Kein Zweifel, die Gesellschaft
hat sich in den letzten Jahrzehnten rapide verändert Die
Produktion hat sich verändert, die Konsumtion hat sich
verändert, Politik hat sich verändert, die Medien haben sich
verändert, Familie hat sich verändert usw. Dynamisches
Wirtschaftswachstum zu großen Raten, „Vollbeschäftigung“ etc.
das alles gehört der Vergangenheit an.
Schule ist kein abgeschlossener
Raum, auch wenn die Klassenzimmer nach Beginn des Unterrichts
oft so wirken, als seien sie das, in dem an den
gesellschaftlichen Realitäten vorbei „Erziehung“ passiert.
- Als ich noch zur Schule ging
(von 1956 bis 1968), stellte sich nur die Frage, was man
später mal werden sollte, nicht ob man überhaupt was werden
könnte! Das ist heute anders!
- Als ich noch zur Schule ging,
gab es erst ein, später zwei Fernsehprogramme mit einem
„sauberen“ Familienprogramm, keine 20 oder 30 Programme, die
rund um die Uhr ausstrahlen.
- Als ich noch zur Schule ging,
gab es keine Computer, Spielkonsolen, DVD-Player etc.
begleitet vom tausendfachen Angebot Gewalt verherrlichender
Spiele, Pornovideos etc.
- Als ich noch zur Schule ging,
gab es keine Handys mit denen in Windeseile „Informationen“
verbreitet werden können. Es gab erst recht keine Handys, mit
denen man fotografieren und Filme abspielen kann.
- Als ich noch zur Schule ging,
gab es keine Zeitungskioske, die vollgestopft sind mit
Druckerzeugnissen, die all die technischen Wunderwerke und
kulturellen „Höchstleistungen“ der interessierten Leserschaft
nahe bringen. Es gab nicht diese Ausstellungsfenster, in denen
uns entblößte Frauenbrüste und mehr geradezu „anspringen“.
Die Büchse der Pandorra
... wer sie öffnet
Die modernen Massenmedien gieren
förmlich nach (ökonomisch) verwertbaren Informationen. Die Lust
des Voyeurismus wird zur Sucht gemacht, weil die Verwertung es
verlangt! Der Rubel muss rollen! Rund um die Uhr müssen
Sensationen beschafft werden. Wo es keine gibt müssen sie
gemacht werden, für Zeitungsartikel, Videos, Talkshows, von
denen eine abartiger ist als die andere und auch die
alltäglichsten und intimsten Erlebnisse solange bearbeitet
werden, bis sie als Sensation dem voyeuristischen Publikum
präsentiert werden können.
Gewalt und Sex, besser noch die
Kombination von beiden (es geht wirklich immer weniger beim Sex
um die Darstellung von Sex, als auch hier um die Darstellung von
Unterwerfungstechniken, die sich auch in der Sprache ausdrücken.
Das Wort „ficken“ steht oft synonym für Schlagen oder
Misshandlung), sind die Renner, bei denen das meiste Gänsehaut
hervortreibende Verlangen erzeugt wird.
Dabei muss die (Reiz-) Schwelle immer höher gelegt werden, wenn
sich was verkaufen lassen soll! Das ist nicht einfach da bei den
Konsumenten! Es muss geschaffen werden! Es wird geschaffen, um
die Nase vorn zu haben beim Umsatz. Moderne Massenmedien
schaffen ein gewalttätiges, sexistisches Alltagsklima
öffentlicher Meinung, indem sie gesellschaftliche „Fakten“
aufbereiten, verstärken, aufbauschen oder überhaupt erst zu
„Fakten“ machen. Sie spiegeln nicht einfach nur wieder, was ist!
Sie spiegeln Gesellschaft, indem sie gleichzeitig aus
Eigeninteresse der ökonomischen Verwertung bestimmte Impulse
verstärken. (Das liegt sowohl an der „Natur“ von Information
bzw. ihrer Verarbeitung – das Verlangen nach Information steigt
mit ihrer Einzigartigkeit und Neuigkeit - , wie an der der
ökonomischen Verwertung – damit die Informanten immer wieder
verkaufen können, müssen sie Informationen liefern die
„einzigartig“ und „neu“ sind!)
