verdeckt. Deshalb behauptet Gorz, „daß die Lohnkämpfe nicht mehr
genügen, um den grundsätzlichen Antagonismus der Klassen zum
Ausdruck zu bringen".Der Begriff des Wachstums, besonders der
Begriff wachsenden Realeinkommens, auf den die Verteidiger des
Kapitalismus so stolz und nachdrücklich hinweisen, hat zudem
einen trügerischen, oder besser: einen betrügerischen Charakter
insofern, als er systematisch das unterschlägt, was Gorz die „im
Rahmen sich wandelnder Lebensbedingungen tatsächlich
entstehenden Kosten der gesellschaftlichen Reproduktion der
Arbeitskraft" nennt. Was damit gemeint ist, macht folgende
Überlegung klar: unter den Bedingungen eines weniger
entwickelten Industriesystems reichten weit geringere Kosten aus
als heute, die Arbeitskraft, die in den kapitalistischen
Verwertungsprozeß einging, zu ,erzeugen' und zu erhalten
(,Reproduktion'). Um dagegen unter hochentwickelten
Verhältnissen die Arbeitskraft in Gebrauch zu halten, sind
gesellschaftliche Aufwendungen von ganz anderer Größenordnung
erforderlich; zum Beispiel: Voraussetzung für die jedenfalls
zeitweise Nutzung der weiblichen Arbeitskraft für den
Produktionsprozeß ist offensichtlich die Mechanisierung der
Hausarbeit einerseits, die Versorgung der Kleinkinder während
der Abwesenheit der Eltern andererseits. Eine weitere
Voraussetzung, jedenfalls in Großstädten, ist die Beschaffung
und Unterhaltung individueller Transportmittel zum Arbeitsplatz.
Weitere Nebenkosten der Reproduktion der Arbeitskraft ergeben
sich aus dem wachsenden Bedarf und der dementsprechend
verlängerten Zeitdauer von Erziehung, Bildung, Fortbildung,
Kommunikation und Erholung. Erhöhte gesellschaftliche
Kosten müssen also aufgewendet werden, um dieselbe
Arbeitskraft für den Gebrauch des Unternehmers zu erhalten. In
diesen Zusammenhang gehört natürlich auch die Tatsache, daß die
Arbeitskraft, um gebrauchsfähig zu sein für die Verwendung in
kapitalistischen und bürokratischen Institutionen,
ideologisch präpariert werden muß, damit sie sich loyal den
Bedingungen ihrer Verwertung fügt: dies geschieht u. a. durch
die Erfüllung und Manipulation immer unsinnigerer
Konsumbedürfnisse und das Angebot bloß symbolischer Neuerungen,
von denen im übrigen riesige Industriezweige ihrerseits
profitieren. — Festzuhalten ist hier bloß, daß die Steigerung
des ,Wohlstandes', auf den sich die offizielle Propaganda so
viel zugutehält, nicht nur nicht in der Steigerung des
Nominaleinkommens (das ist wegen der permanenten Inflation
selbstverständlich!), auch nicht in einer Steigerung des
Realeinkommens, sondern allein in einer über die
wachsenden Reproduktionskosten der Arbeitskraft
hinausgehenden Verfügung über Güter und Leistungen zu
bemessen ist, sofern sie der individuellen und kollektiven
Emanzipation zugutekommt. Was das Arbeitseinkommen ,wert' ist,
entscheidet sich - unter den
Bedingungen entwickelter Vergesellschaftung auch der
Reproduktion — nicht allein (und in abnehmendem Umfang)
daran, was man im einzelnen Kaufakt dafür erhält, sondern
entscheidet sich zunehmend an der Frage, welche kollektiven
Risiken und Belastungen der anarchische Fortschritt
kapitalistischer Industrialisierung den arbeitenden Individuen
auferlegt, und wie die Reproduktion der Arbeitskraft
kollektiv organisiert ist. Dabei bedeutet also .wachsender
Wohlstand': die Verbreiterung der Chance, individuelle und
kollektive Lebensinteressen über das Maß hinaus
wahrzunehmen, das von dem Erfordernis der Reproduktion bloßer
Arbeitskraft jeweils definiert ist. Dieses quantitative und
qualitative Kriterium ist der einzige denkbare Maßstab für
Wohlfahrt in einem Sinne, der nicht schon von den Interessen der
herrschenden Klasse verfälscht ist. (Wem ein solches ,radikales'
Kriterium unvernünftig oder .übertrieben' erscheint, der möge
sich vergegenwärtigen, daß es für die Seite des fixen Kapitals
dauernd wie die simpelste Selbstverständlichkeit angewandt wird:
Abschreibungen bis zu 200 Prozent sind heute keine Seltenheit,
werden vom Gesetzgeber anerkannt und von der
Betriebswirtschaftslehre mit der Theorie der .substanziellen
Kapitalerhaltung' verbrämt; erst jenseits dieser Grenze,
die also schon reichlich erweiterte Reproduktionskosten
des Kapitals - etwa aufgrund gestiegener
Wiederbeschaffungskosten oder technischer Neuerungen - enthält,
beginnt das, was offiziell als Gewinn erfaßt - und besteuert —
wird.)
