zurück

trend onlinezeitung für die alltägliche wut
Nr. 7-8/1998


Ein Jahrhundert auf dem Scheiterhaufen

von Rossana Rossanda

 

(Rossana Rossanda ist ehemaliges Mitglied der KPI, Gründerin der Tageszeitung Manifesto, Autorin von journalistischen und wissenschaftlichen Arbeiten. Ihr Beitrag erschien in Il manifesto vom 25. Februar 1998. Übersetzung: Klaus Dieter Lühn.)

 

Das »Schwarzbuch des Kommunismus« ist voreingenommen und zusammengeschustert, aber es ist ein Buch, das man lesen muß. Voreingenommen, weil es von der These ausgeht, daß jeglicher Kommunismus dazu verdammt ist, die Gesellschaft zu unterdrücken, die aus sich heraus und sogar mit breitem Konsens eine Revolution durchgeführt hat: stecke dahinter doch die utopische Anmaßung, die natürliche Ordnung des Eigentums und des Marktes verändern zu können. Zusammengeschustert, weil zwischen den einzelnen Beiträgen zahlreiche Ungereimtheiten festzustellen sind. Darüberhinaus wird in der Einleitung von Stephane Courteois selbst die in den verschiedenen Beiträgen der Autoren enthaltene Problematisierung ausgespart, wovon die beiden Hauptautoren Nicolas Werth und Jean Louis Margolin sich distanziert haben, ebenso wie die Schule um Furet sich gegen ihre post mortem Vereinnahmung verwahrt hat. Dennoch sollte dieses Buch gelesen werden. Es ist keine Geschichte des realen Sozialismus. sondern eine Bilanz der in seinem Namen begangenen Verbrechen. Ist es statthaft, diese für sich zu untersuchen, abseits vom historischen Kontext? Ich denke schon. Denn egal, wie man die einzelnen Daten, den Umfang der Repressionen, die verschiedenen Hochrechnungen, Manipulationen und Schätzungen bewerten mag, oder die Tatsache, daß vieles längst gesagt ist und nichts Neues bringt die zentrale These lautet:

Überall, wo die Kommunisten an die Macht kamen, war das staatliche Gewaltmonopol härter und umfassender als in jeder demokratischen Gesellschaft.

* * *

Ich spreche ganz bewußt vom »staatlichen« Monopol, weil sich die Gewalt in allen hier zu betrachtenden Ländern vor der Revolution nicht nur seitens des Staates, sondern in Form der »Regeln« des Kolonialismus und des Marktes, der extremen Gegensätze zwischen Klassen und Schichten oder Kasten, austobte. In den kommunistischen Regimen zeigte sie sich in der allmächtigen Staatspartei. die alles im Namen des Volkes richtete. Ebenso die Fehler und Irrtümer. Was einst den Schlachtruf des Kommunismus ausmachte, die Befreiung des Menschen von äußeren Fesseln bis hin zur Abschaffung des Staates, verwandelte sich zu einem tödlichen Widerspruch im Namen der Emanzipation. Warum hat sich in keinem kommunistischen Land die These aus dem Manifest von 1848 bewahrheitet, daß die Diktatur des Proletariats über die Bourgeoisie oder die Herrschenden nur vorübergehend sei, sobald sie durch Mechanismen der gesellschaftlichen Selbstbestimmung und Konsensfindung abgelöst würde?

Das Machtzentrum blieb zentralisiert und hat Rechte und Dienstleistungen, Bildung, Gesundheitswesen, sozialen Aufstieg zwar allen zugänglich gemacht – was es vorher nicht gab – aber nicht als Wert betrachtet, der um jeden Preis verteidigt werden muß. Die Gesamtheit dieser Gesellschaft ist betroffen von der Krise der zugrundeliegenden Idee, wenn nicht gar auf den Kopf gestellt. Es geht nicht an, sich so davonzustehlen, wie es Le Monde diplomatique (mit Ausnahme des Kommentars von MosheLewin) getan hat, indem sie sich an den vielen Tatsachenverdrehungen festklammern.

Vieles aus diesem Buch gehört durchaus an den Absender zurückgeschickt: die Einleitung von StephaneCourteois, das Kapitel über die Komintern und die >>Volksdemokratien<< ebenfalls von Courteois, von Karel Bartosekoder von Andrej Paczkowski, in verbittertem Ressentiment verfaßt, und jene noch oberflächlicheren Teile über Lateinamerika. Aber ohne Auseinandersetzung und Prüfung dürfen wir weder die Detailanalysen in den kürzeren Beiträgen noch die beiden Aufsätze von Nicolas Werth über die UdSSR und von Jean Louis Margolin über China und die asiatischen Kommunismen, die allein zwei Drittel des gesamten Buches ausmachen, einfach beiseite werfen.