... und wer dafür zur
Verantwortung gezogen werden soll
Nun stellen „besorgte“
LehrerInnen und Politiker fest, dass all
das bei Kindern und Jugendlichen Wirkung zeigt. Die modernen
Medien und die angebotenen Inhalte der „Massenkommunikation“
werden tatsächlich genutzt, und die
Inhalte werden massenhaft konsumiert! Nicht genug damit:
Dank der Technik können Konsumenten
selbst zu Produzenten werden. Gelegenheit schafft Diebe!
Die Krönung des Ganzen besteht
dann darin, dass unsere famosen Massenmedien die Missetaten der
Kids als Krönung der Informationssensation vermarkten können.
Es rumort in der Gesellschaft, und es
rumort in den Schulen. Lehrer fühlen sich überfordert, ja
geängstigt und bedroht. Man ruft nach „wirkungsvollen“
Gegenmaßnahmen. Handyverbot an Schulen! Kaugummi-Verbot (Lach)!
Respekt voreinander! Androhung von Sanktionen! Gegen wen?
Die Frage ist leicht beantwortet:
Gegen die Übeltäter natürlich, die Schülerinnen und Schüler, die
immer frecher und undisziplinierter werden, Gewalt und
Pornographie konsumieren und unter einander „kommunizieren“!
Aber: Schlich da nicht neulich
Lehrer XY im Rotlichtmilieu aus der
Peep-Show? SchülerInnen der Klasse xy sahen ihn. Oder haben sie
sich getäuscht und kann das gar nicht sein?
Es ist gerade so, als hätten die Kinder die Technik entwickelt
und die kulturellen „Höchstleistungen“ in Sachen Gewalt- und
(unterwerfender) Sexdarstellung erzeugt. Muss dem Treiben der
Kinder nicht endlich Einhalt geboten werden? Oder nutzen die
Kinder nicht einfach nur dass, was die Welt der Erwachsenen
ihnen anbietet? Sie nutzen es frech und ohne Scham und
Heuchelei! Häufig macht nur das den Unterschied, zumindest in
Sachen Pornografie!
Jawoll, hier ist
Konsumentenverantwortung gefragt. Die Kinder müssen endlich
„verantwortungsbewusst“ konsumieren! Sie müssen unterscheiden
lernen, was gut und was schlecht ist, so wie der Lehrer
XY, bei dem der „sexuelle Notstand“
ausgebrochen ist, weshalb er sich in der Kabine einen wichst, um
vor der Klasse zu erklären, dass man so
was nicht tut (wenn er überhaupt den Mut hat, so
was anzusprechen! Angeboten werden darf „frei“, denn die
Freiheit des Privateigentums ist unser höchstes Gut!
Wir leben in einer „freien“,
angebotsorientierten Gesellschaft! Aber was von
Privateigentümern in unkontrollierter gesellschaftlicher
Arbeitsteilung erzeugt und angeboten werden darf, dass wird auch
konsumiert! Und die Kinder und Jugendlichen werden sich einen
Dreck um Verbote scheren, solange die Erwachsenenwelt eine
Massenkultur der Gewaltverherrlichung und Pornographie erzeugt
und in erheblichen Teilen auch genüsslich konsumiert. Der Ruf
nach „Ordnung“ an den Schulen, nach Sanktionen gegen
SchülerInnen ist nicht nur reaktionär, sondern auch hilflos!
Was für Kleingeister sind es, die
da nach Sanktionen, nach Ordnung in den Schulen schreien und
gleichzeitig jede Gesellschaftsveränderung widerstandslos
schlucken, die diese famose Massenkultur hervorbringt? Da kann
man nichts machen! Schließlich verdienen Anleger mit der ganzen
Scheiße Milliarden und schaffen viele, viele (elende)
Arbeitsplätze, auf die sich die Kinder freuen dürfen.
Mutig und drohend energisch
dagegen tritt man den missratenen Kindern entgegen! Ihr dürft
nicht ..., sonst ...!
Der Gipfel dieser ganzen Scheiße
besteht dann darin, dass dem einzelnen Lehrer oder der einzelnen
Lehrerin auch noch „absolutistische“ Macht zugesprochen werden
soll. Sie allein sollen etwa entscheiden, wann sie sich durch
Schüler beleidigt fühlen! Bravo! Das Kollegium wird zur
Solidarität mit ihnen verdonnert! Sonst ... ist die Schulleitung
gefragt und muss gegen die Dissidenten vorgehen ... damit
Ordnung herrscht und der Unterricht pünktlich beginnen kann!
