1. Ein Grund dafür, daß Menschen
die herrschenden kapitalistischen Verhältnissen und Institutionen ablehnen, ist die
verbreitete Befürchtung, daß durch die kapitalistische Form der Gesellschaft die
bisherigen zivilisatorischen Leistungen der bürgerlichen Epoche selbst zerstört werden.
Das hieße, bei Beibehaltung der bürgerlich-kapitalistischen Form des Lebens und
Produzierens würden auch die geschaffenen, aber durch die gesellschaftlichen
Verhältnisse nur begrenzt nutzbaren Möglichkeiten zur Entfaltung der Individualität in
Mittel der Barbarei verkehrt bzw. wieder vernichtet. Vernichtet würden damit auch
unverzichtbare materielle und kulturelle Voraussetzungen einer möglichen
allgemeinmenschlichen Emanzipation durch Aufhebung kapitalistischer Strukturen. Die
meisten Ostdeutschen schätzen inzwischen auch die bundesdeutschen Grundstrukturen als
nicht mehr zukunftsfähig ein, so wie vor einem Jahrzehnt die DDR-Verhältnisse. Warum
aber, so fragen wir uns verwundert, entsteht auf dieser Basis keine bemerkenswerte linke
oppositionelle Bewegung? 2.
Ich versuche eine Antwort: Die meisten kapitalismuskritischen Menschen gehen davon aus,
daß ein grundsätzlicher Wechsel der gesellschaftlichen Strukturen nur möglich ist, wenn
ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Deren zumindest absehbare Existenz sehen sie
auch als Bedingung für eigenes, erfolgversprechendes politisches Engagement an. Genau
diese Voraussetzungen sind jedoch nicht in Sicht. Worum geht es?
a) Zunächst werden nach dem Zusammenbruch des real-"sozialistischen" Modells
überzeugende Vorstellungen von positiven Alternativen zu den kapitalistischen
Strukturen, die wie einst der Marxismus-Leninismus eine starke Anziehungskraft ausüben
könnten, vermißt. Es gibt tatsächlich keine konkreten Antwort auf die Fragen,
wovon und wie denn die Leute morgen leben könnten und was sie geistig verbände, wenn
sich die Gesellschaft anders als kapitalistisch organisierte. Vor einem freiwilligen
Schritt aus den zwar nicht für zukunftsfähig gehaltenen, aber eben doch gewohnten
Strukturen ins unbekannte Nichtkapitalistische schrecken die meisten Menschen zurück.
Dies gilt mindestens solange, wie sie wenigstens kurzfristig die eigenen Existenz
materiell für einigermaßen abgesichert halten. Also, ohne glaubhafte Vorstellung
hinsichtlich einer lebbaren Alternative zum Bestehenden, ohne eine zündende Ideologie
gibt es nach dieser Erwartungshaltung kein massenhaftes praktisch-antikapitalistisches
Engagement.
b) Weiter wird von vielen Menschen, die sich für antikapitalistisch halten, eine Organisation
vermißt, der zugetraut wird, überhaupt die notwendige Macht entwickeln zu können,
den derzeitigen Strukturen Paroli zu bieten und eine neue nichtkapitalistische
Gesellschaft zu begründen. Gehofft wird auf entsprechende Führungen, an deren
guten Willen und Durchsetzungsfähigkeit mensch glauben könnte und in deren Dienst er
oder sie sich zum angenommenen gemeinschaftlichen Zweck dann auch stellen würde.
