1.
Innerhalb jener „semantischen Verschmutzung
der geistigen Umwelt des Menschen", die sich
gegenwärtig zu einer „planetarischen
Lebensgefahr"'ausgewachsen hat — so die
Charakterisierung der marxistischen Theorie
durch einen führenden Vertreter der
bundesrepublikanischen analytischen (1)
Wissenschaftstheorie —, bilden die von
Friedrich Engels angedeuteten Umrisse einer
Dialektik der Natur
seit je ein besonderes Ärgernis. In der
nunmehr hundertjährigen Geschichte der
materialistischen Naturdialektik, die mit
Engels' Polemik gegen Dühring(2)
ihren expliziten Ausgang nahm und deren
Untersuchungskontext mit den Notizen und
Fragmenten zur Dialektik der Natur erst
fünfzig Jahre später zugänglich gemacht
wurden(3),
hat es Interpretationsversuche der
Engelsschen Aussagen über die „Gesetze der
Dialektik" /348/ gegeben, die jenes Ärgernis
als gerechtfertigt erscheinen Hessen. Man
hat in ihnen die systematische Grundlegung
eines deterministisch-finalistischen Natur-
und Weltbilds sehen wollen und geriet damit
unweigerlich in Konflikt mit der
Entwicklungsdynamik der analytisch
operierenden empirischen Wissenschaften.(4)
Die unter dem Stichwort der
„Ontologisierung" geführte Kritik an dieser
Interpretation materialistischer
Naturdialektik bot ihrerseits als Lösung des
Problems den Rückzug der Dialektik aus der
Natur an, um sich desto ungestörter im
Bereich der menschlichen Gesellschaft
bewegen zu können.(5)
Mit der Reduktion des Marxismus auf den
historischen Materialismus in
anthropologischer Absicht vollzog sich
zugleich eine Zuteilung von prinzipiell
unvereinbaren Erkenntnisweisen: die Analytik
den Naturwissenschaften, die Dialektik den
Gesellschaftswissenschaften! Diese
„Anthro-pologisierung" der Dialektik hatte
ihren Preis: um ( — vornehmlich den „jungen"
—) Marx zu retten, war Engels
fallenzulassen. Gleichzeitig war damit der
Anspruch aufgegeben, die Entwicklung von
Natur und Gesellschaft in Einheit mit der
Entwicklung von Erkenntnis
und
der Erkenntnis dieser Entwicklung zu denken.
Das Programm, eine „Wissenschaft von den
Zusammenhängen im Gegensatz zur Metaphysik
zu entwickeln" /348/, war suspendiert.
Jeder Versuch einer Wiederaufnahme dieses
Programms steht vor der Aufgabe, die
Sackgasse der Interpretation
materialistischer Dialektik als eines
deterministisch-finalistischen Systems zu
vermeiden. Die Rekonstruktion der
materialistischen Dialektik als
„Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs" /307/
steht, will sie diesen nicht aus Prinzipien
deduzieren, vor dem doppelten Problem, den
Ort der Vermittlung dieses Zusammenhangs
selbst als historisches Entwicklungsresultat
und die wissenschaftliche Erfassung dieser
Vermittlung selbst als historisch gewordenes
Moment desselben darzustellen. Der
Zusammenhang von Natur, Gesellschaft und
Erkenntnis kann nicht
abstrakt
zum Gegenstand einer Wissenschaft gemacht
werden; wenn materialistische
Dialektik als
Wissenschaft
soll bestehen können, so muß das Objekt
dieser Wissenschaft, jene Zusammenhänge, in
jeweils gegenständlicher
Konkretion
gefasst werden.
Unter der Maßgabe, daß unter dem
Gesamtzusammenhang ein Zusammenhang von
Zusammenhängen verstanden wird, ist zunächst
zu fragen, was unter einem Zusammenhang
verstanden werden soll. Wird unter
Zusammenhang die historische
Erscheinungsform der Einheit von
allgemeinen, materiell begründeten Gesetzen
mit ihren -besonderen, materiell begründeten
Realisierungsbedingungen gemeint, so ist
unter der Maßgabe der Kenntnis von Gesetz
und Realisierungsbedingungen der
Zusammenhang dann wissenschaftlich
begriffen, wenn die entsprechende
historische Erscheinungsform der
Wirklichkeit als aus ihnen resultierende
rekonstruiert werden kann. Ich interpretiere
nun Engels'
Äusserungen zur
Dialektik
als Wissenschaft so, daß er mit ihr generell
die theoretische Form der Rekonstruktion von
Zusammenhängen, speziell die von
Entwicklungszusammenhängen
meint. Seine in diesem Rahmen formulierten
„Gesetze" fasse ich als Charakterisierung
der Form ihres Erscheinens auf. In der
Irreversibilität der Realisierung eines
Entwicklunszusammenhangs hat dieser seine
Geschichte.
