Bürgerinitiativen und Reproduktion der Arbeitskraft im Spätkapitalismus
Thesen zum  Konflikt zwischen erweiterter Reproduktion des Kapitals und einfacher Reproduktion der Arbeitskraft

von Claus Offe

02/12

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Das Hauptargument, mit dem liberale und sozialdemokratische Ideologen die bei uns herrschende Ordnung des Spätkapitalismus zu rechtfertigen suchen, ist der materielle Reichtum, den dieses System hervorgebracht hat. Obwohl von einer egalitären Verteilung dieses Reichtums natürlich keine Rede sein kann, wird doch behauptet, daß der mit allen Mitteln staatlicher Intervention, monopolistischer Marktkontrolle und permanenter technologischer Neuerung stabil gemachte und .modernisierte' Kapitalismus jedenfalls eines geleistet habe: nämlich die Abschaffung von massenhaftem physischen Elend. Auch eine solche Behauptung kann man nicht für bare Münze nehmen. Denn sie lenkt ab von den Phänomenen des Elends, die zwar weniger sichtbar sind als das Massenelend der Arbeiterklasse im Frühkapitalismus, aber deshalb nicht weniger real. So lenkt sie z. B. ab von dem Schicksal jener durchaus in Armut und Elend lebenden Bevölkerungsgruppen, die in Obdachlosenheime abgeschoben werden oder die sich oberhalb der Pensionierungsgrenze von kläglichen Rentenzahlungen über Wasser halten müssen. Ebenso lenkt eine solche Behauptung ab von dem handgreiflichen Massenelend in weniger entwickelten kapitalistischen Ländern (z. B. Mexico) sowie den nahezu permanenten Hungerkatastrophen der Länder der Dritten Welt (z. B. Indien), die in dieser oder jener Form die Kosten für den in entwickelten industriellen Gesellschaften angehäuften Reichtum zahlen. Wenn wir diese Tatsachen von der Formelsprache der herrschenden Ideologie abziehen, so bleibt wenig von dem .Wohlstand' übrig, der zur Rechtfertigung des spätkapitalistischen Systems herangezogen wird. Die Rechtfertigung durch den .gesellschaftlichen Reichtum', den der Kapitalismus erzeugt, ist so unglaubwürdig und irreführend wie eh und je. Was sich jedoch durchaus geändert hat und was deshalb in allen Überlegungen und Strategien systematisch berücksichtigt werden muß, die auf die Veränderung dieser Gesellschaft abzielen, sind die Bedingungen, unter denen der politische Kampf geführt wird und unter denen er geführt werden kann. Der französische Sozialist Andre" Gorz hat als einer der ersten die Bedingungen untersucht, die sich im Kampf um eine antikapitalistische Transformation der Gesellschaft heute neu stellen. In seinem Buch ,Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus' beschreibt Gorz, wie sich die Erscheinungsformen der Verelendung und deshalb auch die Strategien, mit denen der Klassenantagonismus im entwickelten Kapitalismus ausgetragen werden muß, verändert haben. „Solange die große Mehrzahl der Bevölkerung im Elend lebte, d. h. so lange ihr alles Lebensnotwendige vorenthalten wurde, mochte sich die Notwendigkeit eines revolutionären Umsturzes der Gesellschaft von selbst verstehen. [...] Das Schlimmste war die Gegenwart; sie hatten nichts zu verlieren. Aber heute ist in den reichsten Ländern nicht mehr so sicher, was das Schlimmste ist. [...] Die Unerträglichkeit des Systems ist [...] nicht mehr absolut, sie ist nur noch relativ." Das bedeutet: die Unerträglichkeit des Systems drückt sich für die Arbeitenden nicht unmittelbar in der Unzulänglichkeit ihres Geldeinkommens aus, das sie für den Verkauf ihrer Arbeitskraft erzielen. Sondern diese Unerträglichkeit läßt sich viel deutlicher an den gesellschaftlichen Bedingungen ablesen, unter denen die Arbeiter ihre Arbeitskraft zu reproduzieren gezwungen sind. Der ständig erweiterten Reproduktion des Kapitals steht eine stagnierende, ja in manchen Bereichen rückläufige und durch neue Formen der Verarmung gekennzeichnete Reproduktion der Arbeitskraft gegenüber, und dieser Widerspruch wird durch steigende Löhne und steigende Realeinkommen nicht abgeschwächt, sondern nur verdeckt. Deshalb behauptet Gorz, „daß die Lohnkämpfe nicht mehr genügen, um den grundsätzlichen Antagonismus der Klassen zum Ausdruck zu bringen".

