, das Individuum zu einem aktiven politischen Individuum zu entwickeln, sondern es gleichzei­tig zu einem kollektiven Individu­um zu machen.

Wir setzen dabei das kollektive Leben und Arbeiten dem bürgerli­chen Individualismus, der Verein­zelung und Vereinsamung entge­gen. Dafür müssen alle aktivierten Individuen, die der bürgerlichen-kapitalistischen Gesellschaft und ihrer entwickelten Kultur des egoistischen Strebens nach indi­viduellem Erfolg, Reichtum und Macht auf Kosten anderer kritisch gegenüberstehen und diese hin­terfragen, in ein lebendiges revo­lutionäres Kollektiv einbezogen werden.

Dem bürgerlichen Individua­lismus setzen wir unsere gelebte Solidarität und eine genossen­schaftliche Kultur entgegen, die alle Unterschiede, verschiedenen Neigungen, Talente und Fähig­keiten schätzt und sie zum Erfolg und der Entwicklung des gesamten Kollektivs einsetzt.

Der aus der Vereinzelung und dem bürgerlichen Individualismus herrührenden Resignation setzen wir den kollektiven Kampf für die Erreichung unserer Ziele entge­gen. Doch der kollektive Kampf darf sich nicht allein auf den poli­tischen Kampf beziehen, sondern beinhaltet auch die Entwicklung jedes einzelnen Individuums und des gesamten Kollektivs.

Mit Hilfe revolutionärer Kritik und Selbstkritik, das heißt einer produktiven und konstruktiven Kultur der Kritik, kann sich die Persönlichkeit des bürgerlichen Individuums zu einem kollektiven sozialistischen Individuum ent­wickeln. Unsere Antwort auf das kapitalistische Individuum kann daher nur ein kollektives, ein so­zialistisches Individuum sein. Nur so kann eine sozialistische Zu­kunft statt der herrschenden Bar­barei geschaffen werden.

DIE ROLLE DES INDIVIDU­UMS IM KAMPF FÜR DIE BE­FREIUNG DER MENSCHHEIT

Als Kommunistinnen stehen in unserem Kampf nicht das ein­zelne Individuum und seine per­sönlichen Interessen, sondern die objektiven Interessen der Arbei-terlnnenklasse und die der unter­drückten Massen im Mittelpunkt unserer politischen Arbeit. Diese Ausrichtung ist wichtig, um unser Ziel, die Befreiung der Mensch­heit im Kommunismus, nicht aus den Augen zu verlieren und kon­sequent für unsere kollektiven Interessen, die Interessen unserer Klasse, eintreten zu können.

Gleichzeitig verneinen wir na­türlich nicht die Rolle des Indivi­duums im organisierten Klassen­kampf. Insbesondere in Zeiten, in denen die Klassenkämpfe von un­ten auf einem so niedrigen Niveau wie in Deutschland zur Zeit lau­fen, ist die persönliche Initiative klassenkämpferischer und revo­lutionärer Individuen oftmals aus­schlaggebend für die erfolgreiche Führung und Organisierung bzw. überhaupt die Entfesselung dieser Kämpfe.

Egal ob im Betrieb, in der Schu­le, der Universität oder im Stadt­teil: Es braucht immer aktive Individuen, die es schaffen, den Unmut und die Wut über die herr­schenden Verhältnisse, die Aus­beutung und Ungerechtigkeit in konstruktive politische Aktivität zu verwandeln und aus den Be­troffenen ein politisches Kollektiv zu formen.

Auch in der Kommunistischen Partei verschwindet das Individu­um und seine Rolle nicht, sondern entwickelt sich weiter hin zu ei­nem sozialistischen Individuum, welches stets die Bedürfnisse des revolutionären Kampfes in den Mittelpunkt stellt. In der Kommu­nistischen Partei wächst das Indi­viduum mit seinen Genossinnen zu einem einheitlichen revoluti­onären Organismus zusammen, welcher die Kräfte der einzelnen Individuen zielgerichtet in die für den erfolgreichen Kampf notwen­digen Bahnen leitet.

Ja selbst nach der erfolgreichen sozialistischen Revolution verliert die persönliche Initiative des Indi­viduums nichts von ihrer Wich­tigkeit. Ganz im Gegenteil! Für den Aufbau und die dauerhafte Weiter- und Höherentwicklung der sozialistischen Gesellschaft ist die massenweise persönliche Ini­tiative des revolutionären Indivi­duums unabdingbar, ohne sie ist die Weiterentwicklung hin zum Kommunismus gar nicht denkbar.

Wir sehen also, dass aus dem scheinbaren Widerspruch zwi­schen Individuum und Kollek­tiv im Kapitalismus durchaus eine untrennbare Einheit werden kann, wenn man Stück für Stück die bürgerliche Ideologie und ihre Wirkung auf das Individuum überwindet.

Quelle: Kommunismus #17