Der folgende Versuch, den Intentionen
nachzuspüren, die Engels mit der Vorstellung
einer
Dialektik der Natur im besonderen
verband, hat den Zweck, gegen den
angedeuteten „Ontologie"-Verdacht — worunter
die Annahme der Existenz einer besonderen
„dialektischen" Kausalität zu verstehen wäre
— die Probleme sichtbar zu machen, die sich
ihm bei der Sichtung des
naturwissenschaftlichen Erkenntnismaterials
seiner Zeit aufdrängten, und deren Bedeutung
für die wissenschaftliche Theoriebildung
seither nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Die Konzentration auf das Problem der
Naturdialektik ist nicht in dem Sinne
systematisch mißzuverstehen, daß damit
gleichzeitig eine Antwort auf die Frage nach
dem Ausgangspunkt der dialektischen
Rekonstruktion des Gesamtzusammenhangs von
Natur, Gesellschaft und Erkenntnis
beantwortet wäre.
2.
Im Vorwort zur Auflage von 1885 des
Anti-Dühring
gibt Engels die biographische Notiz: „Als
ich . . . durch Rückzug aus dem
kaufmännischen Geschäft und Umzug nach
London die Zeit dazu gewann, machte ich,
soweit es mir möglich, eine vollständige
mathematische und naturwissenschaftliche
'Mauserung' durch, und verwandte den besten
Teil von 8 Jahren darauf. Ich war grade
mitten in diesem Mauserungsprozesses
begriffen, als ich in den Fall kam, mich mit
Herrn Dührings sogenannter Naturphilosophie
zu befassen. Wenn ich also da manchmal den
richtigen technischen Ausdruck nicht finde
und mich überhaupt mit ziemlicher
Schwerfälligkeit auf dem Gebiet der
theoretischen Naturwissenschaft bewege, so
ist das nur zu natürlich" /10—11/. Der
Anti-Dühring
kann in seinen naturtheoretischen Teilen als
eine erste aus Vorarbeiten gelegentlich —
„ich kam in den Fall" — entstandene Skizze
zu der von Engels geplanten, dann aber nie
fertiggestellten Naturdialektik betrachtet
werden, und ist ein beeindruckendes Beispiel
einer politischen Polemik, in der es um
weltanschauliche Probleme vom Standpunkt
wissenschaftlicher Erkenntnis geht. Worum
aber ist es
Engels bei der über den Anlaß Dühring
hinausgreifenden Beschäftigung mit der
historischen Entwicklung und dem aktuellen
Stand der Naturwissenschaften seiner Zeit zu
tun? Dazu bemerkt er an gleicher Stelle: „Es
handelte sich bei dieser meiner
Rekapitulation der Mathematik und der
Naturwissenschaften selbstredend darum, mich
auch im einzelnen zu überzeugen — woran im
allgemeinen kein Zweifel für mich war —, daß
in der Natur dieselben dialektischen
Bewegungsgesetze im Gewirr der zahllosen
Veränderungen sich durchsetzen, die auch in
der Geschichte die scheinbare Zufälligkeit
der Ereignisse beherrschen; dieselben
Gesetze, die ebenfalls in der
Entwicklungsgeschichte des menschlichen
Denkens den durchlaufenden Faden bildend,
allmählich den denkenden Menschen zum
Bewußsein kommen . . ."/I1/.
Zu diesem Satz ist häufig angemerkt worden,
es sei Engels also letztlich um die
Produktion von nachräglicher Bestätigung in
dem Sinne gegangen, als er, von einem
fertigen Kanon von feststehenden
dialektischen Gesetzen ausgehend, seinen
Ausflug in die Naturwissenschaften
unternommen -habe, um Beispiele aufzufinden,
die seine vorgefalste Ansicht stützen
könnten. Man muß sich nun aber die Mühe
machen, wenigstens die naturphilosophischen
Abschnitte des
Anti-Dühring
im Zusammenhang zu lesen, um zu verstehen,
was es für Engels bedeutet, „sich zu
überzeugen", womit gleichzeitig
interpretierbar wird, was unter einem
„dialektischen Gesetz" zu verstehen ist. Er
hat alles andere vor, als „die dialektischen
Gesetze in die Natur hineinzukonstruieren"
/12/; es versteht sich für ihn von selbst,
„daß ich über den besonderen
Entwicklungsprozeß, den z.B. das" —
berüchtigte! — „Gerstenkorn von der Keimung
bis zum Absterben der fruchttragenden
Pflanze durchmacht,
gar nichts sage,
wenn ich sage, es ist Negation der
Negation"/131/; daß „jede Art von Dingen . .