Der Begriff des Wachstums, besonders der Begriff wachsenden Realeinkommens, auf den die Verteidiger des Kapitalismus so stolz und nachdrücklich hinweisen, hat zudem einen trügerischen, oder besser: einen betrügerischen Charakter insofern, als er systematisch das unterschlägt, was Gorz die „im Rahmen sich wandelnder Lebensbedingungen tatsächlich entstehenden Kosten der gesellschaftlichen Reproduktion der Arbeitskraft" nennt. Was damit gemeint ist, macht folgende Überlegung klar: unter den Bedingungen eines weniger entwickelten Industriesystems reichten weit geringere Kosten aus als heute, die Arbeitskraft, die in den kapitalistischen Verwertungsprozeß einging, zu ,erzeugen' und zu erhalten (,Reproduktion'). Um dagegen unter hochentwickelten Verhältnissen die Arbeitskraft in Gebrauch zu halten, sind gesellschaftliche Aufwendungen von ganz anderer Größenordnung erforderlich; zum Beispiel: Voraussetzung für die jedenfalls zeitweise Nutzung der weiblichen Arbeitskraft für den Produktionsprozeß ist offensichtlich die Mechanisierung der Hausarbeit einerseits, die Versorgung der Kleinkinder während der Abwesenheit der Eltern andererseits. Eine weitere Voraussetzung, jedenfalls in Großstädten, ist die Beschaffung und Unterhaltung individueller Transportmittel zum Arbeitsplatz. Weitere Nebenkosten der Reproduktion der Arbeitskraft ergeben sich aus dem wachsenden Bedarf und der dementsprechend verlängerten Zeitdauer von Erziehung, Bildung, Fortbildung, Kommunikation und Erholung. Erhöhte gesellschaftliche Kosten müssen also aufgewendet werden, um dieselbe Arbeitskraft für den Gebrauch des Unternehmers zu erhalten. In diesen Zusammenhang gehört natürlich auch die Tatsache, daß die Arbeitskraft, um gebrauchsfähig zu sein für die Verwendung in kapitalistischen und bürokratischen Institutionen, ideologisch präpariert werden muß, damit sie sich loyal den Bedingungen ihrer Verwertung fügt: dies geschieht u. a. durch die Erfüllung und Manipulation immer unsinnigerer Konsumbedürfnisse und das Angebot bloß symbolischer Neuerungen, von denen im übrigen riesige Industriezweige ihrerseits profitieren. — Festzuhalten ist hier bloß, daß die Steigerung des ,Wohlstandes', auf den sich die offizielle Propaganda so viel zugutehält, nicht nur nicht in der Steigerung des Nominaleinkommens (das ist wegen der permanenten Inflation selbstverständlich!), auch nicht in einer Steigerung des Realeinkommens, sondern allein in einer über die wachsenden Reproduktionskosten der Arbeitskraft hinausgehenden Verfügung über Güter und Leistungen zu bemessen ist, sofern sie der individuellen und kollektiven Emanzipation zugutekommt. Was das Arbeitseinkommen ,wert' ist, entscheidet  sich - unter den Bedingungen entwickelter Vergesellschaftung auch der Reproduktion — nicht allein (und in abnehmendem Umfang) daran, was man im einzelnen Kaufakt dafür erhält, sondern entscheidet sich zunehmend an der Frage, welche kollektiven Risiken und Belastungen der anarchische Fortschritt kapitalistischer Industrialisierung den arbeitenden Individuen auferlegt, und wie die Reproduktion der Arbeitskraft kollektiv organisiert ist. Dabei bedeutet also .wachsender Wohlstand': die Verbreiterung der Chance, individuelle und kollektive Lebensinteressen über das Maß hinaus wahrzunehmen, das von dem Erfordernis der Reproduktion bloßer Arbeitskraft jeweils definiert ist. Dieses quantitative und qualitative Kriterium ist der einzige denkbare Maßstab für Wohlfahrt in einem Sinne, der nicht schon von den Interessen der herrschenden Klasse verfälscht ist. (Wem ein solches ,radikales' Kriterium unvernünftig oder .übertrieben' erscheint, der möge sich vergegenwärtigen, daß es für die Seite des fixen Kapitals dauernd wie die simpelste Selbstverständlichkeit angewandt wird: Abschreibungen bis zu 200 Prozent sind heute keine Seltenheit, werden vom Gesetzgeber anerkannt und von der Betriebswirtschaftslehre mit der Theorie der .substanziellen Kapitalerhaltung' verbrämt; erst jenseits dieser Grenze, die also schon reichlich erweiterte Reproduktionskosten des Kapitals - etwa aufgrund gestiegener Wiederbeschaffungskosten oder technischer Neuerungen - enthält, beginnt das, was offiziell als Gewinn erfaßt - und besteuert — wird.)

In allen hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften, auch und gerade in denjenigen, die sich mit dem Begriff des 'Wohlfahrtsstaates' schmücken, treffen wir heute die Situation an, daß die (in der Regel) steigenden Realeinkommen hinter den ebenfalls wachsenden gesellschaftlichen Reproduktionskosten der Arbeitskraft dauernd zurückzubleiben drohen und sie immer nur zeitweise einholen, wobei also von einer Erhöhung des Wohlstandes im definierten Sinne (Teilhabe an Gütern und Leistungen, die nicht nur der Bereitstellung und Erhaltung von Arbeitskraft unter geltenden technischen, organisatorischen und kulturell-ideologischen Kriterien dienen) keine Rede sein kann. Wir haben es also mit einem doppelten Sachverhalt zu tun. Die objektiv erforderten gesellschaftlichen Reproduktionskosten der Arbeitskraft steigen; und die Reallohnerhöhungen vermögen die gestiegenen Reproduktionskosten allenfalls einzuholen, nicht aber im Sinne wachsenden 'Wohlstandes' zu überbieten. Beide Sachverhalte lassen sich direkt in Beziehung setzen zu den Mechanismen kapitalistischer Verwertung bzw. zu den Strategien eines Staatsapparates, dessen primäre Funktion die Erhaltung dieser Mechanismen ist.

