Editorial
Dilemma

von Karl Mueller

02/12

trend
onlinezeitung

Am 25. Januar 2012 gründete sich in Neukölln die dritte Berliner Bürgerplattform (Wir in Neukölln - WIN). In ihr schlossen sich 32 Gruppen auf einer Gründungsveranstaltung zusammen. Rund 1000 Menschen sollen bei der Gründungsveranstaltung dabei gewesen sein. Im Vorfeld hatten bereits die PdL-Abgeordneten Udo Wolf und Elke Breitenbach ihre Teilnahme angekündigt. Dies und weitere Informationen über die Finanzierung der Plattform durch Banken, Konzerne und Stiftungen waren am 27.1.2012 bei Indymedia nachzulesen.

Unter dem Vereinsnamen "Wir in Neukölln - WIN"  - unverdächtig gelabelt als  "Community Organizing" - verbünden sich in Neukölln in erster Linie christliche Gruppen ("Freunde von Jesus und Neukölln", "Unio Apostolatus Catholici") mit muslimischen Gemeinden und Organisation, darunter die Al-Nur Moschee und Milli Görus. Ganz offensichtlich geht es dem vom Kapital gesponserten Projekt um die präventive Kanalisierung von sozialem Widerstand in staatskonforme, staatsberatende Bahnen. Damit erhielt die 2005 in Neukölln gegründete Bürgerstiftung, die im sozialdemokratischen Milieu angesiedelt ist, quasi Flankenschutz auf dem Terrain, wo sie politisch-kulturell nicht reüssieren kann.

Das solche bürgernahen Einrichtungen von strategischer Bedeutungen sind, ist angesichts des kapitalistischen Stadtumbaus in so genannten Problembezirken und eines möglicherweise entstehenden sozialen aber nicht mehr staatsnahen Widerstands naheliegend - mensch schaue dazu nur auf die letzte Wahlbeteiligung in Nordneukölln, die  bei 49,1% lag, oder nach im Wedding, wo die zweite Berliner Bürgerplattform residiert, mit 45,6% Wahlbeteiligung.

Linke und sozialemanzipatorische Kräfte sind dagegen auf diesem Gebiet der Politik ungleich schlechter aufgestellt. Zwar gab es in Berlin eine recht große, stadtweit organisierte Demo gegen die Mieten und Wohnpolitik anlässlich der letzten Abgeordnetenhauswahlen, aber eine verbindliche gemeinsame Bündnisstruktur zwischen den arbeitenden Gruppen ist bisher nicht entstanden, ganz zu schweigen von einem Aktionsprogramm, in dem die zentralen Forderungen und gemeinsamen  Durchsetzungsformen beschrieben wären. Es dominiert ein kieziger Aktionismus, der sich inhaltlich darin erschöpft "den Unmut zu zeigen" (siehe dazu: http://www.dreigroschen-verein.de/)

Ganz offensichtlich mangelt es an strategischer Orientierung, die sich auf eine Analyse der Klassenverhältnisse und Widerspruchskonstellationen gründet. Daran zu arbeiten, um der bereits vorhandenen Praxis eine verbindliche programmatische Grundlage zu geben, steht nicht auf der Agenda der in der Wohnungsfrage politisch arbeitenden Gruppen.

Wir haben diesbezüglich mal in unser Archiv geschaut und einen für die Strategiefrage lehrreichen Aufsatz "Bürgerinitiativen und Reproduktion der Arbeitskraft im Spätkapitalismus" von Claus Offe aus dem Jahre 1971 wieder entdeckt, den wir in dieser Ausgabe virtuell reprinten. Darin heißt es:

"Bürgerinitiativen verlieren ihren politischen Sinn, wenn sie sich bloß an die im politischen Institutionensystem vorformulierten Alternativen, Pläne und Angebote halten und nicht zu Forderungen vorstoßen, deren Erfüllung die Verwaltung nicht ohnehin schon erwägt. Forderungen, die innerhalb des schon vorhandenen Spielraumes von Zugeständnissen liegen, können auch ohne ,Bürgerinitiative' realisiert werden; diese machen sich, durch die mangelnde Radikalität ihrer Forderungen, also implizit überflüssig."

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In einem ähnlichen Dilemma nur mit umgekehrten Vorzeichen steckt die aktuelle Organisations- und Programmdebatte, die mit dem SIB "Na-Endlich-Papier" vor fast einem Jahr eröffnet wurde. Verfolgt man die Entwicklung der Debatte, dann ist festzustellen, dass nun programmatische Fragen die Hauptseite bilden, während organisatorische Überlegungen zur Nebenseite mutierten und - was nun tatsächlich ein Nachteil ist - diese nahezu völlig losgelöst von den theoretischen Bemühungen dastehen (siehe dazu den diesbezüglichen Überblick von "systemcrash"). So wertvoll die in dieser Ausgabe  veröffentlichten Thesen der SIB zur aktuellen ökonomischen Krise trotz etlicher Unzulänglichkeiten erscheinen, um eine programmatische Debatte in Sachen Krise befördern zu helfen, so losgelöst stehen sie organisationspolitisch betrachtet neben dem Anspruch des  "Na-Endlich-Papiers", das hiesige Zirkelwesen überwinden zu helfen.

