zurück

trend onlinezeitung für die alltägliche wut
Nr. 7-8/1998


aus *UZ* unsere zeit, Zeitung der DKP, Nr. 34, 21. August 1998


ELN

Zweitstärkste Guerillaorganisation Kolumbiens


Die ELN ist eine revolutionäre Organisation, die in ihren
Reihen christliche Anhänger der Befreiungstheologie wie auch
MarxistInnen vereint. Nach den 15 000 Guerilleros starken
kommunistischen FARC ist die ELN mit rund 5 000 Mitgliedern
die zweitstärkste Guerillaorganisation Kolumbiens und ist
mit den FARC und den kleineren Organisationen EPL und
Bateman Cayón in der Nationalen Guerillakoordination Simón
Bolivar (CNGSB) zusammengeschlossen.

Die traditionelle Geschichtsschreibung erzählt von den
Eigentümern der Sachen und Menschen, ist eine Geschichte,
die nur aus Helden und Schlachten, aus Lügen und
Ausschmückungen besteht, in der das Volk - und besonders die
Frau, deren Beteiligung an dieser ganzen Epoche so unbekannt
blieb - nur zufällig und nur als ein Steinchen mehr in der
Geschichte in Erscheinung tritt.

Aber die Wahrheit ist eine andere. Die Wahrheit ist, daß in
Wirklichkeit das Volk die Geschichte schreibt, von Vorzeiten
bis heute - und auch in der Zukunft. Und in unserem Fall
verfolgen wir dieses Ziel seit dem 4. Juli 1964, als 18
kolumbianische Bauern der Nationalen Befreiungsarmee (ELN)
Anfang und Gesicht gaben.

Ich möchte hier von einigen Details berichten, wie unsere
Organisation, eure, unsere, aller Organisation, entstand,
denn es ist eine drängende Notwendigkeit, daß wir
Möglichkeiten zur Kommunikation untereinander finden,
entwickeln und verbreitern, denn wenn wir als Volk diese
Aufgabe nicht lösen, wird es niemand für uns tun. Am
allerwenigsten die selbsternannte "große Presse", deren Ziel
es ist, das Volk und seine revolutionären Organisationen
voneinander abzuspalten und zu entfernen.


Chronik des 4. Juli

Als ich Don Cayetano Aguilar, der in Romelandia war, das
Mittagessen gebracht hatte und zurückkam, traf ich Pedro,
der im Flur des Hauses saß und mit einem Schlüsselbund
spielte.

"Wieviel hast du heute nacht zum Spielen?" fragte er mich.
Ich erinnere mich nicht mehr an meine Antwort, aber ich
merkte, daß es ihm mehr als um seine Frage darum ging, sich
mit mir zu unterhalten.

"Bruder", begann er, als wir alleine waren, "ich werde dir
ein Geheimnis verraten, aber verspreche mir, es niemandem zu
sagen. Carlos ist nicht mein Vetter, wir werden in die Berge
gehen, denn es geht darum, gegen die Reichen zu kämpfen,
gegen die Regierung und gegen die, die gegen die Armen sind.
Aus Santa Rosa gehen einige, andere aus La Granada, aus Los
Algibes kommt José Ayala, Carlos ist der Chef, und da sind
noch etwa 20 weitere. Ich gehe auch."

Damit verstand ich die Geschäftigkeit, die es im Haus der
Familie Gordillo gab und machte mir meine Gedanken über die
Turnübungen, die Carlos mit sieben weiteren Jungs gemacht
hatte, die ich Tage zuvor für Arbeiter gehalten hatte, die
mit José Ayala befreundet waren.

"In einen verschlossenen Mund kommen keine Fliegen", hatte
mein Papa mir gesagt, als ich ihm erzählt hatte, daß ich bei
Carlos eine Pistole gesehen hatte.

An diesem Nachmittag im Juni 1964 wollte ich nicht, daß
Pedro Gordillo von anderen Dingen sprach als von dem
Geheimnis, daß er mir anvertraut hatte, aber ich hatte
Angst, ihn noch mehr zu fragen, weil ich dachte, daß ihm
meine Neugier nicht gefallen würde. In der Nacht ließ ich
einige der vorangegangenen Monate noch einmal an mir
vorbeiziehen. Mein großer Bruder und Carlos hatten mich zur
Schule nach Bucamaranga geschickt, und Carlos schimpfte mich
eines Sonntags aus, weil er mich besuchen wollte und ich
nicht da war, weil ich in der Messe war.


Carlos schenkte mir ein Buch

"Das", sagte er zu mir, "hilft dir nicht, die Welt zu
verstehen. Ich werde dir dieses Buch schenken, daß dir mehr
nützen wird als wenn du einen Priester etwas erzählen hörst,
was er selbst nicht versteht." Das Buch, das er mir
schenkte, zog er aus einer alten Jacke, die er über der
Schulter trug. Es hieß "José Antonio Galán" (ein
kolumbianischer Patriot des vergangenen Jahrhunderts).

