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ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 429 / 26.08.1999

Im Dienst der alten Ordnung

Goethe als Politiker - ein Staatsbeamter wider den "Parteigeist"

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"Geheimrat Goethe war ein politischer Realist."
Gerhard Schröder, Bundeskanzler

Es geht nicht nur um Medienrummel und Geschäft im "Goethejahr" 1999. Auch für das "kollektive Bewußtsein", gar die "nationale Identität" der Deutschen soll etwas abfallen. Nach der Hängepartie um das Berliner Holocaust-Mahnmal dürfen "wir" nun unbeschwert "unseren größten Dichter" feiern, den jedeR kennt und kaum jemand liest, und in dessen Namen die BRD seit Jahrzehnten "deutsche Kultur" in viele Länder der Welt exportiert.

Wo es im Jubiläumsjahr um die Bewertung seines politischen Wirkens geht, ist sowohl von "linken" als auch von "rechten" Interpreten teilweise Verblüffendes zu hören. Es war Ex-Bundespräsident Roman Herzog, der Mann des starken Staates und des "Rucks", der vor einer "Idealisierung des Menschen Goethe" warnte - so habe Goethe "für die Vollstreckung der Todesstrafe an einer verzweifelten und von allen verlassenen Kindsmörderin plädiert", "Studenten und Professoren der Universität Jena bespitzeln" lassen, allein der "Gedanke der Demokratie" habe ihm Furcht eingeflößt. (Rede zum 250. Geburtstag von Johann Wolfgang Goethe, gehalten am 14. April 1999 im Kaisersaal des Frankfurter Römer)

Für diese nachweisbar zutreffenden Behauptungen erntete Herzog allerhand Vorwürfe, u.a. von dem ehemaligen Kulturredakteur des Spiegel, Hellmuth Karasek, der die von Herzog aufgeführten Kritikpunkte in das Reich des Privaten schob, welches aber bei Schriftstellern nicht zu interessieren habe.

Der Politikwissenschaftler Ekkehard Krippendorff dagegen, dem die Freie Universität in Westberlin Anfang der sechziger Jahre wegen "Linksradikalität" die Habilitation verweigerte, versucht seit mehr als zehn Jahren, Goethe für ein aktuelles politisches Projekt zu reklamieren: das "Modell Weimar", auf heute übertragen, ein "Europa der Kommunen und Regionen..., das auf militärgestützte Machtpolitik explizit verzichtet", wo "Kultur, Bildung, Erziehung, Wissenschaft und der künstlerische Austausch höchste Priorität hätten" und die Politik von "verantwortlichen Bürgern in ,republikanischer Gesinnung`" getragen würde. ("Goethe. Politik gegen den Zeitgeist", erschienen im Goethejahr 1999)

Es ist dies längst nicht der erste Versuch, Goethe von "links" her zu vereinnahmen. Sehr viel weiter ging die politische Führung der DDR, namentlich Walter Ulbricht, auf den eine besonders krasse Fehlinterpretation von Goethes politischen Zielen zurückgeht. Die Vision des sterbenden Faust ("Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!"), so Ulbricht und seine Epigonen ab 1962, werde in der "sozialistischen Völkerfamilie" verwirklicht. In der 1972 im Leipziger Reclam-Verlag erschienenen Goethe-Biographie, einer an die "Werktätigen" gerichteten "Einführung in ein weltumspannendes Leben und Werk", wird "der Mensch in einer sozialistisch-humanistischen Ordnung" direkt als Erbe des Dichterfürsten eingesetzt: "Ihm gehört Goethes, des geistigen Befreiers, Werk als Bestandteil der sozialistischen Kultur."

Der Günstling des Fürsten macht sich ans Regieren

Als Politiker im engeren Sinne wirkte Goethe zunächst zwischen 1776 und 1786. In dieser Zeit veröffentlichte er nichts, sondern widmete sich ganz dem Staat Sachsen-Weimar-Eisenach, dessen 18jähriger Herzog Carl August ihn im September 1775 nach Weimar eingeladen hatte. Die Auszeichnung galt weniger dem Juristen Goethe als dem "Genie" und erfolgreichen Schriftsteller, der sich durch das Ritterdrama "Götz von Berlichingen" einen Namen gemacht und mit dem Roman "Die Leiden des jungen Werthers" bisher nie dagewesene Wirkung erzielt hatte: Das Büchlein löste nicht nur eine Selbstmordwelle aus, sondern schuf auch eine eigene Werther-Mode (blauer Frack und gelbe Weste). Obwohl "Bestseller-Autor", konnte Goethe von der Schriftstellerei nicht leben - die meisten verkauften Exemplare waren Raubdrucke. Zur Anwaltstätigkeit aber fehlte ihm die Lust.