In allen hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften,
auch und gerade in denjenigen, die sich mit dem Begriff des
'Wohlfahrtsstaates' schmücken, treffen wir heute die Situation
an, daß die (in der Regel) steigenden Realeinkommen
hinter den ebenfalls wachsenden gesellschaftlichen
Reproduktionskosten der Arbeitskraft dauernd zurückzubleiben
drohen und sie immer nur zeitweise einholen, wobei also
von einer Erhöhung des Wohlstandes im definierten Sinne
(Teilhabe an Gütern und Leistungen, die nicht nur der
Bereitstellung und Erhaltung von Arbeitskraft unter geltenden
technischen, organisatorischen und kulturell-ideologischen
Kriterien dienen) keine Rede sein kann. Wir haben es also mit
einem doppelten Sachverhalt zu tun. Die objektiv erforderten
gesellschaftlichen Reproduktionskosten der Arbeitskraft steigen;
und die Reallohnerhöhungen vermögen die gestiegenen
Reproduktionskosten allenfalls einzuholen, nicht aber im Sinne
wachsenden 'Wohlstandes' zu überbieten. Beide Sachverhalte
lassen sich direkt in Beziehung setzen zu den Mechanismen
kapitalistischer Verwertung bzw. zu den Strategien eines
Staatsapparates, dessen primäre Funktion die Erhaltung dieser
Mechanismen ist.
(1) Betrachten wir zunächst die Gründe für das Ansteigen der
gesellschaftlichen Reproduktionskosten der Arbeitskraft.
(Hier ist wohlgemerkt nicht der Preisanstieg eines konstanten
.Warenkorbes' gemeint, sondern der Zwang, immer neue
Kategorien von Gütern und Leistungen in Anspruch zu nehmen, um
auf dem Arbeitsmarkt /verwertbar' zu bleiben, d. h. seinen
subjektiven und objektiven Anforderungen dauernd zu genügen. Mit
wachsenden gesellschaftlichen Reproduktionskosten der
Arbeitskraft vermindert sich zugleich der Anteil der Kosten, die
auf dem Wege individueller Kaufakte aufgebracht werden zugunsten
des Anteils, der — weil nämlich individuelle Kaufakte zu
unrationell wären — durch kollektive Versorgungsleistungen und
andere aus Steuern finanzierte Vorkehrungen abgedeckt wird.) Die
ständige Erneuerung und Verfeinerung der Produktionstechnik,
durch die hindurch sich die kapitalistische Entwicklung
vollzieht, setzt auf der Seite der Arbeitskraft eine erhöhte
Qualifizierung und oft eine dauernde Vervollkommnung der
Kenntnisse und Fertigkeiten voraus, die im Produktionsprozeß
nachgefragt werden. Direkte Folge der technologischen
Entwicklung des Kapitalismus ist also eine verstärkte Belastung
der Arbeitskraft durch Aus- und Fortbildungskosten.
Ebenso eine Folge der kapitalistischen Entwicklung ist die
Konzentration der Arbeitskraft in großstädtischen Industrie- und
Verwaltungszentren, d. h. der Tatbestand und die Folgeprobleme
der Urbanisierung, insbesondere die Probleme der großstädtischen
Wohnungs-, Personentransport- und
Kommunikationssituation. Durch die direkten und indirekten,
psychischen und physischen Belastungen der industriellen
Produktion entstehen neue Erfordernisse auf dem Gebiet der
Gesundheit und Erholung, ohne deren Erfüllung die
Arbeitskraft nicht in der erforderlichen Qualität, Belastbarkeit
und Kontinuität erhalten werden kann. Die vorbeugende Abwehr der
wichtigsten der in die kapitalistische Sozialstruktur
eingebauten individuellen Risiken wie Arbeits- und
Verkehrsunfall, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität etc.