. ihre eigentümlich Art (hat), so negiert zu
werden, daß eine Entwicklung dabei
herauskommt . . ." /132/; daß schießlich
Marx, indem er den Vorgang der Expropriation
der Expropriateure im Kapital als „Negation
der Negation
bezeichnet,
. .. nicht daran (denkt), ihn dadurch
beweisen zu wollen als einen geschichtlich
notwendigen", sondern daß er ihn im
Gegenteil,
„nachdem
er geschichtlich bewiesen hat, daß der
Vorgang in der Tat teils sich ereignet hat,
teils noch sich ereignen muß,... er ihn
zudem
als einen Vorgang
(bezeichnet),
der sich nach einem bestimmten dialektischen
Gesetz vollzieht", und
„das ist alles"
/125/. Man sieht hier deutlich, daß Engels
nicht nicht Absicht hat, einen besonderen,
natürlichen oder gesellschaftlichen Prozeß
durch ein „dialektisches Gesetz" zu beweisen
(wir können auch sagen: erklären). Engels
sieht gut, daß dadurch nichts bewiesen wäre,
wenn eine Entwicklung durch „Negation der
Negation" „erklärt" würde, sondern nur eine
Tautologie im formallogischen Sinne
produziert wäre. Andererseits kommt in
diesen Formulierungen aber auch ein Problem
zum Ausdruck, das sich in die Frage kleiden
läßt, welchen Status dann solche
„Grundgesetze der Dialektik" /481/ haben,
wenn mit ihnen über besondere
Entwicklungsprozesse „nichts gesagt" ist,
wenn sie als
allgemeine Bezeichnungen
von Entwicklungsvorgängen anzusehen sind,
deren Gesetzmäßigkeit (Notwendigkeit) nur an
ihnen selbst zu gewinnen ist. Will man der
Zweideutigkeit der Formulierungen entgehen,
muß man sich festlegen. Ich schlage vor, vom
Sinn der Engelsschen Erläuterungen her den
Ausdruck „Grundgesetz der Dialektik" so zu
verstehen, daß er in allgemeiner Weise die
Form bezeichnet, in der Bewegungs- und
Entwicklungszusammenhänge in ihrem
zeitlichen Ablauf erscheinen, nicht aber,
daß darunter die
allgemeine Naturgesetzmäßigkeit zu verstehen
ist, die etwa einen Entwicklungsvorgang
unter bestimmten Bedingungen so ermöglicht,
daß sein zeitlicher Ablauf als eine
„Negation" von Stufen dieser Entwicklung
erscheint. Mit dem Terminus „Gesetz" wäre
dann zum Ausdruck gebracht, daß die unter
diese Bezeichnungen gebrachten Phänomene
nicht einfach zufälliger Natur sind, sondern
das Resultat der historischen Realisierung
von materiell begründeten Gesetzen
(Kausalitäten) unter ebenso materiell
determinierten Randbedingungen. Keineswegs
aber wäre damit der Natur eine irgendwie
geartete dialektische Finalität unterstellt.
Theoretisch gesehen handelt es sich dabei,
wenn man so will, um eine allgemeine
Formulierung der Erscheinungsweise von
räumlichen und zeitlichen Zusammengängen.
Methodologisch gesehen hat sie, bezogen auf
eine bestimmte Entwicklungsstufe der
jeweiligen Wissenschaften — nämlich dann,
wenn diese darangehen, die jeweiligen
Objekte in ihrer gegenständlichen Konkretion
auf der Basis der Kenntnis der ihnen
zugrundliegenden Naturgesetze zu
rekonstruieren — eine heuristische Funktion;
sie verhindern die wechselseitige logische
Ausschließung analytischer Abstraktionen,
mithin die Identifizierung von
Naturkausalität mit einer abstraktiven
Interpretation des analytischen Verfahrens.