So kam das Angebot aus Weimar gerade recht. Im übrigen waren auch die gleichaltrigen "Stürmer und Dränger", bei aller rebellischen Pose, durchaus karrierebewußt. Sie fühlten sich "als jüngere enterbte Söhne", schreibt der Goethe-Biograph Richard Friedenthal; "man wettert gegen die Tyrannen und sieht sich verstohlen nach einem Posten an einem der kleinen Höfe um".

Mit seiner Ankunft in Weimar ist Goethe zum Privilegierten geworden, zum Favoriten des einige Jahre jüngeren Herzogs. Sein erster Winter in Weimar ist ein einziger "Karneval" (Friedenthal): Zusammen mit seinem Herrn und Duzfreund Carl August heckt er Streiche aus auf Kosten von Bürgern und Bauern; es wird gelärmt und gesoffen. Goethes Freund Johann Heinrich Voß beschreibt das Treiben mit einer Mischung aus Abscheu und Neid: "In Weimar geht es erschrecklich zu. Der Herzog läuft mit Göthen wie ein wilder Pursche auf den Dörfern herum, er besauft sich und genießet brüderlich einerlei Mädchen mit ihm." Die wilde Männerfreundschaft hat auch eine homoerotische Seite; etliche Male teilen Johann Wolfgang und Carl August das Bett.

Gegen einigen Widerstand der Regierenden setzt der Herzog 1776 durch, daß sein Günstling Mitglied des Geheimen Rates wird, der vierköpfigen obersten Regierungsinstanz. "Regieren!" schreibt Goethe in sein Tagebuch. Er will sein Bestes geben, ein Konzept, gar ein Reformprogramm hat er nicht. Als "Pragmatiker" von großer Energie widmet er sich gleichzeitig einer Reihe unterschiedlicher Aufgaben: dem Straßenwesen, der Brandbekämpfung, dem Bergbau, dem Rekrutenhandel, der Sanierung der Staatsfinanzen. Die Tagespolitik verläuft weitgehend unspektakulär - auf Sitzungen des Geheimen Rates, zwischen Akten und Dekreten.

Dulden - die Tugend der Armen

Regt sich auch, in privaten Äußerungen, das Mitleid mit den unter miserablen Bedingungen lebenden Bauern - Maßnahmen zur Milderung des Elends schlägt der neue Mann kaum vor, obwohl er auf Carl August großen Einfluß hat. Die ab 1780 betriebene Agrarreform läßt er sofort fallen, als der Adel gegen die darin enthaltene Beschneidung feudaler Privilegien zu murren beginnt. Seine Sparpolitik auch zu Lasten des Hofbudgets und des Militärs dient allein der Abwendung eines Staatsbankrotts; die Armen profitieren davon nicht.

Man kann solche Politik mit politischen und finanziellen "Sachzwängen" erklären oder gar rechtfertigen. Hinzu kommt bei Goethe aber eine tiefe Verachtung des gewöhnlichen, ungebildeten Volkes. In seinem Idealbild der feudalen Ständegesellschaft ist - von wenigen Ausnahmen abgesehen - sozialer Aufstieg nicht erwünscht, kollektive Emanzipation, und sei es durch Bildung, schon gar nicht. Die "Menge", die "Masse", den "Pöbel" hält Goethe nur zum Arbeiten und zum Gehorchen für fähig. Über Politik sollten die unwissenden Untertanen am besten überhaupt nicht reden - zu groß ist die Gefahr, daß sie von Demagogen verführt werden und, wie in Frankreich, nur Unordnung schaffen.