(1) Betrachten wir zunächst die Gründe für das Ansteigen der gesellschaftlichen Reproduktionskosten der Arbeitskraft. (Hier ist wohlgemerkt nicht der Preisanstieg eines konstanten .Warenkorbes' gemeint, sondern der Zwang, immer neue Kategorien von Gütern und Leistungen in Anspruch zu nehmen, um auf dem Arbeitsmarkt /verwertbar' zu bleiben, d. h. seinen subjektiven und objektiven Anforderungen dauernd zu genügen. Mit wachsenden gesellschaftlichen Reproduktionskosten der Arbeitskraft vermindert sich zugleich der Anteil der Kosten, die auf dem Wege individueller Kaufakte aufgebracht werden zugunsten des Anteils, der — weil nämlich individuelle Kaufakte zu unrationell wären — durch kollektive Versorgungsleistungen und andere aus Steuern finanzierte Vorkehrungen abgedeckt wird.) Die ständige Erneuerung und Verfeinerung der Produktionstechnik, durch die hindurch sich die kapitalistische Entwicklung vollzieht, setzt auf der Seite der Arbeitskraft eine erhöhte Qualifizierung und oft eine dauernde Vervollkommnung der Kenntnisse und Fertigkeiten voraus, die im Produktionsprozeß nachgefragt werden. Direkte Folge der technologischen Entwicklung des Kapitalismus ist also eine verstärkte Belastung der Arbeitskraft durch Aus- und Fortbildungskosten. Ebenso eine Folge der kapitalistischen Entwicklung ist die Konzentration der Arbeitskraft in großstädtischen Industrie- und Verwaltungszentren, d. h. der Tatbestand und die Folgeprobleme der Urbanisierung, insbesondere die Probleme der großstädtischen Wohnungs-, Personentransport- und Kommunikationssituation. Durch die direkten und indirekten, psychischen und physischen Belastungen der industriellen Produktion entstehen neue Erfordernisse auf dem Gebiet der Gesundheit und Erholung, ohne deren Erfüllung die Arbeitskraft nicht in der erforderlichen Qualität, Belastbarkeit und Kontinuität erhalten werden kann. Die vorbeugende Abwehr der wichtigsten der in die kapitalistische Sozialstruktur eingebauten individuellen Risiken wie Arbeits- und Verkehrsunfall, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität etc. machte eine Reihe von Versicherungssystemen erforderlich, die ebenfalls den Reproduktionskosten der Arbeitskraft zuzurechnen sind. Selbstverständlich ließen sich, unter nicht-kapitalistischen Bedingungen, die meisten der Folge-und Nebenkosten der gesellschaftlichen Reproduktion der Arbeitskraft, die unter großstädtisch-industriellen Lebensbedingungen neu hinzugekommen sind, reduzieren und im Rahmen kollektiv-solidarischer Organisationsformen wesentlich rationeller aufbringen; der Wechsel von individuellen zu kollektiven Transportmitteln ist nur eines der Beispiele hierfür, die mögliche kollektive Verrichtung der kapitalintensiven' hauswirt-schaftlichen Funktionen in Kommunen ein anderes. Unter kapitalistischen Bedingungen stehen jedoch zwei Bedingungen einer solchen Rationalisierung im Reproduktionsbereich im Wege: einerseits sind ganze Industriezweige davon abhängig, daß die typischen Reproduktions- und Nebenkosten der Arbeitskraft nicht in kollektiver, sondern in individualistischer Weise aufgebracht werden — sonst blieben Millionen von Automobilen, Fernsehgeräten und Kühlschränken unverkauft; und andererseits ist die privatistische, haushalts- und familienbezogene Erfüllung sozialer Bedürfnisse die ideologische und institutionelle Fiktion des Individualismus — einer der wichtigsten Mechanismen der Disziplinierung und Entpolitisierung der Arbeiterklasse.

