TREND Serie zum 200. Geburtstag

Dialektik der Natur — Grundgesetze der Dialektik?

von Hans-Jörg Rheinberger

 

07/2020

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1.

Innerhalb jener „semantischen Verschmutzung der geistigen Umwelt des Menschen", die sich gegenwärtig zu einer „planetarischen Lebensgefahr"'ausgewachsen hat — so die Charakterisierung der marxistischen Theorie durch einen führenden Vertreter der bundesrepublikanischen analytischen (1) Wissenschaftstheorie —, bilden die von Friedrich Engels angedeuteten Umrisse einer Dialektik der Natur seit je ein besonderes Ärgernis. In der nunmehr hundertjährigen Geschichte der materialistischen Naturdialektik, die mit Engels' Polemik gegen Dühring(2) ihren expliziten Ausgang nahm und deren Untersuchungskontext mit den Notizen und Fragmenten zur Dialektik der Natur erst fünfzig Jahre später zugänglich gemacht wurden(3), hat es Interpretationsversuche der Engelsschen Aussagen über die „Gesetze der Dialektik" /348/ gegeben, die jenes Ärgernis als gerechtfertigt erscheinen Hessen. Man hat in ihnen die systematische Grundlegung eines deterministisch-finalistischen Natur- und Weltbilds sehen wollen und geriet damit unweigerlich in Konflikt mit der Entwicklungsdynamik der analytisch operierenden empirischen Wissenschaften.(4) Die unter dem Stichwort der „Ontologisierung" geführte Kritik an dieser Interpretation materialistischer Naturdialektik bot ihrerseits als Lösung des Problems den Rückzug der Dialektik aus der Natur an, um sich desto ungestörter im Bereich der menschlichen Gesellschaft bewegen zu können.(5) Mit der Reduktion des Marxismus auf den historischen Materialismus in anthropologischer Absicht vollzog sich zugleich eine Zuteilung von prinzipiell unvereinbaren Erkenntnisweisen: die Analytik den Naturwissenschaften, die Dialektik den Gesellschaftswissenschaften! Diese „Anthro-pologisierung" der Dialektik hatte ihren Preis: um ( — vornehmlich den „jungen" —) Marx zu retten, war Engels fallenzulassen. Gleichzeitig war damit der Anspruch aufgegeben, die Entwicklung von Natur und Gesellschaft in Einheit mit der Entwicklung von Erkenntnis und der Erkenntnis dieser Entwicklung zu denken. Das Programm, eine „Wissenschaft von den Zusammenhängen im Gegensatz zur Metaphysik zu entwickeln" /348/, war suspendiert.

Jeder Versuch einer Wiederaufnahme dieses Programms steht vor der Aufgabe, die Sackgasse der Interpretation materialistischer Dialektik als eines deterministisch-finalistischen Systems zu vermeiden. Die Rekonstruktion der materialistischen Dialektik als „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs" /307/ steht, will sie diesen nicht aus Prinzipien deduzieren, vor dem doppelten Problem, den Ort der Vermittlung dieses Zusammenhangs selbst als historisches Entwicklungsresultat und die wissenschaftliche Erfassung dieser Vermittlung selbst als historisch gewordenes Moment desselben darzustellen. Der Zusammenhang von Natur, Gesellschaft und Erkenntnis kann nicht abstrakt zum Gegenstand einer Wissenschaft gemacht werden; wenn materialistische Dialektik als Wissenschaft soll bestehen können, so muß das Objekt dieser Wissenschaft, jene Zusammenhänge, in jeweils gegenständlicher Konkretion gefasst werden.

Unter der Maßgabe, daß unter dem Gesamtzusammenhang ein Zusammenhang von Zusammenhängen verstanden wird, ist zunächst zu fragen, was unter einem Zusammenhang verstanden werden soll. Wird unter Zusammenhang die historische Erscheinungsform der Einheit von allgemeinen, materiell begründeten Gesetzen mit ihren -besonderen, materiell begründeten Realisierungsbedingungen gemeint, so ist unter der Maßgabe der Kenntnis von Gesetz und Realisierungsbedingungen der Zusammenhang dann wissenschaftlich begriffen, wenn die entsprechende historische Erscheinungsform der Wirklichkeit als aus ihnen resultierende rekonstruiert werden kann. Ich interpretiere nun Engels' Äusserungen zur Dialektik als Wissenschaft so, daß er mit ihr generell die theoretische Form der Rekonstruktion von Zusammenhängen, speziell die von Entwicklungszusammenhängen meint. Seine in diesem Rahmen formulierten „Gesetze" fasse ich als Charakterisierung der Form ihres Erscheinens auf. In der Irreversibilität der Realisierung eines Entwicklunszusammenhangs hat dieser seine Geschichte.