Goethes "Flucht" nach Italien im September 1786 wird allgemein als Eingeständnis seines politischen Scheiterns interpretiert. Carl August, der Goethe halten will, zahlt nicht nur während der 22 Monate dauernden Reise dessen Gehalt weiter, er entbindet ihn nach seiner Rückkehr im Juni 1788 auch von fast allen Regierungspflichten. Goethe behält die Leitung der Ilmenauer Bergbau-Kommissionen und übernimmt nach und nach die Oberaufsicht über Wissenschaft und Kunst im Herzogtum, er inszeniert Theaterstücke und dichtet für feierliche Staatsakte. Darüberhinaus bleibt er Ratgeber und Mann für besondere Fälle - z.B. begleitet er Carl August 1792 bei der internationalen Intervention gegen die Französische Revolution.

Seine privilegierte und außerordentlich gut bezahlte Stellung ermöglicht ihm diverse Nebenbeschäftigungen, die ihn zeitweise fast vollständig beanspruchen, darunter Anatomie, Botanik, Mineralogie und Optik ("Farbenlehre"). Die schwierige Partnerschaft mit Schiller, der 1794 nach Weimar übersiedelt, wird zum Mythos, Weimar zum Wallfahrtsort für Gebildete. Nach Schillers Tod ist Goethe der alleinige "Olympier", ein Patriarch, der frühzeitig seine eigene Legende konzipiert und so seinen Nachruhm sichert - durch Arbeit an seiner Autobiographie ("Dichtung und Wahrheit"), im Gespräch mit dienstbaren Geistern wie Riemer und Eckermann, durch Selbstinszenierung gegenüber Besuchern, die in seinem museumsartigen Haus am Frauenplan mehr oder weniger tiefsinnige Aussprüche zu hören bekommen.

So wichtig es für den Biographen ist, Lebensphasen zu differenzieren, Handlungen, Werke und maßgebliche Aussprüche genau zu datieren - Goethes politische Grundeinstellungen, um die es hier geht, wandeln sich im Laufe der Jahrzehnte erstaunlich wenig. Er ist kein "Volksfreund", schon gar nicht Demokrat, sondern Verfechter eines Ständestaates und überzeugter Monarchist. Sympathie für die "kleinen Leute" äußert er allenfalls privat, so in einem Brief an Charlotte von Stein (4.12.1777): "Wie sehr ich wieder (...) Liebe zu der Klasse von Menschen gekriegt habe! Die man die niedre nennt! Die aber gewiß für Gott die höchste ist. Da sind doch alle Tugenden beisammen." Krippendorff, der diesen Gefühlsausbruch als Beleg für Goethes humanistische Ziele zitiert, setzt allerdings einen Punkt, wo im Original eine Aufzählung derjenigen "Tugenden" folgt, die Goethe an der "niederen Klasse" so bewundert: "Beschräncktheit, Genügsamkeit, Grader Sinn, Treue, Freude über das leidlichste Gute, Harmlosigkeit, Dulden - Dulden - Ausharren in un - ich will mich nicht in Ausrufen verlieren."

Andererseits ist dieser Mann der alten Ordnung gegen Krieg und Militär, selbst das aristokratische Jagdvergnügen ist ihm zuwider, von der nationalistischen Bewegung gegen Napoleons Besatzungsarmee hält er sich fern, die Pfaffen haßt er. Daß er in mehrfacher Hinsicht "Politik gegen den Zeitgeist" (Krippendorff) betreibt oder zumindest für richtig hält, wird besonders deutlich an seiner Stellung gegenüber der Französischen Revolution, dem größten welthistorischen Ereignis zu seinen Lebzeiten.

Die erste Phase der Französischen Revolution wird von vielen deutschen Intellektuellen als Beginn einer neuen Epoche begrüßt. Klopstock, Schiller, Herder, Humboldt, Hegel, Hölderlin und viele andere loben die Verkündung der Menschenrechte und der Verfassung, die Schaffung der Nationalversammlung und der Nationalgarde zur Verteidigung der Revolution. Mehr oder weniger offen wird die Frage gestellt, wann denn die Deutschen dem französischen Beispiel folgen werden.