Engels weist immer wieder darauf hin, daß
dies jenseits ihrer theoretischen
Selbstreflexion in der
Praxis
der modernen Naturwissenschaften angelegt
ist, und umso unabweisbarer wird, je weiter
die Erfassung des Untersuchungsgegenstandes
fortschreitet; seine Kritik an der
„metaphysischen Auffassung" /307/ geschieht
vom Standpunkt der kritischen Reflexion eben
dieses praktischen Verfahrens, das der
Untersuchungsgegenstand
erzwingt;
der so mit der Einsicht in den Gang des
Objekts zugleich prinzipiell die Einsicht in
den Gang seiner theoretischen Erfassung
ermöglicht. „Negation der Negaton" aber im
starken Sinne als ein „Gesetz" zu
formulieren, sehe ich für eine Sache des —
dialektischen — „Alltagsgebrauchs" /482/ an
(um ein Wort von Engels über die
metaphysische Fixierung der Analytik zu
paraphrasieren). Im Rahmen der Durchsetzung
des dialektischen gegen das metaphysische
Weltbild hat dieser „Alltagsgebrauch" eine
bedeutende ideologische Funktion. Ob auf der
Ebene der
theoretischen Rekonstruktion
von natürlichen (und gesellschaftlichen)
Sachverhalten als Repräsentation ihrer
experimentellen Rekonstruktion (und
praktischen Konstruktion) solche „Gesetze"
wie „Negation der Negation" den explizit
angebbaren Sinn von Anweisungen für logische
Operationen bekommen, ist an dieser Stelle
nicht zu untersuchen.(7)
3.
Hier interessiert nun näherhin, was
der Sache nach
gemeint ist, wenn bei Engels von einer
Dialektik der Natur
die Rede ist. Geht man den Text durch, so
wird man bemerken, daß es durchgehend
Vorgänge der Bewegung und Entwicklung sind,
die als dialektische Phänomene angesprochen
werden. Man wird auch bemerken, daß Engels
den Hauptstoß seiner Argumentation
gegen
eine in ihrer systematischen Grundlegung
letztlich nur
anthropomorph
(oder
theomorph,
was dasselbe, nur in transzendentaler
Version, ist) interpretierbare Auffassung
von Naturkausalität richtet. Dabei besteht
die Paradoxie gerade darin, daß
die
anthropomorphe bzw. theomorphe Grundlegung
eine
mechanistische Kausalitätsauffassung stützt.
Demgegenüber versucht Engels mit seinen
Hinweisen eine historische Auffassung der
Dynamik von Naturkausalität zu stützen, der
ein in den verschiedenen Bereichen
naturwissenschaftlicher Forschung mehr oder
weniger exakt formulierbarer Begriff der
Selbstbewegung und Selbstentwicklung der
Materie zugrundeliegt. Engels'
Dialektik-Begriff substituiert dabei der
Naturgesetzlichkeit keinen wie auch immer
gearteten Finalismus, sondern bezieht sich
ganz materiellen Organisation diejenigen
Effekte — Reproduktion. Morphogenese.
Teleonomie — zeigt, die wir Leben nennen.
Die Gesetze, denen dieses Leben in seiner
Einheit als Organismus gehorcht, sind selbst
Resultat der Integration von Gesetzen, wie
sie für die anorganische Materie gelten.
Engels stellt fest, daß es zur Erklärung
dieses Phänomens keines besonderen,
transzendental gedachten Vitalprinzips
bedarf: und er charakterisiert diesen
Integrationsprozeß erläuternd dadurch, daß
sich in ihm ein „Umschlag von Quantität in
Qualität" vollziehe. Mit Bezug auf die
Evolution der Arten formuliert er zunächst
in Abgrenzung gegen die „alte
Naturphilosophie": „Wie in dieser Schrift
entwickelt, fehlte sie. namentlich in der
Hegeischen Form, darin, daß sie der Natur
keine
Entwicklung in der Zeit
zuerkannte, kein 'Nacheinander', sondern nur
ein 'Nebeneinander'" /12. Hervorhebungen HJ.
Rh./. Diese „Entwicklung in der Zeit",
eindeutig auf die Gesetzmäßigkeiten
wechselwirkender und selbstregulativer
Naturvorgänge einerseits und auf die
Gesetzmäßigkeit von Wirkungen des
Zusammentreffens und Zusammenspielens
voneinander unabhängiger Kausalketten
andererseits. Eine
Interpreatationsschwierigkeit des Textes
kommt allerdings dadurch hinein, daß oft
raumzeitlich gebundene Realtivefekte von
Naturvorgängen nicht
explizit
von standpunktbezogenenen Aussagen über
diese getrennt sind (etwa bei chemischen
Reaktionen oder der elektrischen Polarität),
und daß Phänomene der Selbstregulation, der
selbstregulativen Entwicklung und der
historischen Evolution einerseits sowie der
makroskopisch determinierten
Erscheinungsweise mikroskopisch
indeterminierter Prozesse andererseits nicht
explizit von dem erkenntnistheoretischen
Problem getrennt sind, wie man zum Gesetz
einer Erscheinung vorstößt, und wie von
diesem her die historische Realität, in der
das ihr zugrundeliegende Gesetz sich
realisiert, zu rekonstruieren ist.