Der folgende Versuch, den Intentionen nachzuspüren, die Engels mit der Vorstellung einer Dialektik der Natur im besonderen verband, hat den Zweck, gegen den angedeuteten „Ontologie"-Verdacht — worunter die Annahme der Existenz einer besonderen „dialektischen" Kausalität zu verstehen wäre — die Probleme sichtbar zu machen, die sich ihm bei der Sichtung des naturwissenschaftlichen Erkenntnismaterials seiner Zeit aufdrängten, und deren Bedeutung für die wissenschaftliche Theoriebildung seither nichts an Aktualität eingebüßt hat. Die Konzentration auf das Problem der Naturdialektik ist nicht in dem Sinne systematisch mißzuverstehen, daß damit gleichzeitig eine Antwort auf die Frage nach dem Ausgangspunkt der dialektischen Rekonstruktion des Gesamtzusammenhangs von Natur, Gesellschaft und Erkenntnis beantwortet wäre.

2.

Im Vorwort zur Auflage von 1885 des Anti-Dühring gibt Engels die biographische Notiz: „Als ich . . . durch Rückzug aus dem kaufmännischen Geschäft und Umzug nach London die Zeit dazu gewann, machte ich, soweit es mir möglich, eine vollständige mathematische und naturwissenschaftliche 'Mauserung' durch, und verwandte den besten Teil von 8 Jahren darauf. Ich war grade mitten in diesem Mauserungsprozesses begriffen, als ich in den Fall kam, mich mit Herrn Dührings sogenannter Naturphilosophie zu befassen. Wenn ich also da manchmal den richtigen technischen Ausdruck nicht finde und mich überhaupt mit ziemlicher Schwerfälligkeit auf dem Gebiet der theoretischen Naturwissenschaft bewege, so ist das nur zu natürlich" /10—11/. Der Anti-Dühring kann in seinen naturtheoretischen Teilen als eine erste aus Vorarbeiten gelegentlich — „ich kam in den Fall" — entstandene Skizze zu der von Engels geplanten, dann aber nie fertiggestellten Naturdialektik betrachtet werden, und ist ein beeindruckendes Beispiel einer politischen Polemik, in der es um weltanschauliche Probleme vom Standpunkt wissenschaftlicher Erkenntnis geht. Worum aber ist es Engels bei der über den Anlaß Dühring hinausgreifenden Beschäftigung mit der historischen Entwicklung und dem aktuellen Stand der Naturwissenschaften seiner Zeit zu tun? Dazu bemerkt er an gleicher Stelle: „Es handelte sich bei dieser meiner Rekapitulation der Mathematik und der Naturwissenschaften selbstredend darum, mich auch im einzelnen zu überzeugen — woran im allgemeinen kein Zweifel für mich war —, daß in der Natur dieselben dialektischen Bewegungsgesetze im Gewirr der zahllosen Veränderungen sich durchsetzen, die auch in der Geschichte die scheinbare Zufälligkeit der Ereignisse beherrschen; dieselben Gesetze, die ebenfalls in der Entwicklungs­geschichte des menschlichen Denkens den durchlaufenden Faden bildend, allmählich den denkenden Menschen zum Bewußsein kommen . . ."/I1/. Zu diesem Satz ist häufig angemerkt worden, es sei Engels also letztlich um die Produktion von nachräglicher Bestätigung in dem Sinne gegangen, als er, von einem fertigen Kanon von feststehenden dialektischen Gesetzen ausgehend, seinen Ausflug in die Naturwissenschaften unternommen -habe, um Beispiele aufzufinden, die seine vorgefalste Ansicht stützen könnten. Man muß sich nun aber die Mühe machen, wenigstens die naturphilosophi­schen Abschnitte des Anti-Dühring im Zusammenhang zu lesen, um zu verstehen, was es für Engels bedeutet, „sich zu überzeugen", womit gleichzeitig interpretierbar wird, was unter einem „dialektischen Gesetz" zu verstehen ist. Er hat alles andere vor, als „die dialektischen Gesetze in die Natur hineinzukonstruieren" /12/; es versteht sich für ihn von selbst, „daß ich über den besonderen Entwicklungsprozeß, den z.B. das" — berüchtigte! — „Gerstenkorn von der Keimung bis zum Absterben der fruchttragenden Pflanze durchmacht, gar nichts sage, wenn ich sage, es ist Negation der Negation"/131/; daß „jede Art von Dingen . . . ihre eigentümlich Art (hat), so negiert zu werden, daß eine Entwicklung dabei herauskommt . . ." /132/; daß schießlich Marx, indem er den Vorgang der Expropriation der Expropriateure im Kapital als „Negation der Negation bezeichnet, . .. nicht daran (denkt), ihn dadurch beweisen zu wollen als