Editorial
Zivilcourage in den Zeiten von Corona

von Karl-Heinz Schubert

04/2020

trend
onlinezeitung

In dieser Ausgabe erinnert Richard Albrecht als historisch arbeitender Sozialwissenschaftler an eine "Vademekum für heutige Demokraten" genannte Broschüre des späteren (Schul-) Philosophen Ernst Bloch (1885-1977). Im Ausblick behandelt er Blochs damaliges Verständnis von Sozialismus und seine Kritik am nur ökonomisch orientierten Marxismus, die er Anfang 1919 und später in "Spuren" (1930) weiterführte. Mit Bezug darauf resümiert Richard Albrecht für sich:

"Was mich betrifft, so sehe ich keinen antagonistischen Widerspruch zwischen der theoretisch auf Allgemeines und „konkrete Totalität“ bezogenen Lenin´schen Imperialismustheorie und Blochs luxemburganalogem Plädoyer für den Kampf gegen den Feind im eigenen Land".

Ich lese diese Aussage nicht nur historisch immanent, sondern auch im Kontext der aktuellen Probleme vor denen heute die Linke steht.

Corana ist derzeit zu dem Schwarmbegriff für alles Bedrohliche schlechthin geworden. Corona kennt scheinbar keine "intersektionellen" Grenzziehungen und bedroht mutmaßlich alle. Die letzten Reste von Klassensolidarität, die wir aus Betriebs- und Stadtteilkämpfen kennen, drohen nun unterzugehen.

Im letzten Editorial wurde die Ansicht vertreten, dass die Herstellung der Einheit der Klassenlinken die derzeitige Hauptaufgabe für die Entwicklung einer wirkmächtigen sozialistischen Perspektive sei. Solange jedoch die revolutionär-antikapitalistische Linke ihre Grenzziehungen gegen ihre Einheit auf der Grundlage alleinrichtiger Textexergesen betreibt und eben nicht im Sinne von Richard Albrecht historisch erledigte antagonistische Grenzziehungen aufgibt, wird die Chance vertan,  bei der Herstellung der Einheit der Klassenlinken auch und gerade in der "Corona-Krise" voranzukommen.

In der letzten Ausgabe haben wir über 20 programmatische Statements linker und revolutionärer Gruppen zu Corona dokumentiert. Ihre Durchsicht ergab eine Reihe von Übereinstimmungen sowohl im Hinblick auf die Einschätzungen als auch auf die praktischen Forderungen. In dieser Ausgabe folgt nun als Teil II eine Übersicht. Es handelt sich hierbei vornehmlich um Aufrufe und Statements lokal agierender Zusammenhänge, die auf politisch-praktische Vernetzungen unter den Bedingungen eines ausufernden Notstandsstaates gerichtet sind. Dass ein ideologiekritischer Impetus zur Delegitimierung des Notstandsstaats diese Beiträge prägt, ergibt sich allein schon aus dem Gegenstand ihrer Kritik. Es wird sich daher zeigen, ob Protestformen daraus entstehen können, die den virtuellen Raum - siehe z.B. "virtueller Ostermarsch 2020 - verlassen, um kollektive Zivilcourage in öffentlichen Räumen zu praktizieren.

Doch leider scheint es z.Zt. noch so zu sein, als wären fast 100 % der Bevölkerung in der BRD bereit, ihre Grundrechte zugunsten für ihre vermeindlich mit dem Tod bedrohte Gesundheit zu opfern. In solchen Zeiten sollten wir versuchen, aus der Geschichte zu lernen, wenn wir unsere Grundrechte heute verteidigen wollen. Ein sicherlich richtiger Schritt auf dem Weg dazu ist der  "Eilantrag beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof wegen der Ausgangsbeschränkungen im Freistaat Bayern". Doch so ein "Bürgerrechtskampf" darf nicht auf juristische Schritte beschränkt bleiben.  Gerade die US-amerikanische "Bürgerrechtsbewegung" der 1960er Jahre entwickelte eine Reihe von wirksamen Methoden der Zivilcourage.


Quelle: Gene Sharp, Methods of Nonviolant Action, 1967


Memphis 1968: Picket Line während des Streiks
der Arbeiter*innen im Gesundheitswesen

... und eine schöpferische Anwendung heute

Berlin-Kreuzberg, Kottbusser Tor, 28.03.2020
Motto: Die Zeit steht nicht still – Achtsamer Protest in Zeiten von Corona und Ausnahmezustand.
Die Protestierenden sammelten sich einzeln und in Zweiergruppen, hielten 2 Meter Abstand
 und trugen überwiegend Mundnasenschutz. Nach 30 Minuten lösten die Versammelten
ihren Protest auf. Vorher hatte die Polizei aufgefordert die Versammlung zu beenden.

Besonders der "Aufruf zum revolutionären 1. Mai 2020" in Berlin lässt hoffen, dass sich die Basis für eine Politik, die sich dem Notstandsstaat mit Zivilcourage entgegenstellt, verbreitert. Jedoch den Kampf um die Wiederherstellung bürgerlicher Rechte als "revolutionär" zu etikettieren, scheint nicht nur ein wenig sondern eher sehr vermessen und ist nicht mehr als eine verbale Referenz ans eigene Milieu. Sollte sich dieses Protestpotential jedoch in den Quartieren beginnen zu verankern, dann werden die Betriebe  - in der Lesart der gegenwärtigen Notstandsverordnungen - derzeit der einzige legale Ort sein, sich zu versammeln. An dieser Stelle würde sich zeigen, ob es der Klassenlinken gelingt, unter Zurückstellung ihrer inneren Widersprüche den Klassenkampf im Betrieb mit dem Kampf um demokratische Rechte im Stadtteil zu verbinden.

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Am 28. November 1820 wurde Friedrich Engels
in Barmen (heute Wuppertal) geboren
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Die Stadt Wuppertal nahm dies zum Anlass, ihm zum 200. Geburtstag ein großes Veranstaltungsprogramm zu widmen, das im September 2019 mit einem "Schülerschreibwettbewerb" an den Start ging. Jedoch bereits im November 2019 sorgte die Stadt für schlechte Nachrichten: Sie strich die für den 20.4.2020 angekündigte Veranstaltung mit der Vorsitzenden der MLPD, Gabi Fechtner, aus dem offiziellen Programm.

Mit dieser Ausgabe des TREND beginnen wir ebenfalls mit einem "Friedrich Engels"-Spezial, von dem wir hoffen, dass es sich inhaltlich deutlich von aktuellen bürgerlichen Ehrungen unterscheiden wird. Um dies zu markieren, starten wir mit einem Beitrag über Leben und Werk Friedrich Engels' von Ernst Engelberg, der 1961 vom Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED herausgegeben wurde. Er steht quasi exemplarisch für die Vereinnahmung seines Lebenswerks für ein schon damals äußerst problematisches sozialistisches Projekt. Die folgenden Teile dieser Serie werden andere Facetten des politischen und theoretischen Wirkens von Friedrich Engels beleuchten.

Berlin im April 2020