Jetzt verstehe ich, sagte ich mir in dieser Nacht, wofür die
Hängematten sind, die meine Mama bis spät in die Nacht näht,
und diese Aufnäher in rot und schwarz mit den Buchstaben
ELN.

Bruder, kann ich nicht mit in die Berge kommen? "Großer
Pinguin, dein Papa wird dich nicht lassen, du bist noch ein
'Kind', und das ist eine Sache für Erwachsene, deshalb kommt
auch mein Bruder Jesús nicht mit, und auch nicht José
Miguel." Seine Antwort machte mich unzufrieden.

Am folgenden Tag bat ich Carlos, er möge mir seine Pistole
leihen, damit ich einen Schuß abgeben könnte. Er war
überrascht und fragte mich: "Ich lade sie sonst nicht - wer
hat dir gesagt, daß ich sie geladen habe?" Ich hätte sie am
Sonntag gesehen, antwortete ich ihm, als er sein Hemd
hochgezogen hätte. "Ruhig, ich bin nicht schwatzhaft." Auf
diese Weise gelang es mir, daß Carlos sich mit mir
unterhielt. Ich fragte ihn, ob er mich mit in die Berge
nehmen würde, weil ich auch fähig wäre, gegen die Soldaten
zu kämpfen.

"Macht dir das keine Angst?", fragte er mich. Doch,
antwortete ich ihm, aber ich bin dazu fähig. Er sprach zu
mir von Dingen, die ich verstand, weil mein Vater sie mir
erklärte, wenn ich am Sonntagnachmittag "La Vanguardia
Liberal" las. Daß die Reichen die Armen ausrauben, daß das
Leben anders sein müßte, daß wir Arbeiter und Bauern uns
organisieren müssen, daß Bolívar und Galán gegen die Spanier
gekämpft haben und es jetzt unsere Aufgabe sei, gegen die
Gringos zu kämpfen, usw.


"Das ist kein Spiel", sagten die Eltern

Nach acht Tagen verstanden meine Eltern, daß ich mich
vorbereitete, mich anzuschließen, und sie sagten zu mir:
"Das ist kein Spiel, es geht um einen Kampf auf Sieg oder
Tod; wir überlassen dir die Entscheidung, aber eines merke
dir: Zurück - keinen Schritt. Meine Mama organisierte mir
Wäsche zum Wechseln und mit Tränen in den Augen umarmte sie
mich und sagte: "Gott schütze und behüte dich, Sohn."

Der große Marsch. Zum ersten Mal trafen wir, die den ersten
Guerillamarsch angehen wollten, uns alle am 18. In einem
verlassenen Bauernhof, tausend Meter vom Haus von Pedro
Gordillo entfernt, begann all das, was als entscheidendes
Ereignis in die Geschichte eingehen sollte, was aber fast
niemand seiner Protagonisten in diesem Augenblick vermutete.

Zwischen Zigarettenrauch, Schweißgeruch und Kuhfladen sagte
eine Stimme das Folgende: "Compañeros, wird werden heute
nacht bis zum Morgengrauen marschieren. Parmenio, José
Guillermo und Leonardo gehen in der Vorhut. Policarpo,
Pedro, David, Segundo und Rovira gehen in der Nachhut. Die
anderen gehen in der Mitte. Ich bin der Kopf der
Hauptgruppe. Niemand raucht ohne meine Erlaubnis oder macht
ein Licht an, ausgenommen die Vorhut. Wenn die Vorhut
angegriffen wird, treffen wir uns hier. Kein Compañero läßt
irgendwas Verräterisches hier und die Nachhut säubert den
Raum, damit die Bauern morgen nichts merken."

Um 21.30 Uhr ging die Guerillakolonne inmitten eines
Wolkenbruchs, der alle vollkommen durchnäßte, los.

Um 10 Uhr morgens rief mich ein Compañero, den ich nicht
kannte, und gab mir ein Stück Brot, eine Packung Salzkekse
und zwei Stück Wurst. Während ich genüßlich aß, betrachtete
ich die Gestalten aller meiner Compañeros. Aus der ganzen
Gruppe kannte ich sechs: Carlos (Fabio Vázquez Castaño),
Parmenio (Pedro Gordillo), Miguel (Manuel Muñoz), Conrado
(Ciro Silva) und Rovira. Ich sagte zu Parmenio, daß er mir
seinen Karabiner zu tragen geben solle, die einzige
Kriegswaffe, die es in der Gruppe gab. Ich fühlte mich so
elend, daß ich mich an die Ratschläge erinnerte, die mir
meine Eltern vor zwei Tagen gegeben hatten. Als ich
bemerkte, daß die Bewaffnung der Gruppe nur aus Flinten und
Revolvern bestand, dachte ich, daß wir einen großen Nachteil
gegenüber dem Feind hätten, und sprach darauf Pedro David
(Hernán Moreno Sánchez) an, einen Compañero, den ich 15 Tage
vor Beginn des Marsches im Haus von Parmenio gesehen hatte.