(2) Das Kriterium bloßer Reproduktion der Arbeitskraft setzt die typische Obergrenze sowohl für individuelles Arbeitseinkommen wie für kollektive Versorgungsleistungen. Das bedeutet zweierlei: einerseits ist der Konsum von Gütern und Leistungen auf genau das Maß eingeschränkt, das'als notwendig zur Erhaltung der Arbeitskraft und zur Erhaltung ihrer entpolitisierten ,Arbeitszufriedenheit' anerkannt ist; und andererseits haben alle jene Gruppen und gesellschaftlichen Bedürfnisse, die eine wenigstens indirekte Beziehung zum Arbeitsmarkt nicht aufweisen können, nicht mehr als die dürftigste Sicherung ihres Überlebens vom .Wohlfahrtsstaat' zu erwarten (und bisweilen nicht einmal das); das trifft auf die am Arbeitsmarkt nicht mehr teilnehmenden Bewohner von Gettos, Welfare-Slums und verarmten Regionen zu, und ebenso auf die Insassen von Gefängnissen und Irrenanstalten. Das politische System spätkapitalistischer Gesellschaften ist so beschaffen, daß die Forderungen und Bedürfnisse dieser zuletzt genannten Gruppen ebenso wie diejenigen Forderungen der industriellen Arbeiterklasse, die über die bloße einfache Reproduktion und Erhaltung ihrer Arbeitskraft hinausgehen und unter diesem Gesichtspunkt nicht ,legitimiert' werden können, keine Chance der politischen Durchsetzung haben, außer dort, wo sie zu Mitteln individueller oder kollektiv-politischer Gewalt Zuflucht nehmen; zu Mitteln also, die vom System der herrschenden Gesetze ausnahmslos für illegal und kriminell erklärt werden. Diejenigen Institutionen und Lebensbedingungen, die die einfache Reproduktion der im kapitalistischen Verwertungsprozeß jeweils benötigten Arbeitskraft - und nicht mehr als das — festlegen, sind nicht das Objekt von Lohnkämpfen und Lohnverhandlungen, nicht einmal der Gegenstand von Kämpfen, die auf die Einrichtung von Arbeiterkontrollen im Betrieb abzielen; vielmehr liegen die Erscheinungsformen relativer Armut und Verelendung, von denen Gorz spricht, außerhalb des Produktionsprozesses. Das stellt uns vor eine paradoxe Situation: denn obwohl der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital und die Dominanz kapitalistischer Verwertungsstrategien die Wurzel aller Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Konflikts darstellt - im Produktions- wie im Reproduktionsbereich gleichermaßen -, so hat doch dieser Widerspruch, sofern er nur als Lohnkonflikt ausgetragen wird, eine allenfalls untergeordnete Bedeutung für die Veränderung der Institutionen und Lebensbedingungen, die die Reproduktion der Arbeitskraft regeln und sie den Erfordernissen der kapitalistischen Produktionssphäre unterordnen.

Die bisher erwähnten Zusammenhänge lassen sich in vier Punkten resümieren:

1l) Die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung affiziert sämtliche gesellschaftlichen Lebensbereiche in der Weise, daß die vorhandenen sozialen Verkehrsformen zerstört und die relativ gesicherten Lebensverhältnisse in einen Zustand permanenter .Anarchie' versetzt werden, die nur noch von den Prinzipien des Tausches und der kapitalistischen Akkumulation regiert wird. Diese permanente und chaotische Umwälzung nimmt ihren Ausgang in Technologie und Arbeitsorganisation, erfaßt Lebensformen und Institutionen wie Stadt, Familie, Schulen, Universitäten, das Gesundheitswesen, die Militära'ppa-rate und erstreckt sich auf kolonialistische und imperialistische Beziehungen zu anderen Ländern und schließlich auf das Verhältnis von Gesellschaft und Natur insgesamt.

(2) Dieser naturwüchsig um sich greifende Prozeß der .Vergesellschaftung der Produktion', d. h. der widersprüchlichen Unterordnung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche unter die Logik des Profits, ist in der Entwicklungsphase des Spätkapitalismus, d. h. in einer Stufe hoher ökonomischer Konzentration und weitreichender, aber bloß regulierender Intervention des Staatsapparates, genau in dem Maße unter Kontrolle gebracht worden, daß die neuen Risiken und die zusätzlichen gesellschaftlichen Reproduktionskosten, die den arbeitenden Individuen aufgebürdet werden, jedenfalls so erträglich gemacht werden, wie es die Aufrechterhaltung der Produktion, sowie die von ,Ruhe und Ordnung' jeweils verlangten.

(3) Dadurch verschiebt sich die Erscheinungsform des gesellschaftlichen Grundwiderspruchs, der sich genetisch gleichwohl nach wie vor auf das Kapitalverhältnis zurückführen läßt: es ist nicht mehr der Konflikt zwischen wachsendem Reichtum und progressiver Verelendung, sondern der zwischen erweiterter Reproduktion des Kapitals und einfacher Reproduktion der Arbeitskraft in exakt der Menge und Qualität, wie sie vom Kapital jeweils benötigt wird.