Für Goethe dagegen ist die Revolution ein Unglück, und ein vermeidbares obendrein. König und Adel hätten es nicht so weit kommen lassen dürfen; statt zu herrschen, habe der König sich zum ersten Staatsdiener degradiert: "Diese Sinnesart geht immer weiter, bis der König von Frankreich sich selbst für einen Mißbrauch hält." Dem schwachen Monarchen, der durch seine Schwäche die Revolution geradezu heraufbeschwört, stellt Goethe in seinem Anti-Revolutionsstück "Der Bürgergeneral" den wahren Herrscher gegenüber: "In einem Lande, wo der Fürst sich vor niemand verschließt, wo alle Stände billig gegeneinander denken, wo niemand gehindert ist, auf seine Art tätig zu sein, wo nützliche Einsichten und Kenntnisse allgemein verbreitet sind: da werden keine Parteien entstehen."

Als aufklärerisch wird man dieses Idealbild schwerlich bezeichnen können. Es geht einzig und allein darum, die bestehende "Harmonie" zwischen oben und unten, Herrscher und Beherrschten, den verschiedenen Ständen nicht zu stören. Der Ordnungsfanatiker Goethe verurteilt im übrigen nicht nur die Praxis der Revolution, Unordnung, Durcheinander, Streit und "Parteisucht". Er mißtraut auch ihren Grundideen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. "Allgemeine Begriffe" würden überhaupt nur "entsetzliches Unheil" anrichten - oder, wie in dem Roman "Wilhelm Meisters Wanderjahre" formuliert: "Jede große Idee, sobald sie in Erscheinung tritt, wirkt tyrannisch; daher die Vorteile, die sie hervorbringt, sich nur allzubald in Nachteile verwandeln." Solche Aussagen klingen wie François Furets Warnungen vor jeder Art von Utopie im "Schwarzbuch des Kommunismus" - ein weiterer Beleg für Goethes anhaltende politische Wirkung, leider nicht auf Seiten von Demokratie und Menschenrechten.

Goethes künstlerische Auseinandersetzung mit der Revolution gilt unter Literaturwissenschaftlern als mißlungen. In mehreren Theaterstücken, die allesamt unvollendet bleiben, geht es um das Weltereignis. Daß er überhaupt den Tumult auf die Bühne bringt, löst unter Weimars aristokratischem Publikum Befremden aus, obwohl die Botschaft der Stücke erkennbar auf Erhalt des feudalistischen Systems gerichtet ist. Das "revolutionäre Subjekt", der "Pöbel", besteht aus hohlköpfigen Schwätzern und tumben Mitläufern; die Guten sind tugendhafte und vernünftig denkende Aristokraten wie die Gräfin in den "Aufgeregten", über deren Gesinnung Goethe 1824 im Gespräch mit Eckermann sagt: "Sie war damals die meinige und ist es noch jetzt." Diese Gräfin aber plädiert in der Frage feudaler Privilegien, um die ihr Amtmann einen langwierigen Prozeß gegen widerspenstige Bauern führen will, für einen "leidlichen Vergleich" und für Großmut - "wie es dem gar wohl ansteht, der Macht hat".

Damit ist auch die vor allem in der DDR vertretene These hinfällig, Goethe habe in späteren Jahren der Französischen Revolution wohlwollend gegenüber gestanden. Vielmehr versteht er deren tiefe Ursachen nicht, sondern sieht sie allein als Reaktion auf vermeidbare Fehler der Herrschenden und als französischen Sonderfall, nicht als radikalste Variante der auch in anderen Ländern unausweichlichen Emanzipation des Bürgertums. Seine politischen Schlußfolgerungen sind reaktionär: Die Herrscher sollten Stärke zeigen, der Staatsapparat den Umsturz im Keim ersticken - durch Zensur, Bespitzelung und Verfolgung der "Demagogen".

Mit Spitzeln und Zensur für die Monarchie

Daß die "Ordnung" notfalls auch mit Gewalt verteidigt werden müsse, gehört zu Goethes Grundüberzeugungen und ist Richtschnur seines politischen Handelns. Wolfgang Rothe sieht Goethe in erster Linie als "Ordnungspolitiker", dem "Ruhe, Ordnung und Sicherheit als oberste Staatsmaximen" galten. Die Anlässe zu repressivem Eingreifen der Staatsorgane sind in Sachsen-Weimar-Eisenach sehr viel zahlreicher als das überlieferte Klischee vom gut regierten Fürstentum mit seinen zufriedenen Untertanen glauben macht. Der amerikanische Germanist W. Daniel Wilson zeigt in seiner kürzlich erschienenen Studie über "Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar" ("Das Goethe-Tabu"), daß es eine Reihe politischer Konflikte gab und daß sich unterschiedliche Bevölkerungsschichten (Bauern, Bürger, Studenten) an oppositionellen Bestrebungen beteiligten - und das schon vor Beginn der Französischen Revolution.

