Editorial
Der neue Rütli-Schwur

von Karl Müller
06/06

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                 Spiegel 42/1992

"Seit der Maueröffnung ist die Ausländerfeindlichkeit das Thema Nummer eins unter den Schülern. Auch wer nicht selber Opfer von Anpöbeleien oder Angriffen war, kennt zumindest die Berichte von Freunden. Daß Emine und Sevim mit ihren Kopftüchern eine Tränengaspatrone in der Tasche haben, ist für ihre Mitschüler ganz selbstverständlich, denn: „Die erkennt man doch sofort!" Nur Mahmut erklärt die „ganze Waffengeschichte" für dummes Zeug. „Der hat das ja auch nicht nötig", meint ein Klassenkamerad, „der sieht ja aus wie ein Ami." Aila mit ihrem dunkelbraunen Lockenkopf hat das Messer dabei, seit ihr Vater einmal brutal zusammengeschlagen wurde, „und ich werde auch zustechen, wenn mich jemand angreift, nicht weil ich Freude daran habe, sondern weil ich mich schützen muß — doppelt sogar, weil ich eine Frau bin und Ausländerin". (Die Zeit vom 17.4.1992)

Im BRD-Gazettenwald des Jahres 1992 rauschte es mächtig: "An deutschen Schulen explodiert die Gewalt." Mit diesem Satz begann das Spiegeltitelthema der Ausgabe Nr.42. Wochenlange Recherchen quer durch die Schulen der Republik waren vorangegangen.

Von heute aus sind die publizistischen Motive klar. Das propagandistische Ziel seit 1990 hieß nämlich: Nationale Identität - Wir sind Deutschland. Und alles was dabei störte, nämliche braune und andere Risse im Bild, mussten herunter gebrochen werden auf persönliches Versagen. Die damals gängigen Schuldzuweisungen lauteten: Nicht intaktes Familienleben und Arbeitslosigkeit.

Begnügte man sich jedoch damals noch mit scheinsoziologischen Erklärungen für alltägliche und strukturelle Gewalt, so dominieren heute, nach gut einem Jahrzehnt der Transformation der sozialen Frage in eine ethnische, rassistische Topoi ("Islamistische Parallelgesellschaft").

In Berlin-Neukölln allen voran der Bürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD), der sein Amt nur einer rot-rot-grünen Zählgemeinschaft zu verdanken hat und von daher alles tut, um im September 2006 wiedergewählt zu werden. So nahm er Mitte Oktober 2004 an einem Symposium teil, bei dem es um Großstädte und Integration ging. Wegen angeblicher  Ähnlichkeiten zwischen niederländischen Großstädten und Berlin antwortete Buschkowsky auf die Frage, ob er hier einen Mord, wie den an dem Künstler Theo van Gogh für denkbar hält, mit einer Gegenfrage: „Was unterscheidet die Bundesrepublik von den Niederlanden?“ Im März 2005 setzte er noch einen drauf im Kampf um rechte Wählerstimmen: Unter dem Titel "Multikulti ist gescheitert" sprach Buschkowsky in der am 10.3.2005 erschienenen Ausgabe der rechtsradikalen Wochenzeitung "Junge Freiheit" davon, dass die "Parallelgesellschaft" ausgetrocknet werden müsse. Weiter äußerte er, man müsse "knauserig mit der Sozialhilfe sein und auf ethnische Rabatte in der Strafverfolgung künftig verzichten".

Die Zählkameraden von PDS und Bündnis90 gaben sich entsetzt. Jedoch weniger wegen der Inhalte, sondern vor allem dass dieses Interview  der "Jungen Freiheit"  gegeben wurde. Buschkowsky konterte, er habe nicht gewusst, um welche Zeitung es sich bei der "Jungen Freiheit" gehandelt habe. Der  PDS-Zählkamerad Anker beendete die Debatte mit den Worten: "Warum also sollte nur wegen Buschkowskys Fehler die gute Zusammenarbeit beendet werden".

Dies in etwa waren die kommunalpolitischen Rahmenbedingungen, die es 2006 den LehrerInnen der Neuköllner Rütli-Schule dienstrechtlich folgenlos möglich machten, die Schließung ihrer Schule zu verlangen und den Unterricht vorübergehend einzustellen, weil sie keine Lust mehr auf ihre Schüler hatten, von denen sie (zu recht) nicht anerkannt wurden. Alles weitere ist bekannt: Sehr schnell verselbständigte sich dieser Fall von rassistisch begründeter Arbeitsverweigerung und "Rütli" wurde zum Synonym für die Forderung nach Härte und Ausgrenzung alles Nichtdeutschem. Kurzum "Rütli" wurde ein gefundenes Vehikel, um verbesserte Konzepte für Deutschland als Lagerland zu fordern.