einen geschichtlich notwendigen", sondern daß er ihn im Gegenteil, „nachdem er geschichtlich bewiesen hat, daß der Vorgang in der Tat teils sich ereignet hat, teils noch sich ereignen muß,... er ihn zudem als einen Vorgang (bezeichnet), der sich nach einem bestimmten dialektischen Gesetz vollzieht", und „das ist alles" /125/. Man sieht hier deutlich, daß Engels nicht nicht Absicht hat, einen besonderen, natürlichen oder gesellschaftlichen Prozeß durch ein „dialektisches Gesetz" zu beweisen (wir können auch sagen: erklären). Engels sieht gut, daß dadurch nichts bewiesen wäre, wenn eine Entwicklung durch „Negation der Negation" „erklärt" würde, sondern nur eine Tautologie im formallogischen Sinne produziert wäre. Andererseits kommt in diesen Formulierungen aber auch ein Problem zum Ausdruck, das sich in die Frage kleiden läßt, welchen Status dann solche „Grundgesetze der Dialektik" /481/ haben, wenn mit ihnen über besondere Entwicklungsprozesse „nichts gesagt" ist, wenn sie als allgemeine Bezeichnungen von Entwicklungsvorgängen anzusehen sind, deren Gesetzmäßigkeit (Notwendigkeit) nur an ihnen selbst zu gewinnen ist. Will man der Zweideutigkeit der Formulierungen entgehen, muß man sich festlegen. Ich schlage vor, vom Sinn der Engelsschen Erläuterungen her den Ausdruck „Grundgesetz der Dialektik" so zu verstehen, daß er in allgemeiner Weise die Form bezeichnet, in der Bewegungs- und Entwicklungszu­sammenhänge in ihrem zeitlichen Ablauf erscheinen, nicht aber, daß darunter die allgemeine Naturgesetzmäßigkeit zu verstehen ist, die etwa einen Entwicklungsvorgang unter bestimmten Bedingungen so ermöglicht, daß sein zeitlicher Ablauf als eine „Negation" von Stufen dieser Entwicklung erscheint. Mit dem Terminus „Gesetz" wäre dann zum Ausdruck gebracht, daß die unter diese Bezeichnungen gebrachten Phänomene nicht einfach zufälliger Natur sind, sondern das Resultat der historischen Realisierung von materiell begründeten Gesetzen (Kausalitäten) unter ebenso materiell determinierten Randbedingungen. Keineswegs aber wäre damit der Natur eine irgendwie geartete dialektische Finalität unterstellt. Theoretisch gesehen handelt es sich dabei, wenn man so will, um eine allgemeine Formulierung der Erscheinungsweise von räumlichen und zeitlichen Zusammengängen. Methodologisch gesehen hat sie, bezogen auf eine bestimmte Entwicklungsstufe der jeweiligen Wissenschaften — nämlich dann, wenn diese darangehen, die jeweiligen Objekte in ihrer gegenständlichen Konkretion auf der Basis der Kenntnis der ihnen zugrundliegenden Naturgesetze zu rekonstruieren — eine heuristische Funktion; sie verhindern die wechselseitige logische Ausschließung analytischer Abstraktionen, mithin die Identifizierung von Naturkausalität mit einer abstraktiven Interpretation des analytischen Verfahrens. Engels weist immer wieder darauf hin, daß dies jenseits ihrer theoretischen Selbstreflexion in der Praxis der modernen Naturwissenschaften angelegt ist, und umso unabweisbarer wird, je weiter die Erfassung des Untersuchungsgegenstandes fortschreitet; seine Kritik an der „metaphysischen Auffassung" /307/ geschieht vom Standpunkt der kritischen Reflexion eben dieses praktischen Verfahrens, das der Untersuchungsgegenstand erzwingt; der so mit der Einsicht in den Gang des Objekts zugleich prinzipiell die Einsicht in den Gang seiner theoretischen Erfassung ermöglicht. „Negation der Negaton" aber im starken Sinne als ein „Gesetz" zu formulieren, sehe ich für eine Sache des — dialektischen — „Alltagsgebrauchs" /482/ an (um ein Wort von Engels über die metaphysische Fixierung der Analytik zu paraphrasieren). Im Rahmen der Durchsetzung des dialektischen gegen das metaphysische Weltbild hat dieser „Alltagsgebrauch" eine bedeutende ideologische Funktion. Ob auf der Ebene der theoretischen Rekonstruktion von natürlichen (und gesellschaftlichen) Sachverhalten als Repräsentation ihrer experimentellen Rekonstruktion (und praktischen Konstruktion) solche „Gesetze" wie „Negation der Negation" den explizit angebbaren Sinn von Anweisungen für logische Operationen bekommen, ist an dieser Stelle nicht zu untersuchen.(7)