Der Widerstand der Bauern richtet sich vor allem gegen die feudalen Privilegien des Adels, gegen Steuern und Frondienste, die vom Weimarer Staat aus gutem Grunde verteidigt werden: Sie sichern die Staatseinnahmen und damit den Fortbestand des Absolutismus. Entgegen der Legende orientiert Goethe in dieser Frage keineswegs durchgängig auf Ausgleich und Mäßigung, sondern redet mehr als einmal hartem Durchgreifen das Wort. So fordert er 1796 vehement den Einsatz des Militärs gegen die Ilmenauer Bauern, die sich einer Vervierfachung der Steuern widersetzen: "Wir müssen zum erstenmal recht derb auffallen, damit sie lernen was das heiße eine zehnjährig vorbereitete Anstalt auf Bauernweise retardiren (verzögern) zu wollen..."

Gegenüber aufmüpfigen Studenten der Universität Jena setzen Carl August, Goethe und der Geheime Rat auf Wachsamkeit und Bestrafung der "Verführer". Um diese dingfest zu machen, werden auch unter Studenten und Professoren Spitzel angeworben. Während er seinen Herzog auf dem konterrevolutionären Feldzug gegen Frankreich begleitet, mahnt Goethe den Geheimrat Voigt per Brief zur Überwachung der Studenten: "daß Sie doch ja genaue Erkundigung fortsetzen mögen um zu erfahren: wo und wie es hängt und wer diejenigen sind die dieses Fieber unterhalten." Denn daß das revolutionäre "Fieber" aus Frankreich eingeschleppt sei, steht für die Herrschenden in Weimar fest. Nach Beginn der Französischen Revolution erklären sie jede soziale Unruhe als Ergebnis staatsfeindlicher Verschwörung, an der ausländische Agenten und einheimische akademische Geheimgesellschaften beteiligt seien. Letztere werden folgerichtig verboten - obwohl sie allenfalls ein humanistisches Programm, nicht aber umstürzlerische Ziele verfolgen.

Während die mutmaßlichen "Anstifter" streng bestraft werden, läßt man gegenüber den für unmündig erklärten "Verführten" vielfach Milde walten - ein weiterer Ansatzpunkt für die Legende vom so ganz anderen, nämlich liberalen und humanistischen Staat Sachsen-Weimar. Wilson kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, daß das von Goethe mitregierte Herzogtum in vieler Hinsicht "ein ziemlich normaler deutscher Kleinstaat des 18. Jahrhunderts" ist - mit einer überdurchschnittlich großen Zahl von Besitzlosen, mit Bauernunruhen und demonstrierenden Studenten und strengen Strafen gegen Aufrührer. So werden z.B. Häftlinge, darunter auch religiöse und politische Dissidenten, als Soldaten an Preußen und England verkauft. Als Vermittler dieses Handels fungiert u.a. der Geheime Rat Goethe.

Auch wenn die staatliche Politik insgesamt weniger repressiv ist als etwa in Preußen oder Kursachsen, schreibt Wilson, ist Weimar gleichzeitig "in einigen Aspekten der Verletzung von Menschenrechten ... kein Nachzügler, sondern führt die Reaktion" - u.a. bei der "von Sachsen-Weimar konzipierten und konsequent betriebenen Initiative eines reichsweiten Berufsverbotes für Ordensstudenten."