Die GEW Berlin verstand sich bisher als eine Pionierin im Kampf gegen Rassismus. Seit Mitte der 70er Jahre hatte sie unzählige Resolution und  Beschlüsse zur Verbesserung der Lebens, Arbeits- und Lernbedingungen der MigrantInnen verabschiedet, sogar Kampagnen geführt, Menschenrechtspreise gewonnen und vergeben.

Nun aber im Fall "Rütli" stellte sie sich vorbehaltlos an die Seite ihrer rassistischen KollegInnen. In Presseerklärungen und anderen Verlautbarungen lobte sie deren Mut und die Bezirksleitung der GEW Tempelhof-Schöneberg titelte in ihrem Info-Blatt vom Mai 2006:  "Der neue Rütli-Schwur: Mut zum Unmut!" und verkündete darin: "Der Brandbrief der Rütli-Kolleg/innen hat sicherlich vielen Berliner Lehrerinnnen und Lehrern aus der Seele gesprochen." Drinnen ließen sie den Ex-Landesschulrat Seiring zum Thema "Der soziale Frieden ist enorm gefährdet" zu Worte kommen:

"Wir wissen, dass wir Zuwanderer brauchen, allerdings keine, die archaische Riten pflegen, das Gewaltmonopol des Staates boykottieren, das Leben nach demokratischen Werten mit ihren Ehrbegriffen für unvereinbar halten, deutsche Schüler als Schweinefleischfresser verachten, Mädchen als Huren und Schlampen diffamieren und den Koran über das Grundgesetz stellen. Kein Zweifel, dass auch die deutsche Gesellschaft daran erinnert werden muss, Bedingungen sowohl für Identitätswahrung als auch für Integration der Zuwanderer gleichermaßen zu schaffen. Wir diskutieren darüber, dass in Deutschland zu wenige Kinder aufwachsen. Sicher brauchen wir die Rowdies und Gewaltbereiten der Rütli-Schule und anderer Schulen nicht. Aber wer könnte verantworten, dass Verächter unserer Ordnung und Werte Cliquen bilden und Anhänger finden statt sie auszubilden und zu verantwortungsbewussten Bürgern zu erziehen, die unsere Demokratie und Zivilgesellschaft akzeptieren, ja verteidigen?"

Es ist bitter aber wahr: Die GEW Berlin ist selber ein Ort geworden, wo rassistische Denkfiguren und Zuweisungen nutzbringend verbreitet werden. Wie konnte es dazu kommen? Welches sind die subjektiven und objektiven Bedingungen dieses Paradigmenwechsels? Oder hat hat dieser gar nicht stattgefunden, statt dessen kommen nur bisher verdeckte oder verschüttete Erklärungsmuster wieder zum Vorschein? Ist "Rütli" nur ein Ausdruck des Niedergangs der Staatsschule?

In der vorliegenden Ausgabe befassen sich nicht nur der Aufmacher "Das letzte Wort der Pädagogik oder The cry for law and order !" sondern noch drei weitere Artikel auf ganz unterschiedliche Weise mit diesen Fragen. Die Marburger GegenstandpunktlerInnen  unterziehen die ordnungspolitischen Argumente der Politiker, Pädagogen und der Presse einer beißenden Kritik. Karl-Heinz Schuberts gut 15 Jahre altes Thesenpapier wurde in Auszügen in diese Ausgabe mit hinein genommen, um den grundlegenden Widerspruch, der die BRD-Staatsschule bestimmt, zur Diskussion zu stellen. Darüber hinaus fanden wir in seinem Text Hinweise, warum die LehrerInnen aufgehört haben links zu sein. Morus Markard, von der PDS-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung, behandelt die aktuelle Forderung der rechtsgewendeten Lehrer nach "Grenzen setzen" unter dem Gesichtspunkt der Subjekt/Objekt-Problematik in der Erziehung.

Gewollt oder ungewollt: Nicht weit entfernt von diesen ideologischen Schwenks nach Rechts, wie wir ihn bei der GEW Berlin beobachten können, sind gesamtgesellschaftliche Konzepte des politischen Reformismus deswegen, weil sie dort als Ausleihstationen für berufständische Forderungen dienen. Die Artikel von Joachim Bischoff und Walter Baier sollen unsere Ansicht unterstreichen helfen.

Wie es bei den ReformistInnen so ganz praktisch zugeht, zeigt der Bericht über die Sitzung des WASG- Bundesschiedsgericht am 25.5.06. Und was schließlich in der selbstorganisierten reformistischen Bildungsarbeit mit Unterstützung von Trotzkisten so angeboten wird, kann in dem Artikel Was will das SALZ ? nachgelesen werden.

Schlussendlich sei noch auf das einzigartige Dossier von Bernhard Schmid Frankreichs Rechtsaußen hingewiesen, wo dieser in seiner bekannt akribischen Art sehr gute Einblicke in das rechte Lager Frankreichs vermittelt. Entstehende Ähnlichkeiten zu deutschen rechten Diskursen sind eben nicht zufällig.