machte eine Reihe von Versicherungssystemen erforderlich,
die ebenfalls den Reproduktionskosten der Arbeitskraft
zuzurechnen sind. Selbstverständlich ließen sich, unter
nicht-kapitalistischen Bedingungen, die meisten der Folge-und
Nebenkosten der gesellschaftlichen Reproduktion der
Arbeitskraft, die unter großstädtisch-industriellen
Lebensbedingungen neu hinzugekommen sind, reduzieren und im
Rahmen kollektiv-solidarischer Organisationsformen wesentlich
rationeller aufbringen; der Wechsel von individuellen zu
kollektiven Transportmitteln ist nur eines der Beispiele
hierfür, die mögliche kollektive Verrichtung der
kapitalintensiven' hauswirt-schaftlichen Funktionen in Kommunen
ein anderes. Unter kapitalistischen Bedingungen stehen jedoch
zwei Bedingungen einer solchen Rationalisierung im
Reproduktionsbereich im Wege: einerseits sind ganze
Industriezweige davon abhängig, daß die
typischen Reproduktions- und Nebenkosten der Arbeitskraft nicht
in kollektiver, sondern in individualistischer Weise
aufgebracht werden — sonst blieben Millionen von Automobilen,
Fernsehgeräten und Kühlschränken unverkauft; und andererseits
ist die privatistische, haushalts- und familienbezogene
Erfüllung sozialer Bedürfnisse die ideologische und
institutionelle Fiktion des Individualismus — einer der
wichtigsten Mechanismen der Disziplinierung und Entpolitisierung
der Arbeiterklasse.
(2) Das Kriterium bloßer Reproduktion der Arbeitskraft
setzt die typische Obergrenze sowohl für individuelles
Arbeitseinkommen wie für kollektive Versorgungsleistungen. Das
bedeutet zweierlei: einerseits ist der Konsum von Gütern und
Leistungen auf genau das Maß eingeschränkt, das'als notwendig
zur Erhaltung der Arbeitskraft und zur Erhaltung ihrer
entpolitisierten ,Arbeitszufriedenheit' anerkannt ist; und
andererseits haben alle jene Gruppen und gesellschaftlichen
Bedürfnisse, die eine wenigstens indirekte Beziehung zum
Arbeitsmarkt nicht aufweisen können, nicht mehr als die
dürftigste Sicherung ihres Überlebens vom .Wohlfahrtsstaat' zu
erwarten (und bisweilen nicht einmal das); das trifft auf die am
Arbeitsmarkt nicht mehr teilnehmenden Bewohner von Gettos,
Welfare-Slums und verarmten Regionen zu, und ebenso auf die
Insassen von Gefängnissen und Irrenanstalten. Das politische
System spätkapitalistischer Gesellschaften ist so beschaffen,
daß die Forderungen und Bedürfnisse dieser zuletzt genannten
Gruppen ebenso wie diejenigen Forderungen der industriellen
Arbeiterklasse, die über die bloße einfache Reproduktion
und Erhaltung ihrer Arbeitskraft hinausgehen und unter diesem
Gesichtspunkt nicht ,legitimiert' werden können, keine Chance
der politischen Durchsetzung haben, außer dort, wo sie zu
Mitteln individueller oder kollektiv-politischer Gewalt Zuflucht
nehmen; zu Mitteln also, die vom System der herrschenden Gesetze
ausnahmslos für illegal und kriminell erklärt werden. Diejenigen
Institutionen und Lebensbedingungen, die die einfache
Reproduktion der im kapitalistischen Verwertungsprozeß jeweils
benötigten Arbeitskraft - und nicht mehr als das —
festlegen, sind nicht das Objekt von Lohnkämpfen und
Lohnverhandlungen, nicht einmal der Gegenstand von Kämpfen, die
auf die Einrichtung von Arbeiterkontrollen im Betrieb abzielen;
vielmehr liegen die Erscheinungsformen relativer Armut
und Verelendung, von denen Gorz spricht, außerhalb des
Produktionsprozesses. Das stellt uns vor eine paradoxe
Situation: denn obwohl der Widerspruch zwischen Lohnarbeit
und Kapital und die Dominanz kapitalistischer
Verwertungsstrategien die Wurzel aller Erscheinungsformen des
gesellschaftlichen Konflikts darstellt - im Produktions- wie im
Reproduktionsbereich gleichermaßen -, so hat doch dieser
Widerspruch, sofern er nur als
Lohnkonflikt ausgetragen wird, eine allenfalls untergeordnete
Bedeutung für die Veränderung der Institutionen und
Lebensbedingungen, die die Reproduktion der Arbeitskraft regeln
und sie den Erfordernissen der kapitalistischen
Produktionssphäre unterordnen.
Die bisher erwähnten Zusammenhänge lassen sich in vier
Punkten resümieren:
1l) Die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung affiziert
sämtliche gesellschaftlichen Lebensbereiche in der Weise, daß
die vorhandenen sozialen Verkehrsformen zerstört und die relativ
gesicherten Lebensverhältnisse in einen Zustand permanenter
.Anarchie' versetzt werden, die nur noch von den Prinzipien des
Tausches und der kapitalistischen Akkumulation regiert wird.