Daß die Menschenrechtsverletzungen in Sachsen-Weimar heute kaum bekannt sind, liegt nicht allein an den Generationen von Germanisten, die die Wirkungsstätte Goethes und Schillers zum Paradies auf Erden verklärten. Zu Recht gilt Weimar zwischen 1794 und 1805 (Schillers Todesjahr) als "Kulturhauptstadt" des deutschsprachigen Raums. Ebenso richtig ist aber, daß noch nicht einmal die kleine Schicht der Intellektuellen Geistes-, Rede- und Veröffentlichungsfreiheit genießt. Gern schmückt sich der Kleinstaat mit den Namen großer Geister - sorgt aber durch eine geschickte Kombination von Einschüchterung und Zensur dafür, daß diese politisch wirkungslos bleiben. Goethe ist ohnehin der festen Überzeugung, daß Politik eine Sache für Profis sei, und Carl August sieht bei politisch "räsonnierenden" Professoren vor allem "Eitelkeit" und "Herrschsucht" im Spiel. Die daraus resultierende "Zerstörung" - gemeint ist die Kritik an den bestehenden Verhältnissen - gilt es zu unterbinden. Goethe scheut sich keineswegs davor, sich die Hände schmutzig zu machen. So führt er eigenhändig Dossiers über Verdächtige wie Schiller, Herder und Fichte und übermittelt ihnen auch im persönlichen Gespräch den Wunsch des Herzogs, die Herren möchten sich politisch zurückhalten.

Besonders aufschlußreich ist Goethes Agieren im "Fall Oken". Der Jenaer Professor hat es gewagt, in der von ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift Isis Kritik am Monarchen zu äußern. Staatsminister Goethe empfiehlt in einem Gutachten das sofortige Verbot des Blattes. Ungeachtet der formal geltenden Pressefreiheit sieht er den Fall als "eine Polizeisache, die nur an Ort und Stelle entschieden werden kann." Seine grundlegende Ablehnung der Zeitungen teilt er mit dem von ihm bewunderten Wiener Fürsten Metternich, dem Architekten der reaktionären Wende nach der Niederlage Napoleons. Die Zensur betrachtet Goethe dabei nicht als notwendiges Übel, sondern als "eine Art ästhetischen Gewinn" (Rothe). So schreibt er 1827 in einem Brief an den Kanzler von Müller: "Jede direkte Opposition wird zuletzt platt. Die Zensur zwingt zu geistreicherm Ausdruck der Ideen durch Umwege."

Goethe und Napoleon: das "Charisma" großer Männer

Sicher wäre es falsch, Goethe zum Reaktionär auf der ganzen Linie zu machen. Er hat sich aber in den Dienst eines Regimes gestellt, von dem er selbst profitiert. An der Repression des Staates Sachsen-Weimar ist der "Ordnungspolitiker" Goethe in unterschiedlicher Weise beteiligt: mal als Scharfmacher, mal als Vermittler, mal aktiv und mal eher passiv, indem er von anderen entworfene Dekrete abzeichnet.

Für die Öffentlichkeitsarbeit des Staates spielt er eine herausragende Rolle. Als unübertroffener Meister der Sprache weiß er die Worte auch in den Dienst der Staatsräson zu stellen. Sein Stück vom "Bürgergeneral" geht u.a. auch auf eine direkte Anregung des Geheimrats Schnauß zurück, der in einem Brief an den Herzog dringend eine ideologische Offensive gegen die um sich greifende Revolutionsbegeisterung anmahnt: "Verbothe und Strafen zwingen es nicht; Wann doch ein guter Schriftsteller dem armen, Verkehrten und wahnsinnigen Volck in einem öffentlichen allgemein bekannt zu machenden Zuruf die Augen öffnete und zeigte, daß die glatten und verführerischen Worte der Franzosen lauter Betrug, arglist und Boßheit und ihr FreyheitsPlan nichts, als Unsinn und Thorheit, sey."

Goethe haßt die Revolution und verehrt Napoleon vor allem, weil er in diesem den Liquidator der Revolution sieht, der das schreckliche Durcheinander beendet und wieder Ordnung schafft. Napoleons Eroberungspolitik nimmt er hin: "Daß Moskau verbrannt ist, tut mir gar nichts. Die Weltgeschichte will auch was zu erzählen haben." Den deutschen Patrioten, die vom deutschen Nationalstaat träumen und von ihm Texte gegen den "Tyrannen" erwarten, schleudert er entgegen: "Schüttelt nur an Euren Ketten; der Mann ist Euch zu groß. Ihr werdet sie nicht zerbrechen." Erst nach Napoleons Sturz schwenkt er auf die Linie der Sieger ein, leistet in dem Festspiel "Des Epimenides Erwachen" gar leise Selbstkritik gegenüber den deutschen Gegnern Napoleons.

