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Quelle: www.dreigroschenheft.de/aktuell/99-02-09-artikel.htm

"Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf"
Zur sprichwörtlichen Dialektik bei Bertolt Brecht (1)
Von Wolfgang Mieder

7/8-99
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In seinem aufschlußreichen Aufsatz Volkstümlichkeit und Realismus (1938) stellt Brecht programmatisch fest, daß "das Volk, das die Dichter, einige davon, als seine Sprachwerkzeuge benutzt, verlangt, daß ihm aufs Maul geschaut wird, aber nicht, daß ihm nach dem Maul gesprochen wird" (19, 333).(2) Fast schon aphoristisch kommt Brecht in weiteren Überlegungen zum "Thema Volkstümlichkeit" zu dem an Luther erinnernden Schluß: "Dem Volk aufs Maul schauen ist etwas ganz anderes als dem Volk nach dem Mund reden" (19, 335). Diese Auffassung hat weder mit sprachlichem Naturalismus (3) noch traditioneller Volkstümlichkeit etwas zu tun. Laut Brecht ist "der Begriff volkstümlich selber nicht allzu volkstümlich" und "eine ganze Reihe von "Tümlichkeiten" müssen mit Vorsicht betrachtet werden" (19, 323). Somit "heißt volkstümlich: den breiten Massen verständlich, ihre Ausdrucksform aufnehmend und bereichernd / ihren Standpunkt einnehmend, befestigend und korrigierend / (...) anknüpfend an die Traditionen, (und) sie weiterführend" (19, 325).(4) Wie sehr es sich in der kämpferischen Literatur nicht um spießige Volkstümelei handeln soll, das hat Brecht etwa 1938 in der letzten Strophe seines Gedichts Da das Instrument verstimmt ist deutlich ausgedrückt: "Wenn wir vor den Unteren bestehen wollen / Dürfen wir freilich nicht volkstümlich schreiben. / Das Volk / Ist nicht tümlich" (9, 625).(5) Völlig zu Recht meint Klaus Berghahn, daß "Volkstümlichkeit der Literatur sich für Brecht nicht darin erschöpft, bloß Ausdrucksformen des Volkes aufzunehmen oder das gute Alte als das dem Volk Gemäße anzupreisen; er will vielmehr die Ausdrucksmöglichkeiten der Arbeiter (und anderer) auch durch neue Mittel, die den jeweiligen politischen (und sozialen) Zwecken entsprechen, erweitern und bereichern".(6)

Im Dreigroschenroman (1934) hat Brecht diese Einfachheit seines Sprachstils auf die Formel "Die Hauptsache ist, plump denken lernen. Plumpes Denken, das ist das Denken der Großen" (13, 916) reduziert. Walter Benjamin hat in seinem Kommentar (1935) eine einsichtsreiche Seite über "plumpes Denken" aufgenommen, die nicht nur Brechts "dialektische Einfachheit" (7) überzeugend herausstellt, sondern all dies auch mit der sogenannten Einfachheit der Sprichwörter in Verbindung bringt: Plumpe Gedanken gehören gerade in den Haushalt des dialektischen Denkens, weil sie gar nichts anderes darstellen, als die Anweisung der Theorie auf die Praxis (...) Die Formen des plumpen Denkens wechseln langsam, denn sie sind von den Masen geschaffen worden. Aus den abgestorbenen läßt sich noch lernen. Eine von diesen hat man im Sprichwort, und das Sprichwort ist eine Schule des plumpen Denkens. (8)

Indirekt geht aus dieser Aussage hervor, daß Brecht traditionelle Sprichwörter keineswegs als unumstößliche Volksweisheit akzeptiert. Die gebrechliche Einrichtung der Welt ist zu verändern, so daß manche etablierten Weisheiten nicht mehr wahr zu sein brauchen!