3.

Hier interessiert nun näherhin, was der Sache nach gemeint ist, wenn bei Engels von einer Dialektik der Natur die Rede ist. Geht man den Text durch, so wird man bemerken, daß es durchgehend Vorgänge der Bewegung und Entwicklung sind, die als dialektische Phänomene angesprochen werden. Man wird auch bemerken, daß Engels den Hauptstoß seiner Argumentation gegen eine in ihrer systematischen Grundlegung letztlich nur anthropomorph (oder theomorph, was dasselbe, nur in transzendentaler Version, ist) interpretierbare Auffassung von Naturkausalität richtet. Dabei besteht die Paradoxie gerade darin, daß die anthropomorphe bzw. theomorphe Grundlegung eine mechanistische Kausalitätsauffassung stützt. Demgegenüber versucht Engels mit seinen Hinweisen eine historische Auffassung der Dynamik von Naturkausalität zu stützen, der ein in den verschiedenen Bereichen naturwissenschaftlicher Forschung mehr oder weniger exakt formulierbarer Begriff der Selbstbewegung und Selbstentwicklung der Materie zugrundeliegt. Engels' Dialektik-Begriff substituiert dabei der Naturgesetz­lichkeit keinen wie auch immer gearteten Finalismus, sondern bezieht sich ganz materiellen Organisation diejenigen Effekte — Reproduktion. Morphogenese. Teleonomie — zeigt, die wir Leben nennen. Die Gesetze, denen dieses Leben in seiner Einheit als Organismus gehorcht, sind selbst Resultat der Integration von Gesetzen, wie sie für die anorganische Materie gelten. Engels stellt fest, daß es zur Erklärung dieses Phänomens keines besonderen, transzendental gedachten Vitalprinzips bedarf: und er charakterisiert diesen Integrationsprozeß erläuternd dadurch, daß sich in ihm ein „Umschlag von Quantität in Qualität" vollziehe. Mit Bezug auf die Evolution der Arten formuliert er zunächst in Abgrenzung gegen die „alte Naturphilosophie": „Wie in dieser Schrift entwickelt, fehlte sie. namentlich in der Hegeischen Form, darin, daß sie der Natur keine Entwicklung in der Zeit zuerkannte, kein 'Nacheinander', sondern nur ein 'Nebeneinander'" /12. Hervorhebungen HJ. Rh./. Diese „Entwicklung in der Zeit", eindeutig auf die Gesetzmäßigkeiten wechselwirkender und selbstregulativer Naturvorgänge einerseits und auf die Gesetzmäßigkeit von Wirkungen des Zusammentreffens und Zusammenspielens voneinander unabhängiger Kausalketten andererseits. Eine Interpreatationsschwierigkeit des Textes kommt allerdings dadurch hinein, daß oft raumzeitlich gebundene Realtivefekte von Naturvorgängen nicht explizit von standpunktbezogenenen Aussagen über diese getrennt sind (etwa bei chemischen Reaktionen oder der elektrischen Polarität), und daß Phänomene der Selbstregulation, der selbstregulativen Entwicklung und der historischen Evolution einerseits sowie der makroskopisch determinierten Erscheinungsweise mikroskopisch indeterminierter Prozesse andererseits nicht explizit von dem erkenntnistheoretischen Problem getrennt sind, wie man zum Gesetz einer Erscheinung vorstößt, und wie von diesem her die historische Realität, in der das ihr zugrundeliegende Gesetz sich realisiert, zu rekonstruieren ist.