Diese permanente und chaotische Umwälzung nimmt ihren Ausgang in
Technologie und Arbeitsorganisation, erfaßt Lebensformen und
Institutionen wie Stadt, Familie, Schulen, Universitäten, das
Gesundheitswesen, die Militära'ppa-rate und erstreckt sich auf
kolonialistische und imperialistische Beziehungen zu anderen
Ländern und schließlich auf das Verhältnis von Gesellschaft und
Natur insgesamt.
(2) Dieser naturwüchsig um sich greifende Prozeß der
.Vergesellschaftung der Produktion', d. h. der widersprüchlichen
Unterordnung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche unter die
Logik des Profits, ist in der Entwicklungsphase des
Spätkapitalismus, d. h. in einer Stufe hoher ökonomischer
Konzentration und weitreichender, aber bloß regulierender
Intervention des Staatsapparates, genau in dem Maße unter
Kontrolle gebracht worden, daß die neuen Risiken und die
zusätzlichen gesellschaftlichen Reproduktionskosten, die den
arbeitenden Individuen aufgebürdet werden, jedenfalls so
erträglich gemacht werden, wie es die Aufrechterhaltung der
Produktion, sowie die von ,Ruhe und Ordnung' jeweils verlangten.
(3) Dadurch verschiebt sich die Erscheinungsform des
gesellschaftlichen Grundwiderspruchs, der sich genetisch
gleichwohl nach wie vor auf das Kapitalverhältnis zurückführen
läßt: es ist nicht mehr der Konflikt zwischen wachsendem
Reichtum und progressiver Verelendung, sondern der zwischen
erweiterter Reproduktion des Kapitals und einfacher
Reproduktion der Arbeitskraft in exakt der Menge und Qualität,
wie sie vom Kapital jeweils benötigt wird.
(4) Dieser Konflikt wird vom Lohnkampf als solchem, und
selbst von seinen Erfolgen, kaum berührt. Dies einmal aus dem
Grunde, weil Lohnerhöhungen, wo sie erkämpft werden, von der
Kapitalseite entweder auf dem Wege der Inflation
geschluckt oder auf dem Wege planmäßiger
Freisetzung mit resultierender Arbeitslosigkeit zunichte
gemacht werden können — falls das nicht schon der Staatsapparat
mithilfe von Lohnleitlinien, Einkommenspolitik etc. im vorhinein
besorgt. Und der relative Bedeutungsverlust des Lohnkampfes für
eine antikapitalistische Strategie ergibt sich zum anderen
daraus, daß Lohnkämpfe jedenfalls unmittelbar keine
Kontrolle über die politisch organisierten
gesellschaftlichen Institutionen und Lebensbereiche zu gewinnen
vermögen, die die Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft
festlegen und nach den Bedürfnissen und Kriterien des
Arbeitsmarktes begrenzen.
In dieser Situation tritt ein Bedürfnis auf, das nicht den
Kampf um Lohnerhöhungen, sondern den Kampf gegen
Lebensumstände motiviert, gegen die wir uns auch im Falle
einer Verdoppelung unseres Monatslohnes nicht durch den Kauf von
Gütern und Leistungen zur Wehr setzen könnten. Was dieses
Bedürfnis erzeugt, ist der Kampf gegen die politischen und
institutionellen Lebens- und Reproduktionsbedingungen der
Arbeitskraft, die ihr nicht mehr an Lebenschancen und
Bedürfnisbefriedigungen zugestehen, als was zu ihrer Verwertung
im Produktionsprozeß erforderlich ist. Beispiele dieses Kampfes
sind in diesem Band unter der Bezeichnung .Bürgerinitiativen'
beschrieben und analysiert worden. Wenn man beurteilen will,
was sie für eine sozialistische Transformation des
spätkapitalistischen Systems beitragen können, so muß man sich
zumindest die folgenden Aspekte und Schwierigkeiten
vergegenwärtigen, die solche Bürgerinitiativen typischerweise
kennzeichnen. Dabei verstehen wir unter Bürgerinitiativen' alle
Aktionen, die sich auf eine Verbesserung der
disparitären Bedürfnisbereiche richten (d. h. also auf die
Bereiche, in denen die Arbeitskraft und das Leben nicht durch
individuelle Kaufakte, sondern kollektiv reproduziert werden:
Wohnung, Verkehr und Personentransport, Erziehung, Gesundheit,
Erholung usf.) und die weder bloße Formen kollektiver
Selbsthilfe sind noch sich darauf beschränken, den
offiziösen Instanzenzug des politischen Systems zu
mobilisieren;sie bringen vielmehr Formen der Selbstorganisation
der unmittelbar Betroffenen hervor, die ebenso wie ihre
Aktionsformen im System der politischen Institutionen nicht
vorgesehen sind.