Einige Monate vor seinem Tod sprach Brecht im Januar 1956 auf dem IV. deutschen Schriftstellerkongreß in Berlin von dem Aufbau einer neuen Welt, woran die sozialistische und realistische Schreibweise teilzunehmen hat "durch das Studium der materialistischen Dialektik und das Studium der Weisheit des Volkes" (19, 555). Bereits in den späten dreißiger Jahren hatte er mit Bezug auf die "nichtaristotelische Dramatik" darauf hingewiesen, daß "nicht alles, was vom Volk kommt und zum Volk geht, gleich populär (ist). Das sind Binsenwahrheiten, aber es gibt auch Binsenfalschheiten, denen nichts anderes entgegengestellt werden kann" (15, 318). Mit dieser scheinbar banalen Feststellung trifft Brecht den Nagel auf den Kopf, denn gerade die sprichwörtlichen Volksweisheiten zeichnen sich durch große Widersprüchlichkeit aus. Für jedes Sprichwort läßt sich bekanntlich ein Antisprichwort finden, da diese Weisheiten lediglich auf Erfahrungen beruhen und kein logisches System beinhalten. So erklärte Brecht bereits 1920 in seinen Notizbüchern seine "Freude an der Dialektik" (15, 43) (9), und in seinem Essay Bei Durchsicht meiner ersten Stücke (1954) beruft er sich auf seinen allgemeinen "Widerspruchsgeist" (17, 945). Redensartlich hat Brecht seine widerspruchsvolle Arbeitsweise damit charakterisiert, daß "es sich (...) nicht nur um ein "Gegen-den-Strom-Schwimmen" in formaler Hinsicht handelte (...), sondern immer doch schon um den Versuch, die Vorgänge zwischen den Menschen als widerspruchsvolle, kampfdurchtobte, gewalttätige zu zeigen" (19, 397). Mit einer weiteren redensartlichen Aussage bringt Brecht all dies in seinem Kaukasischen Kreidekreis (1945) auf folgenden Nenner: "Verschiedene Weine zu mischen mag falsch sein, aber alte und neue Weisheit mischen sich ausgezeichnet" (5, 2007). (...)

In den zwanzig von Elisabeth Hauptmann herausgegebenen Bänden von Brechts Gesammelten Werken (1967) habe ich auf 7796 Seiten 513 Sprichwörter sowie 2394 Redensarten gefunden, was eine beachtliche Frequenz von einem Sprichwort pro 15,2 Seiten und einer Redensart pro 3,3 Seiten ergibt. In den Stücken, Gedichten und Prosawerken (Bde. 1-14) erreichen die 469 Sprichwörter auf 5596 Seiten sogar eine Frequenz von einem Sprichwort pro 11,9 Seiten. Dabei ist von Interesse, daß ein ausgesprochener Volksschriftsteller wie Jeremais Gotthelf mit seinen 905 Sprichwörtern auf 10294 Seiten auch nur auf eine Frequenz von 11,4 kommt.(10) Nimmt man alle 2907 Sprichwörter und Redensarten zusammen, so tritt alle 2,7 Seiten eine sprichwörtliche Aussage in dem aus Stücken, Gedichten, Romanen, Kurzprosa und theoretischen Schriften bestehenden Gesamtwerk Brechts auf. (...)

Doch finden Sprichwörter bei Brecht trotz ihrer wortwörtlichen oder nur angedeuteten Übernahme immer wieder auch Veränderungen, so daß sich aus dem Gesamtwerk aufschlußreiche parallele Widersprüche ergeben. Im Kaukasischen Kreidekreis fragt zum Beispiel Azdak den Arzt, ob er für sein Vergehen keinen Milderungsgrund anführen könne. Darauf antwortet dieser: "Höchstens, daß Irren menschlich ist" (5, 2080). In dem Fragment Untergang des Egoisten Johann Fatzer (1930) steht folgende Choreinlage:

Unrecht ist menschlich / Menschlicher aber
Kampf gegen Unrecht / Machet aber doch halt auch hier
Vor dem Menschen, laßt ihn / Unversehrt. Den Getöteten
Belehrt nichts mehr!
(7, 2910)