Betrachtet man Engels' Äusserungen zur „organischen Welt", so sind es zwei Probleme, die er in der Auseinandersetzung mit Dühring ins Zentrum seiner Bemerkungen rückt: die Erklärung der Natur der Lebensvorgänge einerseits und die Erklärung der biologischen Evolution andererseits. „Leben", notiert er an einer Stelle, „ist die Daseinweise der Eiweißkörper, und diese Daseinsweise besteht wesentlich in der. beständigen Selbsterneuerung der chemischen Bestandteile dieser Körper" /75/, und an anderer: „. . . das Leben, der durch Ernährung und Ausscheidung erfolgende Stoffwechsel ist ein sich selbst vollziehender Prozeß, der seinem Träger, dem Eiweiß, inhärent, eingeboren ist. ohne den es nicht sein kann" /76. Hervorhebungen HJ. Rh./. Nun wissen wir heute, daß die wesentlichen Lebensbedingungen — Metabolismus. Reduplikation. Mutagenität — durch ein Interaktionssystem von Nucleinsäuren und Proteinen erfüllt werden: der entscheidende Punkt der Engelsschen Argumentation bezieht sich jedoch darauf, daß eine selbstbewegte, sich im Prozeß der Assimilation/Dissimilation erhaltende materielle Struktur durch die Form ihrer, die sich durch ständige Verwerfung — „Negation" — von zufälligen „individuellen Abweichungen" /65/ einzelner Organismen in einem historischen Differenzierungs­prozeß der Arten realisiert, bedarf zu ihrer Erklärung wiederum keines transzenden­talen, finalistischen Entwicklungsprinzips. Engels erkennt sehr genau, daß die theoretische Leistung von Darwin gerade darin besteht, ungeachtet der noch weitgehenden Unkenntnis über die materiellen Grundlagen der spontanen Variabilität der Organismen, eben jene „rationelle Form", d.h. das Prinzip gefunden zu haben, wonach sich „ihre Wirkungen festsetzen, dauernde Bedeutung erhalten" /65/. Gerade an diesen Beispielen wird deutlich, daß Engels unter der Dialektik der Natur keinen mysteriösen Zusatz zu einer mechanistisch gefaßten Naturkausalität versteht, sondern vielmehr die Formen und Effekte dieser Kausalität in ihrer historischen Realisierung, ihrer gegenständlichen Konkretion.

4.