Vereinzelt verherrlicht er auch die Deutschen ("das edelste Geschlecht"), ein deutschtümelnder Nationalist wird er aber auch jetzt nicht, sondern bleibt Gegner eines deutschen Nationalstaates. Rothe vermutet, daß er "weniger die Bildung einer deutschen Nation für unmöglich erachtet hat, als daß er sie für nicht wünschenswert betrachtete. Das aus dem simplen Grund, weil sie unaufhaltsam zu einem zentralistischen Gesamtstaat führen mußte."

Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte seit der Reichsgründung wirkt Goethes "antinationale" Grundhaltung natürlich sympathisch. In "Realpolitik" umsetzbar war sie nicht - in dieser Frage erwies sich Goethe ebenso als "Fundi" wie bei seiner Verurteilung der Demokratie. Der eingangs zitierte deutsche Bundeskanzler, der in seinem Wort zum Goethejahr den "politischen Realisten" lobt, dürfte insgeheim ganz andere Eigenschaften des Politikers Goethe bewundern: all das, was sich mit dem Stichwort "Charisma" verbindet. Daß dies den Spitzenpolitiker von der Masse der Parteiarbeiter und Apparatschiks positiv abhebe, kann in der "Mediendemokratie" als Konsens gelten. Hier hat Goethe einiges zu bieten, das - zum Glück - nicht ohne weiteres nachzuahmen ist: Zeitgenossen berichten, wie er - zuweilen nur durch Blicke - anderen seinen Willen aufzwang, sie skrupellos ausnutzte und dann fallenließ. Insbesondere gilt das gegenüber Frauen.

Kein Vorwurf sei ihm öfter gemacht worden als der, "daß er doch ein unbeschreiblicher Egoist sei", schreibt Friedenthal, der reihenweise üble Eigenschaften zusammenträgt: lehrhaft und autokratisch sei der Meister gewesen, berechnend, geldgierig und am Rande des Größenwahns, weil er "obstinat glaubte, er müsse auf allen Gebieten der Kunst wie des Wissens lehren, wirken, Menschen bilden nach seinem Ebenbild".

Offensichtlich ist ihm das in erheblichem Maße gelungen - sehr zur Freude seines Schülers Krippendorff, der von der "persönlichen Ausstrahlung, der Kraft und Faszination, die von Goethe ausging", schwärmt und seine LeserInnen sofort beruhigt, sein Idol habe davon nur noblen Gebrauch gemacht: "Er hatte - und er wußte es - ein ausgesprochenes Charisma, zog Menschen schon sehr zeitig in seinen Bann - aber um so bedeutsamer ist die bewußt reflektierte Entscheidung, eben diese ihm verliehene Gabe der ,Macht über Menschen` nicht auszunutzen, sie zurückzunehmen, auf sie zu verzichten und den gesellschaftlichen Ehrgeiz ,umzufunktionieren` in eine ganz andere, aber um nichts geringere, vielmehr höhere Form des sozialen Engagements: des politischen Dienens." Welcher Sache Goethe diente, wurde in diesem Artikel gezeigt; daß er in diesem "Dienst" auch beispiellose persönliche Privilegien erwerben konnte, müßte ebenfalls deutlich geworden sein.

Als Genie im Staatsdienst hat Goethe eine Tradition mit begründet, in der Willi Jasper eine wesentliche Grundlage der "deutschen Misere" sieht: "Goethes geistesaristokratische Karriere im aufgeklärten Weimarer Absolutismus wurde zum genialen Vorbild des preußischen Prinzips der verbeamteten Bildung und einer entsprechenden Philologenideologie." Bestandteil dieser Ideologie aber ist die aggressive Abgrenzung von den "freischwebenden Intellektuellen" und ihren "zersetzenden" Einflüssen.

Man "darf", man sollte ihn lesen!