(4) Dieser Konflikt wird vom Lohnkampf als solchem, und selbst von seinen Erfolgen, kaum berührt. Dies einmal aus dem Grunde, weil Lohnerhöhungen, wo sie erkämpft werden, von der Kapitalseite entweder auf dem Wege der Inflation geschluckt oder auf dem Wege planmäßiger Freisetzung mit resultierender Arbeitslosigkeit zunichte gemacht werden können — falls das nicht schon der Staatsapparat mithilfe von Lohnleitlinien, Einkommenspolitik etc. im vorhinein besorgt. Und der relative Bedeutungsverlust des Lohnkampfes für eine antikapitalistische Strategie ergibt sich zum anderen daraus, daß Lohnkämpfe jedenfalls unmittelbar keine Kontrolle über die politisch organisierten gesellschaftlichen Institutionen und Lebensbereiche zu gewinnen vermögen, die die Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft festlegen und nach den Bedürfnissen und Kriterien des Arbeitsmarktes begrenzen.

In dieser Situation tritt ein Bedürfnis auf, das nicht den Kampf um Lohnerhöhungen, sondern den Kampf gegen Lebensumstände motiviert, gegen die wir uns auch im Falle einer Verdoppelung unseres Monatslohnes nicht durch den Kauf von Gütern und Leistungen zur Wehr setzen könnten. Was dieses Bedürfnis erzeugt, ist der Kampf gegen die politischen und institutionellen Lebens- und Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft, die ihr nicht mehr an Lebenschancen und Bedürfnisbefriedigungen zugestehen, als was zu ihrer Verwertung im Produktionsprozeß erforderlich ist. Beispiele dieses Kampfes sind in diesem Band unter der Bezeichnung .Bürgerinitiativen' beschrieben und analysiert worden. Wenn man beurteilen will, was sie für eine sozialistische Transformation des spätkapitalistischen Systems beitragen können, so muß man sich zumindest die folgenden Aspekte und Schwierigkeiten vergegenwärtigen, die solche Bürgerinitiativen typischerweise kennzeichnen. Dabei verstehen wir unter Bürgerinitiativen' alle Aktionen, die sich auf eine Verbesserung der disparitären Bedürfnisbereiche richten (d. h. also auf die Bereiche, in denen die Arbeitskraft und das Leben nicht durch individuelle Kaufakte, sondern kollektiv reproduziert werden: Wohnung, Verkehr und Personentransport, Erziehung, Gesundheit, Erholung usf.) und die weder bloße Formen kollektiver Selbsthilfe sind noch sich darauf beschränken, den offiziösen Instanzenzug des politischen Systems zu mobilisieren;sie bringen vielmehr Formen der Selbstorganisation der unmittelbar Betroffenen hervor, die ebenso wie ihre Aktionsformen im System der politischen Institutionen nicht vorgesehen sind.

(1) Die Bezeichnung ,Bürgerinitiative' läßt zunächst zweierlei erkennen. Einmal unterstreicht sie, daß in solchen Initiativen politische Bürgerrechte und Ansprüche wahrgenommen werden, die nicht die betrieblichen Produktions- und Herrschaftsverhältnisse selbst, sondern die politischen Rahmenbedingungen, unter denen die Reproduktion des Lebens steht, zu verändern suchen. - Was mit dieser Bezeichnung aber zweitens deutlich wird, ist, daß solche Initiativen in vielen (wenngleich nicht in allen) Fällen aus einer Bewußtseinslage hervorgehen, die als spezifische Variante bürgerlich-liberalen politischen Verhaltens bezeichnet werden muß. Denn solche Initiativen basieren häufig auf dem liberalen Vertrauen darauf, daß der Staat bzw. die kommunale Verwaltung, wenn ihnen der Wille und die Bedürfnisse der Bürger nur mit hinreichendem Nachdruck präsentiert werden, sich beeilen wird, ihnen stattzugeben. Dieser liberalen Auffassung zufolge erscheinen die Verhältnisse im Reproduktionsbereich als ,Mißstände', deren Behebung im Grunde nichts im Wege steht, sobald einmal die Bürger genügend .Initiative' aufbringen. Nicht nur in dieser Zuversicht, sondern auch in der konkreten Interessengewichtung einiger Bürgerinitiativen scheint die besondere Bedürfniskonstellation mittelständischer, freiberuflicher und intellektueller Schichten durch: so kann man z. B. mit einigem Recht behaupten, daß kommuneartige Formen eines solidarischen und zugleich haushaltstechnisch rationelleren Zusammenlebens, ebenso wie die anti-autoritären Kindergärten, leicht aus dem Kontext der politischen Intentionen, in dem sie entstanden sind, herausgelöst und auf die spezifischen Komfortbedürfnisse einer gehobenen städtischen Mittelschicht zugeschnitten werden können; das ist in einigen Fällen geschehen. In ihnen haben wir es mit einer Perversion politischer Bürgerinitiativen in politisch belanglose Formen kollektiver Selbsthilfe zu tun: statt politischer Organisation entsteht ein genossenschaftlicher Dienstleistungsbetrieb für die, die sich's leisten können; an den politisch-institutionell festgelegten Reproduktionsbedingungen ändert sich nichts. — Von politisch folgenreichen Bürgerinitiativen können wir deshalb nur in den Fällen sprechen, wo die Gefahr vermieden wird, daß solche Aktionen auf das Niveau spontaner Selbsthilfe-Einrichtungen zurückfallen, die nur den spezifischen Bedürfnissen einer bestimmten Schicht zugutekommen.