Jene Form des theoretischen Denkens, die Engels als die „dialektische zugleich materialistische Auffassung" /10/ bezeichnet, ist der Erkenntnis der Natur nicht als a priori angemessen zu behaupten. Sie wird innerhalb der Entwicklung der analytisch operierenden empirischen Wissenschaften immer dort zum Problem, wo es um die Rekonstruktion des Zusammenhangs des untersuchten Obiektbereichs auf der Basis analytisch gewonnener Naturgesetze geht. Diese Rekonstruktion erfordert die Überwindung der abstraktiven Interpretation des analytischen Verfahrens der empirischen Wissenschaften, welche Engels als „metaphysische Auffassung" charakterisiert. An Hegel würdigt Engels gerade, diesen Versuch unternommen zu haben. Was er als das „System" Hegels kritisiert, ist andererseits der Umstand, daß Hegel die „dialektische" Auffassung abstrakt, und das heißt letztlich ohne wirklichen Gegenstand entwickelt — also nicht „zugleich materialistisch" —:dagegen fordert er. die Dialektik habe sich „in der wirklichen Wissenschaften zu bewähren und zu betätigen". /129/ mithin an konkreten Gegenständen. Und er hofft, daß „der Fortschritt der theoretischen Naturwissenschaften meine Arbeit größtenteils oder ganz überflüßig (macht)" /13/. Wen sich die „dialektische und zugleich materialistische Auffassung" historisch auch als „aparte Philosophie" zu Geltung bringt, so kann dies nur in der Perspektive gerechtfertigt erscheinen, die von Engels zum Ausdruck gebrachte Hoffnung zu realisieren. Ihren besonderen Gegenstandsbereich — den man auch als philosophischen bezeichnen mag — aber erhält sie in der Rekonstruktion der Entwicklung dieses Denkens selbst in seiner wissenschaftlichen Form: also dort, wo die „dialektische und zugleich materialistische Auffassung" den Prozeß ihrer eigenen Entstehung thematisiert. Daß der Anti-Dühring und die Fragmente zur Naturdialektik Elemente zu einer solchen dialektischen und materialistischen Theorie der Erkenntnisentwicklung unter Einschluß der Genesis der materialistischen Dialektik aus den analytisch operierenden empirischen Wissenschaften enthält, macht neben den Hinweisen auf die Realdialektik der Natur die besondere wissenschaftliche Leistung dieser Schriften aus.

Der „moderne Materialismus", den Engels seiner ganzen Tendenz nach nicht als eine „über den andern Wissenschaften stehende Philosophie" /24/ verstanden wissen will, mußte, wie es Engels mit Bezug auf den „modernen Sozialismus" formuliert, „wie jede neue Theorie ... zunächst anknüpfen an das vorgefundne Gedankenmaterial. .." /16/. Engels bedient sich sich der philosophischen Begrifflichkeit von Hegel, um die Grundgedanken der „dialektischen Auffassung der Natur" /14/ zu formulieren: es sind jedoch die genuinen Problemstellungen der Wissenschaften der Natur, die er mit ihr zum Vorschein bringen will — und sei es bisweilen mit „ziemlicher Schwerfälligkeit" /II/. Es geht ihm dabei aber um alles andere als um ein neues „System, selbst kein natürliches System der Philosophie" /34/. Vielmehr ist es sein Anliegen — dies gerade auch im Rahmen der politisch-ideologischen Dimension, die dem Anti-Dühring in der weltanschaulichen Orientierung der in der sozialdemokratischen Partei neu zusammengeschlossenen deutschen Arbeiterbewegung zukam —, die theoretischen Errungenschaften der Naturwissenschaften „im Gesamtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen" so in Begriffe zu fassen, daß sie jedem „denkenden Menschen" zugänglich werden und dennoch den Kern der Dinge und ihrer Kenntnis nicht verdecken, wie ihm das die alte „metaphysische Auffassungsweise" zu tun scheint. Jedenfalls nimmt er gegenüber Dühring die Haltung ein. die er für „einen gewöhnlichen Philosophen und Sozialisten" für angemessen erachtet, „der seine Gedanken einfach ausspricht und es der weitern Entwicklung überläßt, über ihren Wert zu entscheiden" /28/. In diesem Sinne faßte er den „modernen Materialismus" auchch als eine „einfache Weltanschauung" /129/ auf. und zwar im Hinblick auf die theoretische Orientierung einer politischen Bewegung. Die Wissenschaftlichkeit dieser Weltanschauung ist in dem Maße ausgewiesen, wie ihre Verallgemeinerungen dem. wie Engels bemerkt, unabschließbaren Prozeß der wissenschaftlichen Erfassung der materiellen Bewegungs­und Entwicklungsformen von Natur, Gesellschaft und Denken nicht als „endgültige Wahrheiten letzter Instanz" /82/ gegenübertreten, sondern sich ihres Charakters als Resultatformulierungen bewußt bleiben. „Bekanntschaft mit der Mathematik und der Naturwissenschaft" /10/ ist dazu die Voraussetzung,— wie die ziterte biographische Notiz von Engels sinnfällig demonstriert.(8)

5.

Dieser interpretierende Nachvollzug der Engelsschen Argumentationsgänge zur Frage der Dialektik der Natur im besonderen und zwar materialistischen Dialektik im allgemeinen läßt sich in den wesentlichen Problemstellungen wie folt thesenhaft zusammenfassen:

1) Es existiert eine reale Dialektik der Natur. Damit ist zunächst nichts anderes konstatiert als das Phänomen der materiellen Selbstbcwegung und Selbstentwick­lung, oder genauer: der materiellen Selbstorganisation, die in Entwicklung resultiert.