Wer aus seinem politischem Wirken oder aus seinen dichterischen Werken heute direkten "Nutzen" ziehen will, muß sich seinen Goethe entsprechend zurechtbiegen. Möglich ist das - schließlich "läßt sich aus dem immensen Korpus Goethescher Dichtungen, Schriften und Reflexionen, wie aus der Bibel, das eine und sein genaues Gegenteil herauslesen und beweisen", schreibt Wolfgang Rothe, der in seinem lesenswerten Buch "Der politische Goethe" das Kriterium anwendet, "ob es sich um eine einmalige, isolierte Bekundung handelt oder ob ein Gedanke mehrfach geäußert wurde und sich in einen größeren Kontext von Überzeugungen einstellt." Diese Arbeitsweise, die auch in dem vorliegenden Artikel versucht wurde, ermöglicht einen klaren Befund: Goethe war kein Aufklärer, kein Demokrat und kein Wegbereiter der Emanzipation - andererseits aber auch kein Nationalist und kein Militarist.

Richtig bleibt, was Franz Mehring, anknüpfend an Friedrich Engels, schon vor 100 Jahren schrieb: Daß der politische Goethe "ein fleißiger und gewissenhafter Beamter war; was er als weimarischer Minister geleistet hat und überhaupt nur leisten konnte, das leistet jeder passable preußische Landrat ohne jeden Anspruch auf den Lorbeer der Mit- und Nachwelt." Diese klare Sicht der Dinge hinderte Mehring nicht, "den größten Dichter der deutschen Nation" zu preisen und namentlich die Arbeiterklasse aufzufordern, "die großen Überlieferungen deutscher Kultur zu wahren". Wie wir wissen, hat drei Jahrzehnte später nicht die Linke, sondern der Nationalsozialismus die Deutungshoheit über Werk und Persönlichkeit des "größten Deutschen" (Engels) gewonnen: Nun sollte "der edle und tapfere Geist" Goethes "das deutsche Volk in seinem schwersten Entscheidungskampf" leiten, "den deutschen Soldaten" im Vernichtungskrieg "begleiten". (Vorwort zur Goethe-Feldausgabe von 1940)

Zumindest kurzsichtig war es, dieser verbrecherischen Fälschung eine andere entgegenzusetzen, Goethe zum Vorkämpfer des Fortschritts und letztlich des Sozialismus zu machen. Die DDR, die sich damit zur Treuhänderin des "kulturellen Erbes" erklärte, ist Geschichte; schon vor 1989 ist ihr Versuch gescheitert, auf diesem Gebiet die BRD hinter sich zu lassen. "Nationale Identität", und sei sie auch begründet auf dem Erbe der "Dichter und Denker", ist - wenn sie es jemals war - kein Ideal mehr.

Für die antinationale (d.h. die internationalistische, nicht die "antideutsche") Linke ist es im Prinzip kein Problem, daß der vermeintlich größte deutschsprachige Dichter (ich kann das nicht beurteilen) reichlich reaktionäres Zeug von sich gegeben hat. Goethe ist und bleibt Teil der von ihm selbst proklamierten "Weltliteratur". Als solcher sollte er auch von Linken gelesen werden. Zur allgemeinen Beruhigung: Man kann das tun und gleichzeitig den Verklärungen entgegentreten, den konservativen ebenso wie den linken, z.B. in Krippendorffs angeblich zukunftsweisendem "Modell Weimar".

Js.

Verwendete Sekundärliteratur:

Peter Boerner: Johann Wolfgang Goethe; Reinbek (Rowohlt) 1982

Richard Friedenthal: Goethe. Sein Leben und seine Zeit; München (Piper) 1982

Hans-Jürgen Geerdts: Johann Wolfgang Goethe; Leipzig (Reclam) 1972

Willi Jasper: Faust und die Deutschen; Berlin (Rowohlt) 1998

Ekkehard Krippendorff: Goethe. Politik gegen den Zeitgeist; Frankfurt am Main und Leipzig (Insel) 1999

Wolfgang Leppmann: Goethe und die Deutschen. Vom Nachruhm eines Dichters; Stuttgart (Kohlhammer) 1962

Georg Lukacs: Faust und Faustus. Vom Drama der Menschengattung zur Tragödie der modernen Kunst. Ausgewählte Schriften II; Reinbek (Rowohlt) 1968

Hans Mayer: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg; Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1974

ders.: Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik; Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1993

Franz Mehring: Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte; Leipzig (Reclam) 1969

Wolfgang Rothe: Der politische Goethe; Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht) 1998

W. Daniel Wilson: Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar; München (dtv) 1999

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