Betrachtet man Engels'
Äusserungen
zur „organischen Welt", so sind es zwei
Probleme, die er in der Auseinandersetzung
mit Dühring ins Zentrum seiner Bemerkungen
rückt: die Erklärung der Natur der
Lebensvorgänge einerseits und die Erklärung
der biologischen Evolution andererseits.
„Leben", notiert er an einer Stelle, „ist
die Daseinweise der Eiweißkörper, und diese
Daseinsweise besteht wesentlich in der.
beständigen
Selbsterneuerung
der chemischen Bestandteile dieser Körper"
/75/, und an anderer: „. . . das Leben, der
durch Ernährung und Ausscheidung erfolgende
Stoffwechsel ist ein
sich selbst vollziehender Prozeß,
der seinem Träger, dem Eiweiß, inhärent,
eingeboren ist. ohne den es nicht sein kann"
/76. Hervorhebungen HJ. Rh./. Nun wissen wir
heute, daß die wesentlichen
Lebensbedingungen — Metabolismus.
Reduplikation. Mutagenität — durch ein
Interaktionssystem von Nucleinsäuren und
Proteinen erfüllt werden: der entscheidende
Punkt der Engelsschen Argumentation bezieht
sich jedoch darauf, daß eine selbstbewegte,
sich im Prozeß der
Assimilation/Dissimilation erhaltende
materielle Struktur durch die Form ihrer,
die sich durch ständige Verwerfung —
„Negation" — von zufälligen „individuellen
Abweichungen" /65/ einzelner Organismen in
einem historischen Differenzierungsprozeß
der Arten realisiert, bedarf zu ihrer
Erklärung wiederum keines transzendentalen,
finalistischen Entwicklungsprinzips. Engels
erkennt sehr genau, daß die theoretische
Leistung von Darwin gerade darin besteht,
ungeachtet der noch weitgehenden Unkenntnis
über die materiellen Grundlagen der
spontanen Variabilität der Organismen, eben
jene „rationelle Form", d.h. das Prinzip
gefunden zu haben, wonach sich „ihre
Wirkungen festsetzen, dauernde Bedeutung
erhalten" /65/. Gerade an diesen Beispielen
wird deutlich, daß Engels unter der
Dialektik der Natur
keinen mysteriösen Zusatz zu einer
mechanistisch gefaßten Naturkausalität
versteht, sondern vielmehr die Formen und
Effekte dieser Kausalität in ihrer
historischen Realisierung, ihrer
gegenständlichen Konkretion.
4.
Jene Form des theoretischen Denkens, die
Engels als die „dialektische zugleich
materialistische Auffassung" /10/
bezeichnet, ist der Erkenntnis der Natur
nicht als a priori angemessen zu behaupten.
Sie wird innerhalb der Entwicklung der
analytisch operierenden empirischen
Wissenschaften immer dort zum Problem, wo es
um die Rekonstruktion des Zusammenhangs des
untersuchten Obiektbereichs auf der Basis
analytisch gewonnener Naturgesetze geht.
Diese Rekonstruktion erfordert die
Überwindung der abstraktiven Interpretation
des analytischen Verfahrens der empirischen
Wissenschaften, welche Engels als
„metaphysische Auffassung" charakterisiert.