"Wir holen uns die Gewehre"

"Mach dir keine Sorgen", antwortete er mir, "mit vier
Flinten, der Unterstützung der Bauern und einigen gut
sitzenden Treffern holen wir uns das Gewehr von einem
Soldaten. So werden wir uns bewaffnen. Während der violencia
(kolumbianischer Bürgerkrieg zwischen Liberalen und
Konservativen in den 40er Jahren, Anm. d. Übers.) haben wir
das so gemacht, und als Pinilla (Ex-Präsident Kolumbiens)
die Amnestie anbot, waren die Leute schon bewaffnet. Leider
haben wir den Köpfen des Liberalismus (Partido Liberal)
vertraut, die es waren, die uns verraten haben. Deshalb
können wir uns heute nur selbst trauen.

Die Müdigkeit aller war groß nach fast zwei Nächten ohne
Schlaf, im Dunkeln auf einem Mauleselpfad marschierend.

Um halb fünf Uhr am Morgen des 6. Juli kamen wir am Haus von
Don Pedro Landínez an. Es goß wie aus Kübeln und ich fühlte,
wir mir das Wasser am ganzen Körper herunterlief.

"Geht vom Weg runter und paßt auf, keine Spuren zu
hinterlassen", sagte eine Stimme, die ich nicht erkannte.
"Schwager", sagte Parmenio zu mir, "nehm deine Füße hoch und
mache einen großen Schritt, damit das Gras hier nicht
geknickt wird, das macht man, um Spuren zu vermeiden." Ich
folgte der Stimme, und 200 Meter vom Weg entfernt setzte ich
mich auf eine feuchte Stelle, ich wachte um 7 Uhr morgens so
wieder auf, wie ich mich hingesetzt hatte, ohne mir den
Rucksack von den Schultern zu nehmen; an meiner Seite waren
einige Compañeros in der gleichen Haltung. "Kommt her, damit
wir einige Anweisungen geben können", sagte Carlos. Rovira,
organisiere die Posten, damit sie den Weg bewachen, und so,
daß sie die Schule sehen; niemand setzt sich hin, damit sie
nicht einschlafen. Die anderen Compañeros nehmen die
Hängematten und schlafen; bevor es dunkel wird, gehen wir
von hier weg.

Mittags erwachte ich schwitzend, die Sonne brannte mir ins
Gesicht, und ein Compañero sagte mir: Essen wir zu Mittag,
es gibt Hühnchenfleisch, nach dem Essen kannst du deine
Wäsche in dem Tümpel da waschen.

Alles erhob sich und wir setzten uns um Don Pedro Landínez
herum, um zu Mittag zu essen; es gab wirklich
Hühnchenfleisch. Der Reihe nach bekamen wir unser Teil und
der alte Pedro sah mich an und sagte: "Dieser Chino hat
keine Zeit verloren, ich dagegen tauge nichts mehr, da tun
einem schon die Knie weh,und der Krieg beginnt doch erst."

Um drei Uhr nachmittags kam der alte Pedro zurück mit einer
Schüssel voll Essen. "Machen Sie sich keine Sorgen, Don
Carlos, ich weiß schon, wie die Dinge laufen, denn unter
Gaitán war ich auch in den Reihen von Rangel."

Er fuhr fort, seine Geschichten zu erzählen, und Carlos
hörte ihm aufmerksam und lachend zu, denn der Alte erzählte
in lustigen Anekdoten. "Und das, wozu dient das?" fragte der
Alte mit Blick auf den Feldstecher, den Carlos um den Hals
trug.

"Der bringt die Entfernung näher, Don Pedro, das heißt, wenn
aus 500 Metern eine Person wie eine Puppe aussieht, sieht
man sie hiermit, als wäre sie nur 30 Meter entfernt",
antwortete Carlos.

"So ist das also?", sagte Don Pedro, "in dem Fall leih ihn
mir, damit ich gucken kann wie der... die Lehrerin von der
Schule sich badet."


Der Weg in die Anden

Die Karawane brach leise auf, die Anweisungen unseres Chefs
beachtend. Zurück blieben unsere Freunde, Familien und viele
Erwartungen in die Zukunft einer kleinen Kraft, reich an
Hoffnungen und Entschlossenheit, aber unter erbärmlichen
wirtschaftlichen Bedingungen, arm an Waffen und ohne
Medikamente.