2) Soll ein Entwicklungszusammenhang wissenschaftlich adäquat erfaßt werden, so bedarf es dazu der Rekonstruktion desselben als historisches Resultat der Realisierung materieller Gesetzmäßigkeiten unter gegebenen materiellen Bedingunen. Ausdrücke wie „Durchdringung der Gegensätze", „Umschlagen von Quantität in Qualität," „Negation der Negation" /348/ sind dabei Beschreibungen erscheinender Effekte eines sich realisierenden Bewegungs- und Entwicklungs­zusammenhanges, aber keine „Gesetze", die etwa einem Entwicklungszusammen­hang in dem Sinne zugrunde liegen, daß dieser aus ihnen als seiner Ursache hervorginge!

3) Materialistisch und dialektisch verfährt eine Wissenschaft, sofern sie jenes Programm für ihren konkreten Gegenstand realisiert. Eine materilistische und dialektische Methodolgie hat die theoretischen Bedingungen aufzuzeigen, unter denen es gerade mit den analytisch empirischen Wissenschaften zu verwirklichen ist.

4) Der praktische und weltanschauliche Sinn dialektisch-materialistischen Philosophierens besteht darin, die Aufgabe der theoretischen Rekonstruktion des historischen Zusammenhangs von Natur, Gesellschaft und Denken zu repräsentieren. Insofern erscheint die Rede von der materialistischen Dialektik als der Wissenschaft des Gesamtzusammenhanges berechtigt — solange nämlich die Wissenschaften (damit in einem transitorischen Gegensatz zur Philosophie) diesen Gesamtzusarnmenhang als ihren Nicht-Gegenstand gerade ausgrenzen. Je mehr jedoch gerade auch den Naturwissenschaften die Totalität des Entwicklungszusammenhanges der Natur auf der Basis der analytischen Errungenschaften von Physik, Chemie ,und Biologie zu einem Problem wird, das heute nicht nur der Entwicklungsstand der Naturwissenschaften zu stellen erlaubt, sondern das auch seine weltweite Gefährdung (die als ökologische Krise bezeichnet wird — und auf die Stegmüllers Diktum von der „planetarischen Lebensgefahr" vielleicht eher zutrifftals auf den Marxismus) zu stellen zwingt, desto mehr wird das Bedürfnis nach solcher „philosophischen" Reflexion zum Bedürfnis der Wissenschaften selbst.

Fußnoten

1) Wolfgang Stegmüller, Haupt Strömungen der Gegenwartsphilosophie, Band II, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 1975, S. X.

2) Engels' Arbeit Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft erschien zwischen Januar 1877 und Juli 1878 als Artikelserie teils im Hauptblatt, teils in der wissenschaftlichen Beilage, teils in der Beilage des „Vorwärts", dem „Central-Organ der Sozialdemokratie Deutschlands" seit dem Gothaer Parteikongress von 1876. Die erste Buchausgabe erfolgte im Juli 1878 in Leipzig. Anlaß der Auseinandersetzung waren — auf Drängen Wilhelm Liebknechts — der „Cursus der Philosophie", der „Cursus der National- und Socialökonomie" sowie die „Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Socialismus" des damaligen Berliner Privatdozenten Eugen Dühring, dessen Schriften in Kreisen der vereinigten sozialdemokratischen Partei Deutschlands nicht wenige Anhänger fanden. Obwohl aus aktuellem Anlaß entstanden und als Polemik konzipiert, ist der Anti-Dühring zu einem „Klassiker" der marxistischen Literatur geworden. Er hat, wie Engels hoffte, Anhang gefunden „in allen Ländern, wo es einerseits Proletarier und andrerseits rücksichtslose wissenschaftliche Theoretiker gibt" (9). — Die Seitenangaben hinter den Zitaten beziehen sich im folgenden, auch soweit sie der Dialektik der Natur entstammen, auf Marx-Engels Werke Bd. 20, Dietz Verlag, Berlin 1972.

3) vgl. das Vorwort zu MEW Bd. 20, S. XXII.