An Hegel würdigt Engels gerade, diesen
Versuch unternommen zu haben. Was er als das
„System" Hegels kritisiert, ist andererseits
der Umstand, daß Hegel die „dialektische"
Auffassung abstrakt, und das heißt
letztlich
ohne wirklichen Gegenstand entwickelt — also
nicht „zugleich materialistisch" —:dagegen
fordert er. die Dialektik habe sich „in der
wirklichen Wissenschaften zu bewähren und zu
betätigen". /129/ mithin an konkreten
Gegenständen. Und er hofft, daß „der
Fortschritt der theoretischen
Naturwissenschaften meine Arbeit
größtenteils oder ganz überflüßig (macht)"
/13/. Wen sich die „dialektische und
zugleich materialistische Auffassung"
historisch
auch
als „aparte Philosophie" zu Geltung bringt,
so kann dies nur in der Perspektive
gerechtfertigt erscheinen, die von Engels
zum Ausdruck gebrachte Hoffnung zu
realisieren. Ihren besonderen
Gegenstandsbereich — den man auch als
philosophischen bezeichnen mag — aber erhält
sie in der Rekonstruktion der Entwicklung
dieses Denkens selbst in seiner
wissenschaftlichen Form: also dort, wo die
„dialektische und zugleich materialistische
Auffassung" den Prozeß ihrer eigenen
Entstehung thematisiert. Daß der
Anti-Dühring
und die Fragmente zur Naturdialektik
Elemente zu einer solchen dialektischen und
materialistischen Theorie der
Erkenntnisentwicklung unter Einschluß der
Genesis der materialistischen Dialektik aus
den analytisch operierenden empirischen
Wissenschaften enthält, macht neben den
Hinweisen auf die Realdialektik der Natur
die besondere wissenschaftliche Leistung
dieser Schriften aus.
Der
„moderne Materialismus", den Engels seiner
ganzen Tendenz nach nicht als eine „über den
andern Wissenschaften stehende Philosophie"
/24/ verstanden wissen will, mußte, wie es
Engels mit Bezug auf den „modernen
Sozialismus" formuliert, „wie jede neue
Theorie ... zunächst anknüpfen an das
vorgefundne Gedankenmaterial. .." /16/.
Engels bedient sich sich der philosophischen
Begrifflichkeit von Hegel, um die
Grundgedanken der „dialektischen Auffassung
der Natur" /14/ zu formulieren: es sind
jedoch die genuinen Problemstellungen der
Wissenschaften der Natur, die er mit ihr zum
Vorschein bringen will — und sei es
bisweilen mit „ziemlicher Schwerfälligkeit"
/II/. Es geht ihm dabei aber um alles andere
als um ein neues „System, selbst kein
natürliches System der Philosophie" /34/.
Vielmehr ist es sein Anliegen — dies gerade
auch im Rahmen der politisch-ideologischen
Dimension, die dem
Anti-Dühring
in der weltanschaulichen Orientierung der in
der sozialdemokratischen Partei neu
zusammengeschlossenen deutschen
Arbeiterbewegung zukam —, die theoretischen
Errungenschaften der Naturwissenschaften „im
Gesamtzusammenhang der Dinge und der
Kenntnis von den Dingen" so in Begriffe zu
fassen, daß sie jedem „denkenden Menschen"
zugänglich werden und dennoch den Kern der
Dinge und ihrer Kenntnis nicht verdecken,
wie ihm das die alte „metaphysische
Auffassungsweise" zu tun scheint. Jedenfalls
nimmt er gegenüber Dühring die Haltung ein.
die er für „einen gewöhnlichen Philosophen
und Sozialisten" für angemessen erachtet,
„der seine Gedanken einfach ausspricht und
es der weitern Entwicklung überläßt, über
ihren Wert zu entscheiden" /28/. In diesem
Sinne faßte er den „modernen Materialismus"
auchch als eine „einfache Weltanschauung"
/129/ auf. und zwar im Hinblick auf die
theoretische Orientierung einer politischen
Bewegung. Die Wissenschaftlichkeit dieser
Weltanschauung ist in dem Maße ausgewiesen,
wie ihre Verallgemeinerungen dem. wie Engels
bemerkt, unabschließbaren Prozeß der
wissenschaftlichen Erfassung der materiellen
Bewegungsund Entwicklungsformen von Natur,
Gesellschaft und Denken nicht als
„endgültige Wahrheiten letzter Instanz" /82/
gegenübertreten, sondern sich ihres
Charakters als Resultatformulierungen bewußt
bleiben. „Bekanntschaft mit der Mathematik
und der Naturwissenschaft" /10/ ist dazu die
Voraussetzung,— wie die ziterte
biographische Notiz von Engels sinnfällig
demonstriert.(8)
5.
Dieser interpretierende Nachvollzug der
Engelsschen Argumentationsgänge zur Frage
der Dialektik der
Natur
im besonderen und zwar
materialistischen
Dialektik im allgemeinen läßt sich in den
wesentlichen Problemstellungen wie folt
thesenhaft zusammenfassen:
1)
Es existiert eine reale Dialektik der Natur.
Damit ist zunächst nichts anderes
konstatiert als das Phänomen der materiellen
Selbstbcwegung und Selbstentwicklung, oder
genauer: der materiellen Selbstorganisation,
die in Entwicklung resultiert.