Wiederholt setzt sich Brecht auch mit Sprichwörtern auseinander, indem er sie auf aphoristische Weise in aller Kürze ergänzt. In dem für Schüler gedachten kurzen Stück Der Neinsager (1930) reagierte ein Knabe auf das Sprichwort "Wer A gesagt hat, der muß auch B sagen" ergänzend und widersprechend: Wer a sagt, der muß nicht b sagen. Er kann auch erkennen, daß a falsch war" (2,629).(11) Gleichzeitig aber benutzte Brecht das Sprichwort in seinem Aufsatz Über die Notwendigkeit von Kunst in unserer Zeit (1930) im traditionellen Wortlaut als Argumentation dafür, Kunstpreise nicht so drastisch ansteigen zu lassen, wenn Kinder in aller Welt Hunger leiden: "Man sollte Kunst nicht als "Ausdruck großer und einmaliger Persönlichkeiten im Sinne von Ausnahmeerscheinungen" betrachten. Man hat dann A gesagt und muß auch B sagen. Wenn Ausnahmepersönlichkeiten eben der Welt ihre Preise diktieren - Preise von solcher Höhe, daß an die Speisung ganz unbedeutender, vielfach vorhandener Kinder nicht mehr zu denken ist." (18, 77) Hier zeigt sich deutlich, daß Brecht die Multifunktionalität von Sprichwörtern auszunutzen wußte, wobei Verfremdung und direktes Zitat des Sprichwortes nicht unbedingt im Widerspruch stehen. Gewiß aber wäre Brecht auch völlig einverstanden gewesen mit Franz Fühmanns kritischer Auseinandersetzung mit diesem Sprichwort, die mit der Wiederholung seiner ursprünglichen Verfremdung beginnt. Möglicherweise hatte Fühmann Brechts frühere Formulierung im Sinn, als er das Sprichwort umfunktionierte, um auf volkssprachliche Weise den Weg zum Faschismus anzuprangern: "Wer A sagt, muß nicht B sagen, und wer doch B sagt, muß nicht C sagen, und wer doch C sagt, muß nicht D sagen und so fort bis F gleich Faschismus. A kann Ausganspunkt für sehr vieles sein, aber wenn die Entwicklung von A ausging und über welchen Umweg auch immer in F endete, dann war A der Startplatz nach F.(12) (...)

Natürlich tritt bei dem Marxisten Brecht auch die Umkehrung des Sprichwortes Geld stinkt nicht zu Geld stinkt (4,1619; vgl. 14,1300) auf, daß der reiche Puntila allerdings nur im Suff von sich gibt. Und im Kuppellied des Greuelmärchens Die Rundköpfe und die Spitzköpfe (1934), dessen Untertitel aus der passenden Sprichwortverfremdung Reich und Reich gesellt sich gern besteht(13), macht Brecht aus der Sprichwortformel Geld macht...(14) den Refrain: "Geld macht sinnlich sinnlich / Wie uns die Erfahrung lehrt" (3,1013f.). Brecht hatte diese Formulierung erstmals 1929 in der Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny benutzt. Dort steht die Sprichwortverfremdung Geld macht sinnlich jedoch im Konflikt mit den Lebenserfahrungen der Prostituierten Leokadja Begbick: "Auch ich bin einmal an einer Mauer gestanden / Mit einem Mann / Und wir haben Worte getauscht / Und von der Liebe gesprochen. / Aber das Geld ist hin / Und mit ihm auch die Sinnlichkeit." (2,515) Später spricht Begbick eine neue Weisheit aus, womit Brecht seine ursprüngliche Sprichwortverfremdung erneut umkehrt: "Geld allein macht nicht sinnlich. (2,534) Damit deutet sich wie so oft bei Brecht ein Umschwung zum Menschlichen hin an, wo wahre Menschenliebe den kapitalistischen Egoismus ersetzt.