4) Im Bereich der Naturwissenschaften ist hierfür die „Affäre Lyssenko" zum Paradigma geworden.

5) Vgl. etwa Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 1962.

6) Zur Diskussion dieser Frage vgl. P. Damerow, P. Furth, B. Heidtmann, W. Lefevre, Probleme der materialistischen Dialektik, in SOPO 42, De/. 1977, 9. Jg., Heft 4.

7) Vgl, dazu P. Ruben, Dialektik und Analytik in der Naturforschimg, in Struktur und Process, Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1977.

8) Peter Dudek faßt in seinem Aufsatz Engels und das Problem der Naturdialektik (in Prokla Nr. 24, Rotbuchverlag, Berlin(West), 1976, „Engels' Intentionen" dahingehend zusammen, „Dialektik als reflexions-philosophisches Kalkül zur Interpretation der Resultate der Naturforschung nutzbar zu inachen" (152). Am Ende seiner Ausführungen ruft er entrüstet aus: „Aber was ist das für ein Verständnis von Dialektik, das diese als methodologisch einheitsstiftendes Instrumentarium bestehender Wissenschaften begreift, mittels dessen ein System der Natur zu entwickeln ist?" (169). Wenn man mit Dudek einig sein kann, daß es darum einer materialistisch verstandenen Dialektik nicht geht, so kann man andererseits dem Standpunkt nicht zustimmen, von dem aus er seinen Engels aulbaut, um ihn einzureissen. Dudek schlägt vor, „Dialektik als das zu begreifen, was sie bei Marx ist: als die Einheit des Subjekt-Objekt-Verhältnisses vermittelnde Seite des Gegen­standes selbst, als eine historische und theoretische Methode, die mit ihrem Gegenstand unlösbar verknüpft ist" (169). Mit diesem schlichten Satz — Dialektik als die Einheit des Subjekt-Objekt-Verhältnisses venmittelnde Seite des Gegenstandes selbst (?) — ist nämlich kurzerhand die Möglichkeit einer Naturdialektik überhaupt hinwegeskamotiert. Berufungsinstanz: Marx. Eine Seite zuvor wird mitgeteilt: „Eine Auseinandersetzung mit den naturwissenschaftlichen" — (??) — „Schriften von Engels kann sich nicht an der Konstatierung der Differenz bzw. Identität seiner Position mit derjenigen von Marx festmachen . . (168). Dudek tut, was er verbietet. Aber wenn er Allred Schmidt zustimmt, daß der allein mögliche Begriff von Naturdialektik „die Betrachtung der Natur unter dem Aspekt der subjektiven Vermitteltheit, unter dem Aspekt spezifischer Formbestimmtheil menschlicher Praxis" (149) sei, so muß er sich wenigstens sagen lassen: das ist nun auch nicht Marx! Und wenn es Marx ist (der in einem Brief an Kugelmann äußerte, daß Naturgesetze überhaupt nicht aufgehoben werden können, sondern was sich in historisch verschiedenen Zuständen ändern könne, nur die Form sei, worin sich jene Gesetze durchsetzen), der damit Dudek für seine Behauptung Zeuge stehen soll, daß die „Naturgesetze . . . ahistorisch-universelle Gültigkeit" (156) besitzen, so sollte letzterer immerhin zur Kenntnis nehmen, daß 1. Marx dies mit Bezug auf die Gesetze gerade der gesellschaftlichen Entwicklung gesagt hat (was Dudeks „marxistisches" Dialektikverständnis in Frage stellen könnte), und daß 2. heute auch innerhalb der Naturwissenschaften an der Historizität der Naturgesetze wohl kaum noch gezweifelt werden kann (was Dudeks Naturverständnis in Frage stellen könnte). Es scheint jedenfalls für einen „gewöhnlichen Philosophen und Sozialisten" angemessener, die Erkenntnisse der „bürgerlichen Naturwissenschaft" — und das zumindest wäre von Engels zu lernen — zur Kenntnis zu nehmen, als in ihr nur die „fetischisierten Begriffs formen von 'objektiver Natur'"(148) zu erblicken und sie damit vornehm den belächelten „Positivsten" zu überlassen.

Quelle: Sozialistische Politik (SOPO), Westberlin 1978, 10. Jhg., Heft 1, S.75-82