2)
Soll ein Entwicklungszusammenhang
wissenschaftlich adäquat erfaßt werden, so
bedarf es dazu der Rekonstruktion desselben
als historisches Resultat der Realisierung
materieller Gesetzmäßigkeiten unter
gegebenen materiellen Bedingunen. Ausdrücke
wie „Durchdringung der Gegensätze",
„Umschlagen von Quantität in Qualität,"
„Negation der Negation" /348/ sind dabei
Beschreibungen erscheinender Effekte eines
sich realisierenden Bewegungs- und
Entwicklungszusammenhanges, aber keine
„Gesetze", die etwa einem
Entwicklungszusammenhang in dem Sinne
zugrunde liegen, daß dieser aus ihnen als
seiner Ursache hervorginge!
3)
Materialistisch und dialektisch verfährt
eine Wissenschaft, sofern sie jenes
Programm für ihren konkreten Gegenstand
realisiert. Eine materilistische und
dialektische Methodolgie hat die
theoretischen Bedingungen aufzuzeigen, unter
denen es gerade
mit
den analytisch empirischen Wissenschaften zu
verwirklichen ist.
4)
Der praktische und weltanschauliche Sinn
dialektisch-materialistischen
Philosophierens besteht
darin, die Aufgabe der theoretischen
Rekonstruktion des
historischen Zusammenhangs von Natur,
Gesellschaft und Denken zu repräsentieren.
Insofern erscheint die Rede von der
materialistischen Dialektik als der
Wissenschaft des Gesamtzusammenhanges
berechtigt — solange nämlich die
Wissenschaften (damit in einem
transitorischen Gegensatz zur Philosophie)
diesen
Gesamtzusarnmenhang als ihren
Nicht-Gegenstand gerade ausgrenzen. Je mehr
jedoch gerade auch den Naturwissenschaften
die Totalität des
Entwicklungszusammenhanges der Natur auf der
Basis der analytischen
Errungenschaften von Physik,
Chemie ,und Biologie zu einem Problem wird,
das heute nicht nur der
Entwicklungsstand der Naturwissenschaften zu
stellen erlaubt, sondern das auch
seine weltweite Gefährdung (die als
ökologische Krise bezeichnet wird — und auf
die
Stegmüllers Diktum von der „planetarischen
Lebensgefahr" vielleicht eher zutrifftals
auf den Marxismus) zu stellen zwingt, desto
mehr wird das Bedürfnis nach solcher
„philosophischen" Reflexion zum Bedürfnis
der Wissenschaften selbst.
Fußnoten
1)
Wolfgang Stegmüller,
Haupt Strömungen der Gegenwartsphilosophie,
Band II, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart,
1975, S. X.
2)
Engels' Arbeit
Herrn Eugen Dührings
Umwälzung
der Wissenschaft
erschien
zwischen Januar 1877 und Juli 1878 als
Artikelserie teils im Hauptblatt, teils in
der wissenschaftlichen Beilage, teils in der
Beilage des „Vorwärts", dem „Central-Organ
der Sozialdemokratie Deutschlands" seit
dem
Gothaer
Parteikongress von 1876. Die erste
Buchausgabe erfolgte im Juli 1878 in
Leipzig. Anlaß der Auseinandersetzung waren
— auf Drängen
Wilhelm Liebknechts — der „Cursus der
Philosophie", der „Cursus der National- und
Socialökonomie"
sowie die „Kritische Geschichte der
Nationalökonomie und des Socialismus" des
damaligen Berliner Privatdozenten Eugen
Dühring, dessen Schriften in Kreisen der
vereinigten sozialdemokratischen Partei
Deutschlands nicht wenige Anhänger fanden.
Obwohl aus aktuellem Anlaß entstanden und
als Polemik konzipiert, ist der
Anti-Dühring
zu einem „Klassiker" der marxistischen
Literatur geworden. Er hat, wie Engels
hoffte, Anhang gefunden „in allen Ländern,
wo es einerseits Proletarier und andrerseits
rücksichtslose wissenschaftliche Theoretiker
gibt" (9). — Die Seitenangaben hinter den
Zitaten beziehen sich im folgenden, auch
soweit sie der
Dialektik der Natur
entstammen, auf Marx-Engels Werke Bd. 20,
Dietz Verlag, Berlin 1972.
3)
vgl. das Vorwort zu MEW Bd. 20, S. XXII.
4)
Im Bereich der Naturwissenschaften
ist hierfür die „Affäre Lyssenko" zum
Paradigma geworden.