3.Hier kommt eine geschichtlich fest
verwurzelte Mentalität zum Ausdruck;: Das Herr-Knecht-Verhältnis grundsätzlich
akzeptierend strebt mensch nach dem angeblich guten Herren. Das können Parteien,
Parlamente, Diktatoren, Staatsapparate sein. So geprägte Menschen schreiten allenfalls zu
Revolten zwecks Vertreiben eines nicht mehr tragbaren Herren. Dies allerdings auch nur,
wenn eine bessere Herrschaft in Aussicht zu sein scheint. Resultat der nicht erfüllten
Erwartungen an entsprechende Bilder vom guten neuen Leben, an "sozialistische"
Organisationen und Führungen: Obwohl nicht mehr für zukunftsfähig gehalten, richtet
mensch sich in der gegebenen Realität ein. Das praktische Engagement zahlreicher
kapitalismuskritischer Menschen bleibt aus.3. Einwand: Hier wird angenommen, daß einer
wirklich revolutionären Bewegung ein greifbares Bild ihres Ziels vorgegeben sein und eine
entsprechende Führung vorangehen muß. Ich meine, eine solche Sicht ist selbst Ausdruck
eines alten aufklärerischen Missionarismus. Dieser kann überhaupt nicht aus der
bürgerlich-kapitalistischen Welt herausführen, weil er selbst ein bürgerliches
Projekt ist. Geht es nicht vielmehr um die freiheitlichen, emanzipatorischen Formen
eines gemeinsamen Suchens nach Alternativen? Überhaupt, es sind doch nicht
irgendwelche faßbaren Visionen einer neuen Welt, die einen sozialistischen Charakter
haben können, Bilder, die mensch aus religiösen Verheißungen oder Arbeiterliedern
kennt. "Wenn die letzte Schlacht geschlagen ... munter dann die Sicheln rauschen
durch das Erntefeld, Arbeit, Brot ..." und so weiter. So wurde das vom Proletariat
angeblich zu erkämpfende Himmelreich besungen. Das waren Entwürfe einer erhofften
Gesellschaft, in der die Gebrechen des Kapitalismus als aufgehoben geglaubt wurden. Bei
genauem Hinsehen zeigt sich aber und die real-"sozialistische" Versuch zur
Verwirklichung dieses Traumes bewies es: Die bürgerlich-kapitalistische Produktions- und
Lebensweise ist mit solchen Denkweisen und entsprechenden Bewegungsstrukturen nicht
aufhebbar. Wir sind uns auch einig, daß es falsch war, die realen Verhältnisse des
Ostens als sozialistisch zu definieren und das Erringen der entsprechenden
gesellschaftlichen Grundstrukturen (etwa Staatseigentum, sog. Diktatur des Proletariats,
angeblich sozialistische Warenproduktion, sozialistisches Arbeitsethos usw.) als einen Weg
aller Völker in die sozialistische Zukunft anzusehen. Es gab zwar über Generationen
hinweg geschichtsmächtige Versuche mittels des Hineintragens angeblich gewußter
Perspektiven, entsprechender Theorien (besser Ideologien bzw. Mythologien) in die Massen,
starke soziale Bewegungen zu befördern. Das hat, wenn auch in z.T. barbarischer Weise und
nur partiell, bedeutsame zivilisatorische Fortschritte gebracht. Das ändert aber nichts
daran, daß die großen europäischen sozialen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts auf
einem Modell beruhten, mittels dessen der Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft
überhaupt nicht verlassen werden konnte. Marx Thesen über Feuerbach, in
dieser Interpretation vom Marxismus-Leninismus "tapfer" ignoriert, brachten das
bereits auf den Begriff. Dieses Modell, nach dem sich auch die sozialen Bewegungen selbst
in zwei Teile spalten, von denen sich der eine über den anderen erhebt, hatte gerade in
der reformistischen wie in der kommunistischen der Arbeiterbewegung großen Einfluß. Das
ändert nichts an der Charakteristik dieser sozialen Bewegungsform als bürgerlich. Das
sagt hier kann sowohl mit als auch gegen Marx argumentiert werden eher etwas
aus über die aus den Existenzbedingungen der Arbeiterklasse notwendig resultierende
Begrenztheit ihrer Kämpfe auf die bürgerliche Epoche und eben auf bürgerliche soziale
Bewegungsformen. Es wird höchste Zeit zu verstehen: Sozialistisch können nur
nicht-herrschaftsförmige Formen eines gemeinsamen praktischen und theoretischen
Suchens nach lebensfähigen Alternativen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft
sein. Ein den Bewegungen vorgegebenes strategisches Konzept, erarbeitet von wem und in
welcher Qualität auch immer, verweist dagegen unvermeidlich auf ein bürgerliches
Projekt. Und genau dies hat sich als Zukunftsprojekt erledigt. Ein solches Projekt lockt
zumindest, wenn es tatsächlich um Befreiung, um Emanzipation geht auch Gott
sei Dank keinen Hund mehr hinter dem Ofen vor.
Dies ist ein Leseauszug aus dem Journal
Nr.5 der Reihe Theorie im Club. Den kompletten Text zum Weiterlesen gibt es ab
5.7.1999 bei: Demokratischer
Presseclub. |