Man möchte ausrufen: Gott sei
Dank gibt auch noch so etwas wie einen „demokratischen
Rechtsstaat“, so dass man die „absolutistischen“ Lehrer im
Zweifelsfall vor den Kadi zerren kann, um überprüfen zu lassen,
ob der „gefühlten“ Beleidigung eine entsprechende Handlung von
Schülern entspricht!
Wer nicht gewillt ist für eine Gesellschaft einzutreten, in der
in gemeinsamer Verantwortung darüber diskutiert und entschieden
wird, was und wie produziert werden soll und was nicht, der darf
sich nicht wundern, wenn die in privater Verantwortung erzeugte
Scheiße auch ihren Weg zum Verbraucher findet und dort ihre
Wirkung zeigt (ständige Fastfood mach fett und ständiger Konsum
von Gewaltdarstellungen – realen wie fiktiven - stumpft ab und
die Schwelle zur Gewaltbereitschaft sinkt)! Wer die Produktion
nicht kontrollieren will, der wird auch die Konsumtion nicht
kontrollieren können. Wenn er es versucht, kann das nur ein
ebenso reaktionäres, wie auf Dauer wirkungsloses Unternehmen
werden!
Das alles bedeutet nicht, dass ich etwa die Situation von Lehrerinnen
und Lehrern beneidenswert finde! Keine Frage, sie baden asoziale
Gesellschaftsentwicklung aus! Das gibt ihnen aber nicht das
Recht, selbst asoziale Entwicklung zu befördern und auf das
schwächste Glied in der Kette einzudreschen, oder sich
wenigstens in „gefühlter“ Ohnmacht nach einem solchen
Eindreschen auf die missratenen Kids zu sehnen! Sie wären
vielmehr verpflichtet, sich über die wirklichen Ursachen des
„Elends“ an den Schulen Gedanken zu machen und sich am
Widerstand gegen die gesellschaftlichen Kräfte zu beteiligen,
die hierfür tatsächlich die Hauptverantwortung tragen.
Die grundlegenden Ursachen bleiben außen vor ... in Sorge und
ängstlicher Verantwortung
Es bleibt dabei, dass die
grundlegende Struktur dieser Gesellschaft eine Dynamik der
zunehmenden Rücksichtslosigkeit auf Seiten der Individuen
erzeugt. Diese Rücksichtslosigkeit wächst mit den
Schwierigkeiten, das verkündete Glücksversprechen in der
Verfolgung von Privatinteressen tatsächlich einzulösen. Die
Individuen verhalten sich zueinander nicht als Subjekte einer
Solidargemeinschaft (Gesellschaft), sondern als Konkurrenten,
die ihre Interessen gegeneinander, bis hin zur Unterwerfung,
durchsetzen müssen. Je schwieriger das wird, desto brutaler die
Konkurrenz und das Einüben der Techniken zur Behauptung in
dieser Konkurrenz. Sie verhalten sich nicht zueinander als sich
wechselseitig respektierende Subjekte, sondern jeder für sich
behandelt sein Gegenüber immer stärker als Objekt, dessen
Leidensfähigkeit nicht in Betracht kommt (Gewalt und
gewalttätiger „Sex“)! Man kann sich darüber moralisch empören
und einzelne sich anders verhalten, allein es wird nichts
nützen, solange diese Gesellschaft bleibt was sie ist, eine
kapitalistische Gesellschaft, in der das Streben nach
Bereicherung ein dominierendes, allseits akzeptiertes Grundmotiv
ist!
Das „natürliche“ Pendant zum
Privateigentum ist nicht der Sozialstaat, nicht die „Freiheit“.
Beides muss gegen das Privateigentum erkämpft werden,
was nur unter ausnahmsweise günstigen Bedingungen halbwegs
gelingen kann. Das Privateigentum hat nur ein Interesse an
ökonomischer Freiheit, was auch die Freiheit der Verwertung von
Information (daher Meinungsfreiheit!) einschließt. Entfaltet das
kapitalistische Privateigentum die ihm eigene Dynamik der
sozialen Polarisierung zwischen arm und reich, dann wird das
begleitet vom Ausbau staatlicher Repression.
Die Repression erscheint als
die Lösung der durch das Privateigentum erzeugten sozialen
Misere ... auch in der Schule! Wer da mittut, soll nicht von
„pädagogischer Verantwortung“ faseln!
Editorische Anmerkungen
Peter
Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine
Kommentare zum Zeitgeschehen.
|