(2) Es ist nicht zu übersehen, daß ein Aktivitätsschwerpunkt von (meist sozialdemokratisch geleiteten) Regierungen und Kommunalverwaltungen im kapitalistischen Wohlfahrtsstaat' in genau den Bereichen liegt, die von der dominierenden Logik der Kapitalverwertung und der kapitalistischen Entwicklung vernachlässigt bleiben; dort ergeben sich chaotische Zustände in einem Ausmaß, das die reibungslose Fortsetzung dieser Entwicklung ernstlich behindert: die gesellschaftliche Reproduktion der Arbeitskraft wird nicht einmal in dem minimalen Umfang mehr aufrechterhalten, der für den Bedarf einer technologisch fortgeschrittenen Industrie unerläßlich ist. Daher also der Boom von ,Gemeinschaftsaufgaben' und ,inneren Reformen', die das Ziel einer Bereinigung' der institutionellen Bereiche haben, die die Industrie zwar nicht selbst profitabel versorgen und dadurch kontrollieren kann, auf deren geordnete Entwicklung sie aber langfristig angewiesen ist: Städtebau, Gesundheits- und insbesondere das Erziehungs- und Ausbildungswesen (d. h. also diejenigen Funktionen, die die regionale Verfügbarkeit, Kontinuität und Qualifikation der Arbeitskraft bestimmen) sind die bekanntesten Beispiele.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob Bürgerinitiativen, die sich u. a. auf eine Verbesserung der Lebenschancen in genau diesen Bereichen der Reproduktion konzentrieren, nicht unwissentlich etwas fordern, was sowieso auf der Tagesordnung steht, und sich damit zum Anhängsel statt zum radikalen Opponenten einer wohlfahrtsstaatlichen Administration machen, deren Reform-Anstrengungen allerdings nach wie vor nicht über das Gebot hinausgehen, die notwendigsten infrastrukturellen Vorleistungen für den relativ störungsfreien Fortbestand kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse bereitzustellen. Im Zuge einer solchen Politik der ,Modernisierung' des Kapitalismus mögen Bürgerinitiativen' sogar als willkommene Partner der Verwaltung eine Rolle spielen, insofern sie als politische ,Frühwarnsysteme' mögliche Konflikte und sich abzeichnende Entwicklungsengpässe rechtzeitig signalisieren und damit Hinweise geben, an welchen Stellen die Administration aktiv werden muß.

Zudem gibt es zahlreiche private Interessen- und Kapitalgruppen, die an einer Sanierung des Infrastrukturbereiches nachdrücklich und unmittelbar interessiert sind: jeder neue Kilometer des Schnellstraßensystems bedeutet natürlich bessere Absatzchancen der Automobilindustrie; jede Gesetzesnovelle, die Mietzuschüsse erhöht, wird vom Hausbesitzerverband als indirekte Subventionierung warm begrüßt; in den USA konnten, aufgrund der Erweiterung des öffentlichen Krankenversicherungssystems, die meist privaten Krankenhäuser ihre Tagessätze in vier Jahren um 70 bis 100 Prozent heraufsetzen. Im Zuge verstärkter ,sozialer Aufräumarbeiten' des Staates rechnen sich fette Gewinnchancen auch andere Branchen des ,medizinischindustriellen Komplexes' (insbesondere die pharmazeutische und medizintechnologische Industrie, aber auch die reaktionären ärztlichen Standesorganisationen) aus, ebenso wie die Industrie für elektronische Unterrichtsmittel und die Industrie für Geräte, mit denen man die Luft- und Wasserverschmutzung reduzieren kann.

Die allgemeine Bedingung dafür, daß sich Bürgerinitiativen nicht zu belanglosen Hilfsorganen eines sowieso stattfindenden administrativen Anpassungs- und Reformprozesses umfunktionieren lassen und damit ihre politischen Intentionen preisgeben, besteht darin, daß sich solche Gruppen nicht an das Reglement halten, in dessen Grenzen die offizielle Reformpolitik verläuft. Das bedeutet konkret: die sachlichen, zeitlichen und sozialen Restriktionen, unter denen insbesondere die kommunale Verwaltung steht, müssen im Verlaufe von Bürgerinitiativen gesprengt werden.

Die sachliche' Dimension: Bürgerinitiativen verlieren ihren politischen Sinn, wenn sie sich bloß an die im politischen Institutionensystem vorformulierten Alternativen, Pläne und Angebote halten und nicht zu Forderungen vorstoßen, deren Erfüllung die Verwaltung nicht ohnehin schon erwägt. Forderungen, die innerhalb des schon vorhandenen Spielraumes von Zugeständnissen liegen, können auch ohne ,Bürgerinitiative' realisiert werden; diese machen sich, durch die mangelnde Radikalität ihrer Forderungen, also implizit überflüssig. Diesen Sachverhalt hat Gorz im Auge, wenn er die bloß reformistischen Forderungen beschreibt: „Eine Reform ist reformistisch, wenn sie ihre Ziele und Kriterien der Rationalität und den Möglichkeiten des bestehenden Systems unterordnet."

