Wie der Maoismus nach Westberlin kam
Materialien zum Referat

Kommunarden

Leseauszug aus: Kleine Geschichte des SDS

06/2016

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SDS-Flugblatt an der FUB SS 1966

.... Relativ verwirrend war schon damals daß es drei Gründerkreise für die Kommune-Bewegung gab: 1) der Kreis um Rudi Dutschke und Bernd Rabehl sah in kollektiven Lebensgemeinschaften in Wohnkommunen keine Alternative zur politischen Arbeit im SDS; 2) der Kreis um Dieter Kunzelmann, Rainer Langhans, Fritz Teufel und Hans-Joachim Hameister orientierte sich an der Provo-Bewegung und gründete am 1. Januar 1967 in der Wielandstraße die Kommune I; 3) ein Kreis um den ehemaligen Jungsozialisten Eike Hemmer, um Jan Karl Raspe und Jörg Schlotterer gründete später im SDS-Zentrum die Kommune II. Der Gründerzirkel der späteren Kommune II provozierte am 26. November 1966 den Abbruch einer Diskussionsveranstaltung des AStA mit dem Rektor der FU, Prof. Dr. Hans-Joachim Lieber, über die Zwangsexmatrikulation....

....Weit mehr Furore in der Öffentlichkeit machte die Kommune I, die am 10. Dezember 1966 eine SDS-Demonstration gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam in eine Art Happening gegen Terroristen in Uniform umfunktionierte. In Sprechchören wie »Weihnachtswünsche werden wahr, Bomben made in USA« und »Am toten Vietnamesen soll die freie Welt genesen« demonstrierten ungefähr 200 Studenten auf dem Kurfürstendamm, nachdem sie den Hauptdemonstrationszug von 2000 Teilnehmern verlassen hatten, der durch eine menschenleere Umgehungsstraße pilgerte. Nach der Tschombé-Demonstration vom Dezember 1964 war dies die erste große Konfrontation zwischen Berliner Polizei und FU-Studenten, wiederum begleitet vom üblichen Aufschrei der Berliner öffentlichen Meinung (diesmal einschließlich der Berliner Industrie- und Handelskammer). Der Landesverband Berlin des SDS zog blitzschnell nach und veranstaltete zusammen mit der Kommune I am 17. Dezember, einem weiteren verkaufsoffenen Sonnabend, eine »Spaziergang-Demonstration« auf dem Kurfürstendamm. Ungefähr 200 Studenten bildeten auf entsprechende Signale aus einer Kindertrompete hin mehrmals einen Demonstrationszug und verteilten Flugblätter mit Ratschlägen an die Demonstranten und Spaziergänger: »Um uns nicht zusammenschlagen zu lassen, um nicht die hilflosen Objekte der Aggressivität junger Leute in Polizeiuniform zu sein, demonstrieren wir nicht in der alten Form, sondern in Gruppen als Spaziergänger. Wir treffen uns an vorher bestimmten Punkten, um uns bei Nahen der Freunde von der Polizei zu zerstreuen und an einem anderen Ort wieder aufzutauchen.« Der SDS gab folgende Parolen aus: »Keine Keilerei mit der Polizei« und »Kommt die Polizei vorbei / gehen wir an ihr vorbei / an der nächsten Ecke dann / fängt das Spiel von vorne an.« Wie vorausberechnet reagierte die Polizei bierernst und z. T. hysterisiert: 74 Studenten, Schüler und Passanten, besonders solche mit Weihnachtspaketen unter dem Arm, wurden festgenommen. Vier Polizeibeamte in Zivil arretierten Rudi Dutschke, auch mit einem Weihnachtspaket unter dem Arm....

... Im Februar 1967 eroberten die Kommunarden zeitweilig den SDS-Landesverband: Uwe Bergmann, Jörg Schlotterer, Rainer Langhans, Eike Hemmer und Eberhard Schultz wurden als Arbeitskollektiv zum Vorstand des Landesverbandes gewählt....

.....Die Aktionsformen der Kommune: Happenings, phantastische Verkleidungen, scheinbare Aufhebung der Geschlechterrolle, Umfunktionieren des deutschen Liedguts, Vermeidung von physischer Gewalt, wobei sie gleichzeitig die Polizei der Lächerlichkeit preis gab, aber auch der voluntaristische Versuch, neue, nicht autoritäre Lebensformen zu finden, Wohnkommunen, Auflösung von Zweierbeziehungen und rationale Austragung von Gruppenkonflikten übten nicht nur auf SDS-Mitglieder und Studenten, sondern darüber hinaus auch auf große Teile der Jugend zunächst einmal eine gewisse Faszination aus. Die Diskrepanz zwischen Wort und Bild in der betont negativen Berichterstattung von Boulevardpresse und Fernsehen (die bis heute noch nicht wissenschaftlich untersucht worden ist) hatte eine nicht zu unterschätzende Multiplikator-Funktion. Fritz Teufel, Dieter Kunzelmann, Rainer Langhans und später auch Georg von Rauch lasen nur noch Bild und BZ. Waren schicke Fotos von ihnen drin, dann war die Revolution auf dem Vormarsch.

Die existentialistische Pseudolinke der Kommune I wurde am 5. April 1967 von der Gewalt des Staatsapparats getroffen: Beamte der Abteilung I (Politische Polizei) nahmen 11 Studenten fest. Sie seien »unter verschwörerischen Umständen zusammengekommen und hätten hierbei Anschläge gegen das Leben oder die Gesundheit des amerikanischen Vizepräsidenten Hubert Horatio Humphrey mittels Bomben, mit unbekannten Chemikalien gefüllten Plastikbeuteln oder mit anderen gefährlichen Tatwerkzeugen wie Steinen usw. geplant«. Diese Polizeimeldung war falsch: nach einer Untersuchung der gefundenen Gegenstände stellte sich heraus, daß es sich um Rauchkerzen, Plastikbeutel mit Farbe, Pudding und Mehl handelte."

Quelle: Tilman Fichter, Siegward Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, Westberlin 1977, S. 100ff