Wir merkten, daß Silverio verlorengegangen war. Der Marsch
hielt an, und zwei Compañeros gingen, um den Verlorenen zu
suchen. Um sieben Uhr kehrten sie zurück: Seine Spuren gehen
auf dem Weg, den wir verlassen haben; der Wachhabende sagte,
daß Silverio auf Posten stand, als wir die Instruktionen
bekamen, und sie deshalb nicht mitbekommen hat.

"Gut", sagte Carlos, "es bleibt nichts zu tun, er hat ja
eine Ahnung, wohin wir gehen, setzen wir also unseren Marsch
fort." Um ein Uhr morgens überquerten wir den Fluß
Cascajales, mich durchfuhr ein plötzlicher Schrecken, denn
ich dachte, ich versinke, denn das Wasser reichte mir bis
zum Hals und der Inhalt meines Rucksacks verwandelte sich in
eine einzige Soße.

Zum ersten Mal in meinem Leben schlief ich im Laufen,
mehrere Male lief ich gegen ein Hindernis oder landete
bäuchlings in einem Graben; die anderen Compañeros waren
ebenso müde wie ich, aber wir konnten nicht anhalten, denn
wir mußten die Anden erreichen, ohne von der
Zivilbevölkerung entdeckt zu werden, denn die Mehrheit von
ihr wußte noch nicht, daß sich von Neuem eine Guerilla
formierte, diesmal nicht unter dem Einfluß der Liberalen
Partei, sondern für die gerechte Sache des Volkes.

"Beeilen wir uns, damit wir die Berge erreichen, bevor es
Morgen wird", befahl Carlos, und wir alle rafften unsere
letzten Kräfte zusammen, die uns nach drei Nächten ohne
Schlaf noch blieben.

Um 10 Uhr morgens begannen wir, auf einem Pfad zu laufen,
und kamen gegen 12 Uhr mittags in Patio Cemento an. Dort
erwarteten wir die Nacht, um unseren Weg fortzusetzen;
niemand der dort Anwesenden konnte sich vorstellen, daß 19
Monate später am selben Ort, an dem wir den Abend jenes 7.
Juli erwarteten, der Priester und Guerilla-Comandante Camilo
Torres Restrepo zusammen mit fünf weiteren Compañeros
sterben würde. Einer von ihnen saß hier bei uns: Domingo
Leal Leal.

Um drei Uhr nachmittags brachte der Bauer Aureliano Plata
Espinosa (der auch mit Camilo starb, als er versuchte,
dessen Leichnam zu bergen) das Mittagessen, das seine Mama
uns bereitet hatte. Wir alle malten uns unsere Zukunft als
junge Revolutionäre aus, und wenn wir auch daran dachten,
daß wir fallen könnten, sprach niemand von diesen Dingen,
sondern davon, den Sieg in dem jetzt begonnenen Krieg zu
erringen.


Die schweigsame Guerilla-Karawane

Um sieben Uhr abends brach die schweigsame Guerillakarawane
von neuem auf. Eine halbe Stunde zuvor hatten wir erfahren,
daß Silverio, der Compañero, den wir am vorhergehenden Abend
verloren hatten, am Tag zuvor den ganzen Weg auf der Straße
entlang gekommen war, am hellichten Tag und ohne irgend
jemandem eine Erklärung über sein außergewöhnliches
Auftreten mit Gewehr, Patronen, olivgrünem Hemd und einem
Rucksack mit Hängematte und Wäsche abzugeben. Im Gebiet von
Opón fragte ihn ein Polizeiinspektor: "Wohin gehst du,
junger Mann?"

Silverio antwortete aggressiv: "Vorwärts, sehen Sie das
nicht!?" Es war ein köstlicher Klatsch, den sich alle Welt
im Geheimen erzählte.

Um 10 Uhr abends passierten wir La Loma, um 11 Uhr
überquerten wir den Riosucio und um drei Uhr morgens kamen
wir in unserem ersten Lager an. Es war ein altes Gehöft
inmitten des Urwalds; als wir eintraten, flatterten einige
Fledermäuse auf. 50 Meter entfernt in einem kleinen
Holzschuppen waren einige alte Kochtöpfe, die Leonardo
einsammelte, um das Essen zu machen, während wir anderen die
Hängematten vorbereiteten.

Um sechs Uhr am Morgen des 8. Juli, nachdem wir uns den Mund
gewaschen hatten, erkundeten wir die Umgebung unseres
Lagers, teilten die Posten ein, machten einen Plan für den
Notfall und begannen mit der politischen, ideologischen und
militärischen Vorbereitung der 18 Männer, die sich der
Zukunft verschrieben hatten und deren Herzen voller
Erwartung und Hoffnung waren.

Übersetzung: André Scheer

 

nach oben
trend
Nr.7-8/1998