Am deutlichsten hat Brecht sich jedoch in seinem vierzeiligen Epigramm Ach, des Armen Morgenstund (1932) gegen den gewinnsüchtigen Kapitalismus und für die Mittellosen eingesetzt. Dabei variiert er das bewiesenermaßen auch heute noch populärste deutsche Sprichwort Morgenstund hat Gold im Mund (15) und fügt als verdoppelte Anklage noch eine Verfremdung des biblischen Sprichwortes Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen (2. Thessalonicher 3, 10) hinzu:

Ach, des Armen Morgenstund
Hat für den Reichen Gold im Mund.
Eines hätt ich fast vergessen:
Auch wer arbeit', soll nicht essen.
(8,396)

Dabei ist es durchaus möglich, daß Brecht von dem ihm gut bekannten Herbert Jhering beeinflußt wurde, der am 27. Mai 1932 im Berliner Börsen-Courier den satirischen Beitrag Die kleinen Redensarten (gemeint sind Sprichwörter) veröffentlicht hatte, worin er sich gegen die Gefährlichkeit spießiger Sprichwörter ausspricht:

Selbst ein Wort wie "Morgenstunde hat Gold im Munde", ein scheinbar tätiges, anstachelndes, anfeuerndes Wort, ist im Grunde eine idyllische, behagliche, philisterhafte Redensart. "Morgenstunde hat Gold im Munde": Steh nur früh auf, dann wird alles schon werden, erhebe dich rechtzeitig, dann kann es nicht fehlen, sei pünktlich, dann befriedigst du deinen Vorgesetzten, und der Lohn wird nicht ausbleiben.(16) (...)

So bleibt zum Schluß die Frage nach dem Sinn des Lebens und nach dem Menschsein schlechthin. Gibt es bei dem Moralisten Brecht darauf eine Antwort? Läßt sich möglicherweise gar ein bestimmtes Sprichwort finden, das zusätzlich zu dem nur in einem Werk benutzten Motto Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral (17) im Gesamtwerk zu finden ist und so als Brechts Weisheit letzter Schluß gelten kann? In den Waagschalen des Lebens, wohin neigt sich schließlich Brechts philosophische Einstellung - zum Fressen oder zur Moral, zum Animalischen oder zum Menschlichen?

Hans Mayer hat diese Frage in einem Vortrag mit dem provokativen Titel Brecht und die Humanität ebenfalls zu beantworten versucht. Einleitend heißt es dort: "Brecht und die Humanität: eine fragwürdige Zusammenstellung. Wie kommt dieser Stückeschreiber, der im Verlauf seines Werkes immer wieder, nicht zuletzt im Parabelstück über den guten Menschen von Sezuan, Spott auszugießen pflegte über Redensarten von Humanen und Allgemein-Menschlichen, plötzlich dazu, im Zusammenhang mit dem Problem der Humanität genannt zu werden? (18) Die Antwort darauf ist schlicht und einfach: Brecht hat sich trotz aller Kritik und Spottsucht grundsätzlich immer mit dem Schicksal des Menschen beschäftigt. In seinem bekannten Lied des Stückschreibers (1935) heißt es programmatisch in der ersten Strophe:

Ich bin ein Stückschreiber. Ich zeige
Was ich gesehen habe. Auf den Menschenmärkten
Habe ich gesehen, wie der Mensch gehandelt wird. Das
Zeige ich, ich, der Stückschreiber.
(9, 789; auch 7, 7*)

Das Sprichwort Jeder Mensch hat seinen Preis nur strukturell variierend hieß es diesbezüglich bereits 1930 in dem Song von der Ware in dem Lehrstück Die Maßnahme:

Was ist eigentlich ein Mensch?
Weiß ich, was ein Mensch ist?
Weiß ich, wer das weiß?
Ich weiß nicht, was ein Mensch ist
Ich kenne nur seine Preis.
(2,651)