(1) Die Bezeichnung ,Bürgerinitiative'
läßt zunächst zweierlei erkennen. Einmal unterstreicht sie, daß
in solchen Initiativen politische Bürgerrechte und Ansprüche
wahrgenommen werden, die nicht die betrieblichen
Produktions- und Herrschaftsverhältnisse selbst, sondern die
politischen Rahmenbedingungen, unter denen die Reproduktion
des Lebens steht, zu verändern suchen. - Was mit dieser
Bezeichnung aber zweitens deutlich wird, ist, daß solche
Initiativen in vielen (wenngleich nicht in allen) Fällen aus
einer Bewußtseinslage hervorgehen, die als spezifische Variante
bürgerlich-liberalen politischen Verhaltens bezeichnet werden
muß. Denn solche Initiativen basieren häufig auf dem liberalen
Vertrauen darauf, daß der Staat bzw. die kommunale Verwaltung,
wenn ihnen der Wille und die Bedürfnisse der Bürger nur mit
hinreichendem Nachdruck präsentiert werden, sich beeilen wird,
ihnen stattzugeben. Dieser liberalen Auffassung zufolge
erscheinen die Verhältnisse im Reproduktionsbereich als ,Mißstände',
deren Behebung im Grunde nichts im Wege steht, sobald einmal die
Bürger genügend .Initiative' aufbringen. Nicht nur in dieser
Zuversicht, sondern auch in der konkreten Interessengewichtung
einiger Bürgerinitiativen scheint die besondere
Bedürfniskonstellation mittelständischer, freiberuflicher und
intellektueller Schichten durch: so kann man z. B. mit einigem
Recht behaupten, daß kommuneartige Formen eines solidarischen
und zugleich haushaltstechnisch rationelleren Zusammenlebens,
ebenso wie die anti-autoritären Kindergärten, leicht aus dem
Kontext der politischen Intentionen, in dem sie entstanden sind,
herausgelöst und auf die spezifischen Komfortbedürfnisse einer
gehobenen städtischen Mittelschicht zugeschnitten werden können;
das ist in einigen Fällen geschehen. In ihnen haben wir es mit
einer Perversion politischer Bürgerinitiativen in politisch
belanglose Formen kollektiver Selbsthilfe zu tun: statt
politischer Organisation entsteht ein genossenschaftlicher
Dienstleistungsbetrieb für die, die sich's leisten können; an
den politisch-institutionell festgelegten
Reproduktionsbedingungen ändert sich nichts. — Von politisch
folgenreichen Bürgerinitiativen können wir deshalb nur in den
Fällen sprechen, wo die Gefahr vermieden wird, daß solche
Aktionen auf das Niveau spontaner Selbsthilfe-Einrichtungen
zurückfallen, die nur den spezifischen Bedürfnissen einer
bestimmten Schicht zugutekommen.
(2) Es ist nicht zu übersehen, daß ein Aktivitätsschwerpunkt von (meist sozialdemokratisch
geleiteten) Regierungen und Kommunalverwaltungen im
kapitalistischen Wohlfahrtsstaat' in genau den Bereichen liegt,
die von der dominierenden Logik der Kapitalverwertung und der
kapitalistischen Entwicklung vernachlässigt bleiben; dort
ergeben sich chaotische Zustände in einem Ausmaß, das die
reibungslose Fortsetzung dieser Entwicklung ernstlich behindert:
die gesellschaftliche Reproduktion der Arbeitskraft wird nicht
einmal in dem minimalen Umfang mehr
aufrechterhalten, der für den Bedarf einer technologisch
fortgeschrittenen Industrie unerläßlich ist. Daher also der Boom
von ,Gemeinschaftsaufgaben' und ,inneren Reformen', die das Ziel
einer Bereinigung' der institutionellen Bereiche haben, die die
Industrie zwar nicht selbst profitabel versorgen und dadurch
kontrollieren kann, auf deren geordnete Entwicklung sie aber
langfristig angewiesen ist: Städtebau, Gesundheits- und
insbesondere das Erziehungs- und
Ausbildungswesen (d. h. also diejenigen Funktionen, die die
regionale Verfügbarkeit, Kontinuität und Qualifikation der
Arbeitskraft bestimmen) sind die bekanntesten Beispiele.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob
Bürgerinitiativen, die sich u. a. auf eine Verbesserung der
Lebenschancen in genau diesen Bereichen der Reproduktion
konzentrieren, nicht unwissentlich etwas fordern, was sowieso
auf der Tagesordnung steht, und sich damit zum Anhängsel statt
zum radikalen Opponenten einer wohlfahrtsstaatlichen
Administration machen, deren Reform-Anstrengungen allerdings
nach wie vor nicht über das Gebot hinausgehen, die notwendigsten
infrastrukturellen Vorleistungen für den relativ störungsfreien
Fortbestand kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse
bereitzustellen. Im Zuge einer solchen Politik der
,Modernisierung' des Kapitalismus mögen Bürgerinitiativen' sogar
als willkommene Partner der Verwaltung eine Rolle spielen,
insofern sie als politische ,Frühwarnsysteme' mögliche Konflikte
und sich abzeichnende Entwicklungsengpässe rechtzeitig
signalisieren und damit Hinweise geben, an welchen Stellen die
Administration aktiv werden muß.