Dieses Prinzip hat Konsequenzen für die zeitliche Dimension der Strategie von Bürgerinitiativen. Ein besonders absurdes Beispiel für die Widersprüchlichkeit systemimmanenter Anpassungspolitik wird im Zusammenhang mit Verkehrsstreiks und Massenaktionen sichtbar, die auf die Einführung des Null-Tari-fes abzielen: zur gleichen Zeit, da die Stadtverwaltung alles daran setzt, solche Aktionen entweder niederzuknüppeln (Bremen) oder auszuhungern (Hannover), sind sich ihre Ressortbeamten ebenso wie nahezu alle verkehrswissenschaftlichen Experten darüber einig, daß in zehn Jahren die Einführung des Null-Tarifes die einzige Möglichkeit sein wird, großstädtische Verkehrssysteme effizient zu organisieren. Was die Administration heute als nahezu kriminelle Forderung abweist, betrachtet sie selbst für einen späteren Zeitpunkt, nämlich wenn alle Anlagen ordnungsgemäß abgeschrieben sind und sich das Chaos auch unter den ,objektiven' Gesichtspunkten von Industrie und Verwaltung bis zur Unerträglichkeit entwickelt hat, als ihren einzigen Ausweg. In ganz anderem Maßstab gilt der gleiche Zusammenhang für die Schwarze Bürgerrechtsbewegung und die militanten Negerorganisationen in den USA: die Kampfparole NOW! bedeutet: durchkreuzt den Fahrplan der Administration, laßt ihr keine Zeit zu hinhaltenden Ausweichmanövern, in deren Verlauf sie die Kosten für Zugeständnisse an anderer Stelle und auf Umwegen wieder eintreiben kann.

