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Warum tragen Faschos keine Brillen?
Die Alltagskultur der Neonazis im Spiegel der ophthalsoziologischen Rechtsextremismusforschung

von Dirk Fritzen

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Haben Sie schon mal einen Nazi mit Brille gesehen? Ich meine, einen Stiefelnazi. So ganz klassisch, mit Bomberjacke, wohnhaft in einer Kleinstadt im Süden Brandenburgs? Oder trauen sie sich da gar nicht mehr hin? Vielleicht, weil Sie zwar großstädtisch kurzgeschorenes Haar tragen, aber doch den Eindruck haben, dort sofort unangenehm aufzufallen? Dann könnte das an ihrer Brille liegen.

Sicher, Sie tragen auch keine Bomberjacke, keine Stiefel und keine Lonsdale-T-Shirts, aber das ist heutzutage auch gar nicht mehr nötig, um dort Zugehörigkeit zu signalisieren. Denn bekanntlich bilden die Rechtsextremen in den "National Befreiten Zonen" Ostdeutschlands längst nicht mehr nur eine jugendliche Subkultur, sondern eher schon den Mainstream. Da kann man es sich leisten, den Dress-Code etwas zu lockern. Wozu sollte sich denn auch ein mittlerweile 25jähriger Familienvater unnötig selbst stigmatisieren und den ganzen Tag so rumlaufen, als wolle er gleich zum Rudolf-Heß-Marsch aufbrechen? Stiefel, Bomberjacke und Bierdose machen sich einfach nicht so gut "auf Arbeit".

Seien Sie also beruhigt, Sie müssen Ihr Outfit nicht völlig umkrempeln, wenn es Sie mal nach Finsterwalde oder Senftenberg verschlagen sollte. Aber in einem Punkt versteht man dort keinen Spaß: Brillen. Selbst mit einem Ohrring werden Sie weniger Probleme haben als mit Brille. Wenn Sie also unter einer korrekturbedürftigen Sehschwäche leiden, dann besorgen sie sich besser Kontaktlinsen. Wenn Sie in den Sommermonaten hinfahren, investieren sie sicherheitshalber in eine (sehverstärkte) Sonnenbrille. Denn Sonnenbrillen sind nicht nur erlaubt, sondern geradezu en vogue. Was aber macht eigentlich diesen zentralen Unterschied zwischen getönt und ungetönt aus? Nun, das eine steht für Coolness, Härte und Unnahbarkeit, das andere schlichtweg für Intellektualität. Diese harsche Abgrenzung von jeder noch so kleinen Andeutung von Intellekt trägt aber nicht nur politische - sprich: antisemitische und antilinke - Züge, sondern auch klassenspezifische. Denn auch innerhalb des rechtsextremen Spektrums finden sich bekennende Brillenträger, und dies mit Alfred Mechtersheimer und Henning Eichberg nicht nur Vertreter der Neuen Rechten, sondern auch Neonazi-Kader wie Andreas Storr oder Frank Schwerdt. Nun aber dem Neonazi-Fußvolk wegen seiner bewußten Brillenabstinenz reflexartig "Dummheit" zu unterstellen, hieße somit nichts anderes, als sich unhinterfragt auf das Spiel der klassenspezifischen Distinktion einzulassen.

Neben dieser symbolischen Dimension des Brille-Tragens gilt es aber auch die pragmatische zu beachten. Denn seit jeher verläuft bereits in der Grundschule eine der wesentlichen Trennlinien zwischen brilletragenden Jungen und solchen, deren Mütter mit ihnen noch nicht beim Augenarzt waren. Einfach drauflosprügeln können nur die letzteren - und zwar nur auf ihresgleichen. Denn mit den Müttern der Brillenträger handelt man sich tendenziell nichts als versicherungstechnisch bedingten Ärger ein (daß es für deren Zöglinge kaum eine größere Schmach gibt, vor dem unvermeidlichen Schlag ins Gesicht noch zum Ablegen der Brille gezwungen zu werden, hat sich glücklicherweise noch nicht rumgesprochen). Ohne sich hier vereinfachenden Ansätzen über die gesellschaftliche Reproduktion qua Sozialisation hingeben zu wollen, so läßt sich doch vermuten, daß sich unter den brillenlosen Jungen nicht wenige finden lassen, die in einer Umgebung aufwachsen, in der kaum Brillen getragen werden und in der sich die Hausvorstände eher unzugänglich zeigen, wenn ihre Kinder sie mit Beschwerden über beim Lesen aufgetretene Kopfschmerzen behelligen wollen. Und was sind schon Konzentrationsschwächen der kleinen Nervensägen gegen die elterliche Freiheit, sie zu verprügeln, wann, wo und warum man will?

Die Hinderlichkeit einer 08/15-Brille ist aber nicht nur für Heranwachsende, sondern auch für das Leben eines ausgewachsenen Stiefelnazis konstitutiv. Ihr gegenüber zeichnen sich gerade Vollplastik-Sonnenbrillen durch einen günstigen Stückpreis bei vergleichsweise ausgeprägter Robustheit aus. Da die Konfrontationen von Neonazis mit der Polizei, anders als im autonomen Spektrum, doch eher selten tränengasgetränkt verlaufen, bliebe für denjenigen, der wirklich nichts mehr sieht, als Alternative immer noch die Kontaktlinse. Da aber der Glaubenskrieg um "harte" und "weiche" bislang kaum zum Kernbestand der Alltagskultur von Unter- bzw. unteren Mittelschichten zu zählen scheint, ist davon auszugehen, daß ein Großteil der deutschen Neonazi-Szene auf der Basis erheblicher Sehschwächen agiert.

Diese These wirft eine Fülle bislang ungestellter Fragen auf, deren Beantwortung als eine der größten Herausforderungen für die noch junge Rechtsextremismusforschung gelten kann und die Herausbildung eines ophthalsoziologischen Forschungsschwerpunktes erforderlich macht: Warum wird der Deutsche Schäferhund bevorzugt als Blindenhund eingesetzt? Heben Neonazis lediglich deshalb notorisch den rechten Arm, um nachzuprüfen, ob sie wenigstens noch die Hand vor Augen sehen? Oder erfüllt der "deutsche Gruß" nur den profanen Zweck, sich den Kopf nicht ständig an Ampeln und Straßenschildern zu stoßen? Leben Neonazis vor allem deshalb bevorzugt in ländlichen Regionen, weil die Gefährdung durch lebensgefährliche Hindernisse dort wesentlich geringer ausfällt? Schlagen Neonazis nur deshalb bevorzugt auf Menschen mit dunkler(er) Hautfarbe ein, weil sie andere auf offener Straße gar nicht erkennen können? Oder verhält es sich im Gegenteil eher so, daß der Arier seit jeher nicht nur Runen-, sondern auch Augengymnastik betreibt? Drückt sich seine vermeintliche Überlegenheit infolgedessen nicht zuletzt darin aus, daß er per se nicht an Sehschwäche leidet?

P.S.: Zur Zeit kann noch gar nicht abgeschätzt werden, inwieweit diese Fragen einen zentralen Schlüssel zum Verständnis neonazistischer Praxen liefern könnten. Diesbezügliche Untersuchungen befinden sich derzeit erst in ihrer Anlaufphase. Ornament & Verbrechen wird in Zukunft regelmäßig über die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der ophthalsoziologischen Rechtsextremismusforschung berichten  

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