Resignierend vor der scheinbar prädestinierten Unveränderlichkeit des menschlichen Zustands greift der frühe Brecht zu tautologischen Sprichwörtern wie Mensch ist Mensch (1,13) in Baal und Mann ist Mann (8, 139) im Der Mann-ist-Mann-Song (1925) sowie im Titel des Lustspiels Mann ist Mann (1926). Wie bereits erwähnt, symbolisiert die Sprichwortverfremdung Der Mensch lebt nur von Missetat allein (2,458; 13,777) die menschliche Missere schlechthin, die den Menschen wie in der Tierwelt im Überlebenskampf gegen Menschen stellt. Überzeugend ist die Formulierung Koopmanns, daß "Brecht fast zwangsläufig auf eine Gegenwelt (verfiel): die Animalität des Menschen - also nicht auf das, was ihn vom Tier unterschieht, sondern auf das, was beiden gemeinsam war, nur das jenen bewußt war, was dieses unbewußt lebte". Franz Norbert Mennemeier spricht sogar direkter von einer "Wolfsgesellschaft", zu der Brecht als Sinnbild seiner "negativen Didaktik" greift.(19) Um dieses inhumane Dasein bildhaft darzustellen, hat Brecht sich einer ungemein drastischen Tiersymbolik bedient, die sich besonders um den in vielen Sprichwörtern und Redensarten verschrieenen Wolf dreht.(20) Redensartliche Belege wie Der ist ja nur ein Lamm zwischen zwei Wölfen (1,259), Wir halten einen alten Wolf am Ohr / Der, wenn er uns entspringt, uns beide anfällt (1,267) und Reißender Wolf in Schafskleidern (6,2380) machen das nur zu deutlich. Zum fünfmal und somit am meisten verwendeten Leitmotiv aber wurde Brecht das international verbreitete klassische Sprichwort Homo momini lupus, das im Deutschen als Ein Mensch ist des anderen Wolf überliefert ist(21).

Brecht hatte dies bereits 1932 in seiner Auseinandersetzung mit der Frage "Ist der Kommunismus ecklusiv?" als Teil seiner Anmerkungen zur "Mutter" deutlich und klar ausgedrückt. Dort bringt Brecht seine Überlegungen auf die sprichwörtliche Formel, die ausbeuterische Menschen kurzerhand zu Wölfen erklärt: "Unsere Gegner sind die Gegner der Menschheit. (...) Der dem Menschen ein Wolf ist, ist kein Mensch, sondern ein Wolf." (17,1066; auch 20,80) (22) Und auch das kurze Gedicht Zu einer japanischen Zeichnung ein Puppenspiel darstellend, das Kinder Kindern vorführen (1934) beginnt mit der alarmierenden Aussage, wie gebrechlich es um die Einrichtung dieser Welt steht, wo Menschen sich wie Raubtiere benehmen:

Wehe!
Auf den Tischen stehen die Unmündigen.
Spielend
Zeigen sie, was sie gesehen haben
Wie sich der Mensch verhielt zu dem Menschen und ihm ein Wolf war.
(9,543)

Etwas später zitiert Brecht das Sprichwort in seinem äußerst kritischen Essay Über gegenstandslose Malerei (um 1935), um sich mit diesem Sprachbild für eine volkstümliche und realistische Kunst einzusetzen:

Zeigt lieber auf euren Bildern, wie zu unsrer Zeit der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, und sagt dann: "Das wird nicht gekauft zu unserer Zeit." Denn Geld für Bilder haben zu unserer Zeit nur die Wölfe. Aber das wird nicht immer so sein. Auch unsere Bilder werden dazu beitragen, daß das nicht immer so sein wird. (18,268)

Hier spricht Brecht metaqphorisch ernaut davon, daß die Kunst, und eben auch seine schriftstellerische Kunst, beitragen kann zu der so notwendigen und auch realisierbaren Verbesserung der Welt. Das drückt schließlich besonders die erste Strophe des Gedichts Die handelnd Unzufriedenen (1943) aus, worin Brecht mitten im Zweiten Weltkrie das Sprichwort durch Hinzufügung nur eines Buchstabens positiv verfremdet hat:

Die handelnd Unzufriedenen, eure großen Lehrer
Erfanden die Konstruktion des Gemeinwesens
In dem der Mensch dem menschen kein Wolf ist.
Und entdeckten die Lust des Menschen am Sattessen
und Trockenwohnen
Und seinen Wunsch, seine Sache selber zu ordnen.
(10,865)

Diesen humanen Wunsch aber hatte Brecht im schicksalsreichen Jahr 1938 am Ende des bekannten Gedichts An die Nachgeborenen in seiner menschlichsten Sprichwörterverfremdung überhaupt ausgedrückt, worin er den Sinn seiner schriftstellerischen Tätigkeit darin sieht, ein Vorkämpfer dafür gewesen zu sein, daß aus menschlichen Wölfen endlich helfende Menschen (23) werden:

Ihr aber, wenn es so weit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unserer
Mit Nachsicht.
(9,725)

Mit dieser Zukunftsvision würde sich selbstverständlich Brechts Widerspruchsgeist auflösen. Da er sich jedoch nur in einer Übergangsepoche auf diesem Weg zur Humanität befand, mußte und konnte er nur darstellen, wie es unter den Menschen zugeht. ins einem kurzen Lustspiel (wohlbemerkt) Aus nichts wird nichts (1930) scheint der Sprichworttitel die banale Weisheit auszudrücken, daß dem Dichter nichts übrigbleibt, als nur das miserable "Leben des Menschen unter den Menschen dar(zu)stellen" (7,2951), wo die schlimme Weisheit Aus nichts wird nichts (7,2951) absolute Geltung hat. Und doch heißt es dann in typisch dialektischer Weise als unerwartete Erklärung: "Da der Mensch nichts ist, kann er alles werden" (7,2951) absolute Geltung hat. Und doch heißt es dann in typisch dialektischer Weise als unerwartete Erklärung: "Da der Mensch nichts ist, kann er alles werden" (7,2951). In Goethes Festspiel Des epimenides Erwachen (1815) sagt der Klassiker sehr ähnlich "Was nicht ist, es kann noch werden" (I, 15, 520), wobei er allerdings lediglich ein gängiges Sprichwort zitiert. Brecht aber hat das sprichwort in seiner Aussage hoffnungsvoll anthropomorhisiert, denn in einer neuen Welt der Humanität müßte der Wolf im Menschen sich zu einem edlen Menschen läutern.

Anmerkungen:

1 Diesem Beitrag liegt ein Vortrag zugrunde, der im Rahmen der Veranstaltungsreihe "100 Jahre Bertolt Brecht" am 21. Juli 1998 in Augsburg gehalten wurde. Eine mehr als doppelt so lange Erweiterung dieser Ausführungen bildet das erste Kapitel meines Anfang 1999 erschienen Buches "Der Mensch denkt: Gott lenkt - keine Red davon!" Sprichwörtliche Verfremdungen im Werk Bertolt Brechts (Bern: Peter Lang)
2 Zitiert wird nach: Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in 20 Bänden, hg. von Elisabeth Hauptmann; Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967. (Die neue, große Berliner/Frankfurter Ausgabe stand mir komplett noch nicht zur Verfügung.) Die Zahlen in Klammern nennen jeweils Band- und Seitenzahl.
3 Vgl. die Aussage "Das Volk erzählt nicht naturalistisch" in einem Brief an die Wien-Film AG vom 20. Februar 1955; in Bertolt Brecht, Briefe, hg. von Günter Glaeser, 2 Bde.; Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, Bd. 1, S. 737.
4 Vgl. Brechts Aussage "Allgemeinverständlich oder allgemein mitmachbar sind bessere Wörter (als volkstümlich). Allenfalls kann mit Nutzen davon sprechen, daß dies oder das volkstümlich gemacht werden soll" (12, 518).
5 Ganz ähnlich auch "Das Volk will gar nicht tümlich sein." (5, 2259).
6 Klaus Berghahn, "Volkstümlichkeit und Realismus". Nochmals zur Brecht-Lukács-Debatte; in: Basis: Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur, IV (1973), S. 7 - 37 (hier S. 36)
7 Detlev Schöttker, Bertolt Brechts Ästhetik des Naiven; Stuttgart: Metzler 1989, S. 293.
8 Walter Benjamin, Brechts "Dreigroschenroman"; in: W. B., Versuche über Brecht, hg. von Rolf Tiedemann; Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966, S. 84-94 (hier S. 91).
9 Vgl. Horst Jesse, Brechts Schreibmotiv. "Die Freude an der Dialektik"; in H. J., Die Lyrik Bertolt Brechts von 1914-1956; Frankfurt am Main: Peter Lang 1994, S. 87-99 (hier S. 87).
10 Vgl. Wolfgang Mieder, Das Sprichwort im Werke Jeremias Gotthelfs. Eine volkskundlich-literarische Untersuchung; Bern: Peter Lang 1972, S. 15-23.
11 Vgl. die detaillierte Interpretation von Paul Jung, Sprachgebrauch, Sprachautorität, Sprachideologie; Heidelberg: Quelle & Meyer 1974, S. 101-104.
12 Franz Fühmann, Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens; Rostock: Hinstorff 1973, S. 107.
13 Diese Umformulierung findet sich im Schauspiel Die Gesichte der Simone Machard (1943) wieder (5, 1887)
14 Vgl. die vielen Belege zu "Geld macht ..." in Wa, I, 1484 f., Geld 352-396.
15 Vgl. Wolfgang Mieder, "Morgenstunde hat Gold im Munde". Studien und Belege zum populärsten deutschsprachigen Sprichwort; Wien: Edition Praesens 1997.
16 Zitiert aus Herbert Jhering, Der Kampf ums Theater und andere Streitschriften 1918 bis 1933, hg. von Ludwig Hoffmann; Berlin: Aufbau-Verlag 1974, S. 58-64 (hier S. 61).
17 Vgl. Hans Bänziger, "Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral". Zu einem Motiv Bert Brechts; in: Reformatio, XI (1962), S. 496-503; Herbert Knust, Brechts Dialektik vom Fressen und von der Moral; in: Brecht heute/Brecht today, 3 (1973-1974), S. 221-250; und Schöttker (wie Anm. 6), S. 212-225. Brechts berühmt gewordene Formulierung entspricht nach Struktur und Sinn etwa dem Sprichwort Erst Brot, dann Tugend; Wa, I, 472 Brot 111.
18 Hans Mayer, Brecht in der Geschichte, Drei Versuche; Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 161-181 (hier S. 163).
19 Franz Norbert Mennemeier, Bertolt Brechts Lyrik; Düsseldorf: Bagel 1982, S. 91. Die hier zitierten Aussagen beziehen sich auf die Kapitelüberschrift "Lyrisches Gestarium der Wolfsgesellschaft: Groß-Stadtpoesie und negative Didaktik" (S. 91-105).
20 Donald Ward, The Wolf. Proverbial Ambivalence, in: Proverbium, IV (1987), S. 211-224.
21 Vgl. August Otto, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer; Leipzig: Teubner 1890; Nachdruck Hildesheim: Georg Olms 1971, S. 201; und Wa, III, 607 f., Mensch 384.
22 Zu diesem Zitat vgl. Richard Herzinger, Angst vor dem letzten Menschen, Bertolt Brecht, Ernst Bloch und die apokalyptische Faszination des Kommunismus; in: Die Zeit, Nr. 27/ 25. Juni 1998, S. 40.
23 Vgl. Johannas Aussage in Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1931): "Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und / Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind." (2, 783) Siehe auch die Forderung des jungen Genossen in der Maßnahme (1930) : "Der Mensch muß dem Menschen helfen" (2, 634). Im Badener Lehrstücke vom Einverständnis (1929) heißt es jedoch kurz zuvor viel pessimistischer "Der Mensch hilft dem Menschen nicht" (2, 593).

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