Die Radikalität, mit der allein sich Bürgerinitiativen als politische Aktionsformen-rechtfertigen können, manifestiert sich schließlich in den sozialen und organisatorischen Mitteln, von denen ihre Aktionen Gebrauch machen. Bürokratien können prinzipiell nur mit individuellen .Repräsentanten' von Gruppeninteressen, die eine .Verhandlungsvollmacht' vorweisen, fertigwerden; alles andere überlassen sie der Polizei. Aber sobald sich Bürgerinitiativen auf die Formen der Auseinandersetzung beschränken, denen Bürokratien allein gewachsen sind, zerstören sie die Bedingungen ihres eigenen Erfolgs. Alle erfolgreichen Bürgerinitiativen benutzen deshalb, neben und vor allen Verhandlungen, jene Mittel, die die einzige Basis ihrer Sanktionsgewalt (und gerade deshalb kriminalisiert) sind: Go-in, Besetzung, Blockade, gezielte Sabotage und Boykott. Vorbilder liefern wieder die Aktionen der militanten Schwarzen Gruppen sowie anderer Minoritäten in den USA: ob Straßenzüge von den Bewohnern abgesperrt werden, weil die Stadtverwaltung bzw. Elektrizitätsgesellschaft sich weigern, Spielplätze, Straßenbeleuchtung und Versorgungsnetz in Ordnung zu halten; ob ein Tbc-Diagnosewagen von den ,Young Lords' (der militanten puertorikanischen Organisation in New York) ,entführt' und in eigener Regie im eigenen Wohnviertel betrieben wird; ob im Getto alle Geschäftsleute aktiv boykottiert werden, die sich weigern, regelmäßige Beiträge zu einem von der Black Panther Party organisierten Frühstücksprogramm für Schulkinder zu leisten; ob in Berkeley ein ungenutztes und zu Spekulationszwecken gehaltenes Grundstück besetzt und zum ,Peoples Park' erklärt wird — oder ob im Frankfurter Westend leerstehende Häuser besetzt und an Familien verteilt werden: überall handelt es sich um eine Kombination von Verhandlungsstrategien mit kalkulierten Gewaltakten. Diese Kombination, sowie die Radikalität und Kurzfristigkeit der Forderungen sind die einzigen Mittel, mit denen verhindert werden kann, daß Bürgerinitiativen zu Scheingefechten auf dem falschen Terrain verkümmern. (3) Der dritte kritische Aspekt von Bürgerinitiativen liegt im Problem ihrer organisatorischen Selbststabilisierung. Denn während die Klassenauseinandersetzung im industriellen Großbetrieb sich aufgrund der Sichtbarkeit und des kollektiven Charakters des Konflikts eher ,spontan' organisiert und durch das Herrschaftsverhältnis des Kapitals selbst Dauer und Stabilität gewinnt, wird sie in der Vereinzelung der Wohnsituation und der individuell erscheinenden Probleme des Reproduktionsbereiches stets infragegestellt. Die Möglichkeit einer .elastischen' Politik der Stadtverwaltung, die punktuell nachgiebig und generell starr, mal mit Polizei und mal mit offiziösem Wohlwollen reagiert, leistet der Fragmentierung des Konflikts weiter Vorschub. Diese Fragmentierung hat jedoch eine objektive Ursache: die Phänomene ,relativer' und kollektiver Verelendung im Reproduktionsbereich treffen die Familien, Individuen, Stadtteile, Einkommens- und Berufsgruppen in unterschiedlichem Ausmaß, so daß die unterschiedliche und zeitlich schwankende Neigung entsteht, sich gegen die ärgsten Benachteiligungen jeweils individualistisch zur Wehr zu setzen. Ebenso wechseln die Kategorien von Belastungen, denen der einzelne ausgesetzt ist: die Probleme der Ausbildung, Kindererziehung und -Versorgung, der Gesundheit, Erholung, Wohnung usf. werden nicht als einheitliches, kollektives Syndrom, sondern als Vielfalt individueller Schicksale und Schwierigkeiten erfahren. Versuche, sie in kollektiven und solidarischen Aktionen zu bekämpfen, werden ferner durch den Umstand entmutigt, daß scheinbar alles durch zentralistische Entscheidungen der ,großen Politik' schon festgelegt ist, gegen die man auf der Ebene lokaler Aktionsgruppen ohnehin nichts machen könne. Es ist zweifellos diese objektive Fragmentierung, die die in allen entwickelten kapitalistischen Ländern stattfindende Verlagerung der Ausbeutung, Verelendung und relativen Armut von der Ebene des individuell ausgezahlten Lohnes auf die Ebene kollektiver Reproduktion der Arbeitskraft und institutionell festgelegter Befriedigung von Lebensbedürfnissen erleichtert: die Zersplitterung des auf disparitäre Bereiche abgeschobenen Elends vermindert für das System das Risiko organisierten Widerstandes. Am leichtesten ist dieser Widerstand dort aufzunehmen, wo soziale Gruppen als Gruppen vom Arbeitsmarkt praktisch angeschlossen sind und oft nicht mehr als das physische Existenzminimum (verbunden meist mit den autoritärsten Formen sozialer und staatlicher Repression) als Maßstab ihrer Lebensführung zugewiesen bekommen. In einer solchen Situation befinden sich in den USA gleichermaßen die Schwarzen, die Frauen und bis zu einem gewissen Grade große Gruppen der Studenten; deren militante Organisationen arbeiten jeweils auf der Basis dieser Gemeinsamkeit. Aber der Widerstand gegen die auf disparitäre Lebensbereiche verschobene Ausbeutung und Unterdrückung kann gleichfalls in sozialen Gruppen von geringerer Homogenität, eben in Bürgerinitiativen, wie sie in diesem Band beschrieben werden, organisiert werden. Als Voraussetzung dafür zeichnen sich allerdings zwei weitere Bedingungen ab, ohne die eine vom Reproduktionsbereich ausgehende Entfaltung des politischen Kampfes nicht gelingen kann und in zersplitterten Gruppenansprüchen und -aktionen steckenbleiben muß. Um eine solche Zersplitterung zu überwinden, müssen wir sowohl in vertikaler wie in horizontaler Richtung die Konsolidierung der Bürgerinitiativen durch Aufklärung und Organisation vorantreiben. In vertikaler Richtung: das bedeutet den in jedem einzelnen Falle konkret geführten Nachweis, daß das Kapital und die von ihm getragene gesellschaftliche Entwicklungsdynamik den gemeinsamen Nenner aller disparitären Einschränkungen und Belastungen darstellt; daß also entweder die unangetastete politische Macht des Privateigentums von Hausbesitzern, Erdölkonzernen und Verkehrsunternehmen direkt die Verhältnisse im Reproduktionsbereich bestimmt; oder daß der Staatsapparat bzw. die Kommunalverwaltung gezwungen ist, die Organisation dieser Lebensbereiche gemäß den Bedürfnissen des Kapitals qualitativ zuzuschneiden und quantitativ zu begrenzen; und daß das immanente Ziel solcher Bürgerinitiativen schließlich auf die Abschaffung der Herrschaft des Kapitals hinausläuft. — Diese Zusammenhänge konkret zu erarbeiten ist eine der Bedingungen, die Bürgerinitiativen erfüllen müssen, um den Schritt von flüchtigen ad-hoc-Koalitionen zur politischen Organisation und Selbststabilisierung zu tun.

Die andere Bedingung, die der horizontalen Konsolidierung, besteht in der organisierten Zusammenarbeit, im Erfahrungsaustausch und in der gemeinsamen Aktionsplanung verschiedener Initiativgruppen auf der Ebene von Städten und Stadtteilen. Auf diese Weise kann die bornierte Spezialisierung der mit antiautoritären Kindergärten, sozialistischer Kritik der Stadtplanung, Lehrlingsarbeit oder anderen Projekten beschäftigten Gruppen aufgebrochen werden, und das Syndrom der Unterdrückung von Lebensbedürfnissen im Reproduktionsbereich sowie deren durchgehende Ursache gerät in den Blick und in den Bereich organisierter politischer Praxis.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Bürgerinitiativen - Schritte zur Veränderung (Hrg. Heinz Grossmann), Frankfurt/Main 1971, S. 152 - 162

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