Zudem gibt es zahlreiche private Interessen- und
Kapitalgruppen, die an einer Sanierung des
Infrastrukturbereiches nachdrücklich und unmittelbar
interessiert sind: jeder neue Kilometer des
Schnellstraßensystems bedeutet natürlich bessere Absatzchancen
der Automobilindustrie; jede Gesetzesnovelle, die Mietzuschüsse
erhöht, wird vom Hausbesitzerverband als indirekte
Subventionierung warm begrüßt; in den USA konnten, aufgrund der
Erweiterung des öffentlichen Krankenversicherungssystems, die
meist privaten Krankenhäuser ihre Tagessätze in vier Jahren um
70 bis 100 Prozent heraufsetzen. Im Zuge verstärkter ,sozialer
Aufräumarbeiten' des Staates rechnen sich fette Gewinnchancen
auch andere Branchen des ,medizinischindustriellen Komplexes'
(insbesondere die pharmazeutische und medizintechnologische
Industrie, aber auch die reaktionären ärztlichen
Standesorganisationen) aus, ebenso wie die Industrie für
elektronische Unterrichtsmittel und die Industrie für Geräte,
mit denen man die Luft- und Wasserverschmutzung reduzieren kann.
Die allgemeine Bedingung dafür, daß sich Bürgerinitiativen
nicht zu belanglosen Hilfsorganen eines sowieso
stattfindenden administrativen Anpassungs- und Reformprozesses
umfunktionieren lassen und damit ihre politischen Intentionen
preisgeben, besteht darin, daß sich solche Gruppen nicht
an das Reglement halten, in dessen Grenzen die offizielle
Reformpolitik verläuft. Das bedeutet konkret: die sachlichen,
zeitlichen und sozialen Restriktionen, unter denen
insbesondere die kommunale Verwaltung steht, müssen im Verlaufe
von Bürgerinitiativen gesprengt werden.
Die sachliche' Dimension:
Bürgerinitiativen verlieren ihren politischen Sinn, wenn sie
sich bloß an die im politischen Institutionensystem
vorformulierten Alternativen, Pläne und Angebote halten und
nicht zu Forderungen vorstoßen, deren Erfüllung die Verwaltung
nicht ohnehin schon erwägt. Forderungen, die innerhalb
des schon vorhandenen Spielraumes von Zugeständnissen liegen,
können auch ohne ,Bürgerinitiative' realisiert werden; diese
machen sich, durch die mangelnde Radikalität ihrer Forderungen,
also implizit überflüssig. Diesen Sachverhalt hat Gorz im Auge,
wenn er die bloß reformistischen Forderungen beschreibt:
„Eine Reform ist reformistisch, wenn sie ihre Ziele und
Kriterien der Rationalität und den Möglichkeiten des bestehenden
Systems unterordnet."
Dieses Prinzip hat Konsequenzen für die zeitliche
Dimension der Strategie von Bürgerinitiativen. Ein besonders
absurdes Beispiel für die Widersprüchlichkeit systemimmanenter
Anpassungspolitik wird im Zusammenhang mit Verkehrsstreiks und
Massenaktionen sichtbar, die auf die Einführung des
Null-Tari-fes abzielen: zur gleichen Zeit, da die
Stadtverwaltung alles daran setzt, solche Aktionen entweder
niederzuknüppeln (Bremen) oder auszuhungern (Hannover), sind
sich ihre Ressortbeamten ebenso wie nahezu alle
verkehrswissenschaftlichen Experten darüber einig, daß in
zehn Jahren die Einführung des Null-Tarifes die einzige
Möglichkeit sein wird, großstädtische Verkehrssysteme effizient
zu organisieren. Was die Administration heute als nahezu
kriminelle Forderung abweist, betrachtet sie selbst für einen
späteren Zeitpunkt, nämlich wenn alle Anlagen ordnungsgemäß
abgeschrieben sind und sich das Chaos auch unter den
,objektiven' Gesichtspunkten von Industrie und Verwaltung bis
zur Unerträglichkeit entwickelt hat, als ihren einzigen Ausweg.