5)
Vgl. etwa
Alfred Schmidt,
Der Begriff der Natur in der Lehre
von
Marx,
Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M.
1962.
6)
Zur Diskussion dieser Frage vgl. P. Damerow,
P. Furth, B. Heidtmann, W. Lefevre,
Probleme der materialistischen Dialektik,
in SOPO 42, De/. 1977, 9. Jg., Heft 4.
7)
Vgl,
dazu P. Ruben,
Dialektik und Analytik in der
Naturforschimg,
in
Struktur und Process,
Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin
1977.
8)
Peter Dudek faßt in seinem Aufsatz
Engels und das Problem der Naturdialektik
(in Prokla Nr. 24, Rotbuchverlag,
Berlin(West), 1976, „Engels' Intentionen"
dahingehend zusammen, „Dialektik als
reflexions-philosophisches Kalkül zur
Interpretation der Resultate der
Naturforschung nutzbar zu inachen" (152). Am
Ende seiner Ausführungen
ruft er entrüstet aus: „Aber was ist das für
ein Verständnis von Dialektik, das diese als
methodologisch einheitsstiftendes
Instrumentarium bestehender Wissenschaften
begreift, mittels dessen ein System der
Natur zu entwickeln ist?" (169). Wenn man
mit Dudek einig sein kann, daß es
darum
einer materialistisch verstandenen Dialektik
nicht geht, so kann man andererseits dem
Standpunkt nicht zustimmen, von dem aus er
seinen Engels
aulbaut, um ihn einzureissen. Dudek schlägt
vor, „Dialektik als das zu begreifen, was
sie bei Marx ist: als die Einheit des
Subjekt-Objekt-Verhältnisses vermittelnde
Seite des Gegenstandes selbst, als eine
historische und theoretische Methode, die
mit ihrem Gegenstand unlösbar verknüpft ist"
(169). Mit diesem schlichten Satz —
Dialektik als die Einheit des Subjekt-Objekt-Verhältnisses
venmittelnde
Seite des Gegenstandes selbst (?) — ist
nämlich kurzerhand die Möglichkeit einer
Naturdialektik überhaupt hinwegeskamotiert.
Berufungsinstanz: Marx. Eine Seite zuvor
wird mitgeteilt: „Eine Auseinandersetzung
mit den naturwissenschaftlichen"
— (??) — „Schriften von Engels kann sich
nicht an der Konstatierung der Differenz
bzw. Identität seiner Position mit
derjenigen von Marx festmachen . .
(168).
Dudek tut, was er verbietet. Aber wenn er
Allred Schmidt zustimmt, daß der allein
mögliche Begriff von Naturdialektik „die
Betrachtung der Natur unter dem Aspekt der
subjektiven Vermitteltheit, unter dem Aspekt
spezifischer Formbestimmtheil menschlicher
Praxis" (149) sei, so muß er sich wenigstens
sagen lassen: das ist nun auch nicht Marx!
Und wenn es Marx ist (der in einem Brief an
Kugelmann äußerte, daß Naturgesetze
überhaupt nicht aufgehoben werden können,
sondern was sich in historisch verschiedenen
Zuständen ändern könne, nur die Form sei,
worin sich jene Gesetze durchsetzen), der
damit Dudek für seine Behauptung Zeuge
stehen soll, daß die „Naturgesetze . . .
ahistorisch-universelle
Gültigkeit"
(156)
besitzen, so sollte letzterer immerhin zur
Kenntnis nehmen, daß 1. Marx dies mit Bezug
auf die
Gesetze
gerade der
gesellschaftlichen
Entwicklung gesagt hat (was Dudeks
„marxistisches" Dialektikverständnis in
Frage stellen könnte), und daß 2. heute auch
innerhalb der Naturwissenschaften an der
Historizität der
Naturgesetze
wohl kaum noch gezweifelt werden kann (was
Dudeks Naturverständnis in Frage stellen
könnte).
Es
scheint jedenfalls für einen „gewöhnlichen
Philosophen und Sozialisten" angemessener,
die Erkenntnisse der „bürgerlichen
Naturwissenschaft" — und das zumindest wäre
von Engels zu lernen — zur Kenntnis zu
nehmen, als in ihr nur die „fetischisierten
Begriffs formen von 'objektiver Natur'"(148)
zu erblicken und sie damit vornehm den
belächelten „Positivsten" zu überlassen.
Quelle:
Sozialistische Politik (SOPO), Westberlin
1978, 10. Jhg., Heft 1, S.75-82 |