Dass die SIB einen "Mini-Beitrag" zu einer "geeinten, wahrnehmbaren, kampagnenfähigen anti-kapitalistischen Linken in Deutschland." (Mehrheitspapier, S. 17)  leisten will, ist ja gut und schön. Doch worin der Beitrag hier und heute konkret besteht, welche praktischen Vorschläge sich mit den Thesen verbinden - Fehlanzeige. Stattdessen ein abschließender Appell:

"Also fangen wir endlich an, offen und ernsthaft über revolutionäre Organisierung zu reden
nicht als Selbstzweck, sondern um unsere konzeptionellen Lücken zu schließen.
Natürlich kann und soll speziell für die deutsche Linke, eine Diskussion über nachkapitalistische
Zustände nicht die Diskussion darüber ersetzen, wie wir denn überhaupt hinkommen zu
diesen Zuständen – der oben beworbene „europäische Generalstreik“ z. B. wird ohne stärkeren
Druck von links auf die reformistischen Apparate ewig „Lichtjahre entfernt“ bleiben.
Auch in diesen größeren Zusammenhang möchten wir die angestoßene „Organisationsdebatte“
stellen – und sei es nur, um sich bei internationalen Treffen / Kontakten nicht mehr für
den beklagenswerten Zustand der deutschen radikalen Linken schämen zu müssen."
(Mehrheitspapier, S. 32 - Unterstreichung von mir)

Auch das Minderheitspapier wird in der organisationspolitischen Grundsatzfrage der Überwindung des heutigen Zirkelwesens nicht konkreter:

"Es geht darum, möglichst erfolgreich Kampferfahrungen sammeln und dadurch Selbstvertrauen als Lohnabhängige zu gewinnen; es geht darum, Vertrauen für RevolutionärInnen bei den Massen durch konstruktive, wenn auch nicht unkritische, Beteiligung auch an reformerischen Kämpfen gewinnen; es geht darum, anhand von Bewegungs-/Protest-Anlässen, die systematischen Zusammenhänge und Ursachen der in den Bewegungen und Protesten thematisierten einzelnen Phänomene/Symptome sowie die systematischen Reformgrenzen aufzeigen, und dadurch für die Notwendigkeit einer Revolution zu argumentieren." (Minderheitspapier, S. 49)

Damit teilt das SIB-Krisen-Papier das Manko des "Bochumer Programm"-Torsos, worin gezielt auf die Nennung organisatorischer Konsequenzen verzichtet wurde. Jedoch mit dem nach wie vor entscheidenden qualitativen Unterschied, dass über eine politische Organisierung die "BochumerInnen" nicht einmal mehr  reden wollen.

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Die vorliegende Ausgabe widmet sich gezielt einem aktuellen historischen Thema, nämlich dem kriegsgeilen Menschenschinder Friedrich II., dessen angebliche menschliche Größe als Flötenspieler, Dichter und Philosoph  anlässlich seines 300. Geburtstages derzeit von den Massenmedien und dem politischen Personal abgefeiert wird. Die berühmten preußischen Tugenden, Subalternität und Unterschleif, die der Schinder den Leuten damals abverlangte, werden als zeitlos wertvoll beschworen, weil sie heute so schön in die Zeit passen. Eine Zeit tiefer ökonomischer Krisen, wo das herrschende Personal - vom entsprechenden Klasseninstinkt getrieben -  beginnt ein "Deutsches Europa" zu formen.

Kurzum: Deutschland als Modell für Europa braucht einen passenden ideologischen Überbau und der liest sich in Bezug auf  Preußen laut STERN folgendermaßen:

"Opulente Fotos, historische Bilder und Originaldokumente werden dabei ergänzt durch Infografiken, Karten und Zeitleisten. Sie veranschaulichen die strategischen Schachzüge, unerbittliche Härte und pompösen Inszenierungen des Königshauses und machen die "Supermacht Preußen" greifbar."

Dieser Sicht der Dinge wollen wir mit unserem bescheidenen Einfluss entgegentreten. Dank Franz Mehring ist es uns möglich, einen anderen - einen dialektisch-materialistischen Blick auf die preußische Geschichte zu werfen. Wir beginnen in dieser Ausgabe mit Teil 1 von "Friedrichs aufgeklärter Despotismus".

Deutschland als Modell, das sind nicht nur Hartz IV, Sozialraub, Umverteilung von unten nach oben, sondern auch breit  aufgefächerte Formen der politischen Repression. Auch das hat seine jüngere, postfaschistische Geschichte. Am 28.1.2012 hieß es 40 Jahre Berufsverbot. In der Nr. 1/2012 trugen wir ein wenig Material darüber zusammen. In dieser Ausgabe wollen wir zeigen, wie 1972 die radikale Linke diese Repression einschätzte und welche Überlegungen der Gegenwehr ihr in den Sinn kamen.

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Abschließend noch ein paar Informationen über das, was bei TREND in Planung ist.

Die monatliche Beiratsitzung im Januar 2012 hat folgendes in Angriff genommen: Konzipierung und Installation der neuen Rubrik "Ziviler Ungehorsam und Transformation", Mitte Februar ein Selbstverständnistreffen. Am 5. März 2012 das TREND-Gespräch Nr. 4: Revolutionärer Feminismus - in Kooperation mit der SIB. Ende März/Anfang April: TREND-Gespräch Nr. 5: Strategien des Mietkampfes in Berlin. Ende  April / Anfang Mai: TREND-Gespräch Nr. 6: Männer & Emanzipation.

TREND(s) im Netz - hier die jüngsten Zahlen:

Die BesucherInnenzahlen vom Januar 2012, in Klammern 2011, 20010

  • Infopartisan gesamt:  124.452  (137.896, 158.480)
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