In ganz anderem Maßstab gilt der gleiche Zusammenhang für die
Schwarze Bürgerrechtsbewegung und die militanten
Negerorganisationen in den USA: die Kampfparole NOW! bedeutet:
durchkreuzt den Fahrplan der Administration, laßt ihr keine Zeit
zu hinhaltenden Ausweichmanövern, in deren Verlauf sie die
Kosten für Zugeständnisse an anderer Stelle und auf Umwegen
wieder eintreiben kann.
Die Radikalität, mit der allein sich Bürgerinitiativen als
politische Aktionsformen-rechtfertigen können, manifestiert sich
schließlich in den sozialen und organisatorischen
Mitteln, von denen ihre Aktionen Gebrauch machen. Bürokratien
können prinzipiell nur mit individuellen .Repräsentanten' von
Gruppeninteressen, die eine .Verhandlungsvollmacht' vorweisen,
fertigwerden; alles andere überlassen sie der Polizei. Aber
sobald sich Bürgerinitiativen auf die Formen der
Auseinandersetzung beschränken, denen Bürokratien allein
gewachsen sind, zerstören sie die Bedingungen ihres eigenen
Erfolgs. Alle erfolgreichen Bürgerinitiativen benutzen deshalb,
neben und vor allen Verhandlungen, jene Mittel, die die einzige
Basis ihrer Sanktionsgewalt (und gerade deshalb kriminalisiert)
sind: Go-in, Besetzung, Blockade, gezielte Sabotage und Boykott.
Vorbilder liefern wieder die Aktionen der militanten Schwarzen
Gruppen sowie anderer Minoritäten in den USA: ob Straßenzüge von
den Bewohnern abgesperrt werden, weil die Stadtverwaltung bzw.
Elektrizitätsgesellschaft sich weigern, Spielplätze,
Straßenbeleuchtung und Versorgungsnetz in Ordnung zu halten; ob
ein Tbc-Diagnosewagen von den ,Young Lords' (der militanten
puertorikanischen Organisation in New York) ,entführt' und in
eigener Regie im eigenen Wohnviertel betrieben wird; ob im Getto
alle Geschäftsleute aktiv boykottiert werden, die sich weigern,
regelmäßige Beiträge zu einem von der Black Panther Party
organisierten Frühstücksprogramm für Schulkinder zu leisten; ob
in Berkeley ein ungenutztes und zu Spekulationszwecken
gehaltenes Grundstück besetzt und zum ,Peoples Park' erklärt
wird — oder ob im Frankfurter Westend leerstehende Häuser
besetzt und an Familien verteilt werden: überall handelt es sich
um eine Kombination von Verhandlungsstrategien mit kalkulierten
Gewaltakten. Diese Kombination, sowie die Radikalität
und Kurzfristigkeit der Forderungen sind die einzigen
Mittel, mit denen verhindert werden kann, daß Bürgerinitiativen
zu Scheingefechten auf dem falschen Terrain verkümmern. (3) Der
dritte kritische Aspekt von Bürgerinitiativen liegt im Problem
ihrer organisatorischen Selbststabilisierung. Denn während die
Klassenauseinandersetzung im industriellen Großbetrieb
sich aufgrund der Sichtbarkeit und des kollektiven Charakters
des Konflikts eher ,spontan' organisiert und durch das
Herrschaftsverhältnis des Kapitals selbst Dauer und Stabilität
gewinnt, wird sie in der Vereinzelung der Wohnsituation und der
individuell erscheinenden Probleme des Reproduktionsbereiches
stets infragegestellt. Die Möglichkeit einer .elastischen'
Politik der Stadtverwaltung, die punktuell nachgiebig und
generell starr, mal mit Polizei und mal mit offiziösem
Wohlwollen reagiert, leistet der Fragmentierung des Konflikts
weiter Vorschub. Diese Fragmentierung hat jedoch eine objektive
Ursache: die Phänomene ,relativer' und kollektiver Verelendung
im Reproduktionsbereich treffen die Familien, Individuen,
Stadtteile, Einkommens- und Berufsgruppen in unterschiedlichem
Ausmaß, so daß die unterschiedliche und zeitlich schwankende
Neigung entsteht, sich gegen die ärgsten Benachteiligungen
jeweils individualistisch zur Wehr zu setzen. Ebenso wechseln
die Kategorien von Belastungen, denen der einzelne
ausgesetzt ist: die Probleme der Ausbildung, Kindererziehung und
-Versorgung, der Gesundheit, Erholung, Wohnung usf. werden nicht
als einheitliches, kollektives Syndrom, sondern
als Vielfalt individueller Schicksale und Schwierigkeiten
erfahren. Versuche, sie in kollektiven und solidarischen
Aktionen zu bekämpfen, werden ferner durch den Umstand
entmutigt, daß scheinbar alles durch zentralistische
Entscheidungen der ,großen Politik' schon festgelegt ist, gegen
die man auf der Ebene lokaler Aktionsgruppen ohnehin nichts
machen könne. Es ist zweifellos diese objektive
Fragmentierung, die die in allen entwickelten
kapitalistischen Ländern stattfindende Verlagerung der
Ausbeutung, Verelendung und relativen Armut von der Ebene des
individuell ausgezahlten Lohnes auf die Ebene kollektiver
Reproduktion der Arbeitskraft und institutionell
festgelegter Befriedigung von Lebensbedürfnissen erleichtert:
die Zersplitterung des auf disparitäre Bereiche abgeschobenen
Elends vermindert für das System das Risiko organisierten
Widerstandes. Am leichtesten ist dieser Widerstand dort
aufzunehmen, wo soziale Gruppen als Gruppen vom
Arbeitsmarkt praktisch angeschlossen sind und oft nicht mehr als
das physische Existenzminimum (verbunden meist mit den
autoritärsten Formen sozialer und staatlicher Repression) als
Maßstab ihrer Lebensführung zugewiesen bekommen. In einer
solchen Situation befinden sich in den USA gleichermaßen die
Schwarzen, die Frauen und bis zu einem gewissen Grade große
Gruppen der Studenten; deren militante Organisationen arbeiten
jeweils auf der Basis dieser Gemeinsamkeit. Aber der Widerstand
gegen die auf disparitäre Lebensbereiche verschobene Ausbeutung
und Unterdrückung kann gleichfalls in sozialen Gruppen von
geringerer Homogenität, eben in Bürgerinitiativen, wie sie in
diesem Band beschrieben werden, organisiert werden. Als
Voraussetzung dafür zeichnen sich allerdings zwei weitere
Bedingungen ab, ohne die eine vom Reproduktionsbereich
ausgehende Entfaltung des politischen Kampfes nicht gelingen
kann und in zersplitterten Gruppenansprüchen und -aktionen
steckenbleiben muß. Um eine solche Zersplitterung zu überwinden,
müssen wir sowohl in vertikaler wie in horizontaler
Richtung die Konsolidierung der Bürgerinitiativen durch
Aufklärung und Organisation vorantreiben. In vertikaler
Richtung: das bedeutet den in jedem einzelnen Falle konkret
geführten Nachweis, daß das Kapital und die von ihm getragene
gesellschaftliche Entwicklungsdynamik den gemeinsamen Nenner
aller disparitären Einschränkungen und Belastungen darstellt;
daß also entweder die unangetastete politische Macht des
Privateigentums von Hausbesitzern, Erdölkonzernen und
Verkehrsunternehmen direkt die Verhältnisse im
Reproduktionsbereich bestimmt; oder daß der Staatsapparat bzw.
die Kommunalverwaltung gezwungen ist, die Organisation dieser
Lebensbereiche gemäß den Bedürfnissen des Kapitals qualitativ
zuzuschneiden und quantitativ zu begrenzen; und daß das
immanente Ziel solcher Bürgerinitiativen schließlich auf die
Abschaffung der Herrschaft des Kapitals hinausläuft. —
Diese Zusammenhänge konkret zu erarbeiten ist eine der
Bedingungen, die Bürgerinitiativen erfüllen müssen, um den
Schritt von flüchtigen ad-hoc-Koalitionen zur politischen
Organisation und Selbststabilisierung zu tun.
Die andere Bedingung, die der horizontalen
Konsolidierung, besteht in der organisierten Zusammenarbeit, im
Erfahrungsaustausch und in der gemeinsamen Aktionsplanung
verschiedener Initiativgruppen auf der Ebene von Städten und
Stadtteilen. Auf diese Weise kann die bornierte Spezialisierung
der mit antiautoritären Kindergärten, sozialistischer Kritik der
Stadtplanung, Lehrlingsarbeit oder anderen Projekten
beschäftigten Gruppen aufgebrochen werden, und das Syndrom
der Unterdrückung von Lebensbedürfnissen im
Reproduktionsbereich sowie deren durchgehende Ursache gerät in
den Blick und in den Bereich organisierter politischer Praxis.
Editorische Hinweise
Der Text wurde entnommen aus:
Bürgerinitiativen - Schritte zur Veränderung (Hrg. Heinz
Grossmann), Frankfurt/Main 1971, S. 152 - 162
OCR-Scan red. trend