* * *

Die Arbeit von Werth ist die einzige, die auf einer soliden Quellenlage gründen soll. In den 60er Jahren hatte die UdSSR begonnen, ihre Archive zu öffnen, und heute stehen gewissermaßen alle zur Verfügung. In einem Land kontinentalen Ausmaßes wie China wären sie unerläßlich. sind aber nicht zugänglich. Da sind zwei Wege möglich: Entweder man verzichtet auf jeden Versuch der kritischen Analyse oder man versucht sorgfältig auseinanderzuhalten, was man weiß und was man bloß vermutet. Im vorliegenden »Schwarzbuch« hat diese Sorgfalt nicht obsiegt. Die Bibliographie besteht fast ausschließlich aus Arbeiten, die nach 1989 verfaßt wurden, geschrieben aus der Optik der >>Sieger<<. Werth zitiert nicht einmal Isaac Deutscher, Lewin ein einziges Mal, die meisten der zitierten Quellen stammen aus der von Courteois in Paris herausgegebenen Zeitschrift »Kommunismus«. Weder Werth noch Margolin stellen eigene Recherchen an, zudem muß der Leser selbst herausfinden, wer berücksichtigt und wer vernachlässigt wurde.

Im Falle China ignoriert Margolin die überragenden angelsächsischen Studien. Ich rede nicht von Edgar Snow, sondern von Stuart Schramm oder von Jerome Chen, oder von Robinson. oder die Jahrbücher der Zeitschrift »Far Eastern« , oder die Quellen aus dem zweifellos nicht unbeteiligten und unparteiischen US-Außenministerium. Nichts von alledem. Allein William Hinton wird erwähnt. Oder die große Geschichte von Fairbanks, die in Cambridge erschien. Das »Schwarzbuch« täuscht nicht einmal historische Objektivität vor.

Warum sollten wir es dennoch lesen?

Weil die Kommunisten bis heute keine Bilanz der real existierenden Sozialismen gezogen und noch weniger untersucht haben, warum die Repression derart Oberhand gewinnen konnte. Weder vor 1989 noch danach. Wir haben die schonungslose Analyse unseren Gegnern kampflos überlassen. Die Frucht war mehr als reif, ja faul, und jetzt werden wir beworfen.

Nun zum Beitrag von Werth, dem an Quellen reichsten, dem fast alle (nach Lewin alle) sowjetischen Archive zugänglich waren. Die sowjetische Bürokratie arbeitete peinlich genau. Das Bild, das sich ergibt, bestätigt die Richtigkeit der Zahlen über die Repression, die in den bislang allgemein anerkannten Texten wie dem von Robert Conquest über den »Großen Terror« genannt wurden:

Conquest zufolge hat der NKWD allein 1937 und1 938, in den fürchterlichsten Jahren, sechs Millionen Personen verhaftet, davon drei Millionen erschossen, zwei Millionen kamen in Lagern um. Die Unterlagen aus den Archiven belegen 1.575.000 Verhaftete, 1.345.000 Verurteilte, davon 681.692 zum Tode Verurteilte, wobei nicht alle Urteile vollstreckt worden sind.

Auch wenn man diesen fürchterlichen Rhythmus für den betreffenden Zeitraum die Periode der Kollektivierung, die beiden oben erwähnten Jahre und die Nachkriegszeit bis 1953 beibehält, wogegen einiges spricht, läßt sich die von Conquest genannte Gesamtzahl von 25 Millionen Opfern nicht aufrechterhalten. Wahrscheinlich schwankt die Zahl der Inhaftierten und der Toten zwischen einem Drittel und der Hälfte.

Während die Zahl der Erschossenen ziemlich genau quantifizierbar ist, wie auch diejenige der während der Deportationen und in den Lagern umgekommenen, ist die Zahl der Verschollenen (»passati«) wegen der unterschiedlichen Formen der Inhaftierung kaum zu präzisieren.

Der Gulag war ein System auf Zeit, Leute wurden gebracht und entlassen, es herrschte Fluktuation. Sicher ist, daß in den Perioden der härtesten Repression in den Gulag-Lagern über zwei Millionen Menschen festgehalten wurden. Unmittelbar nach Stalins Tod amnestierte Berija die Hälfte, 1.200.000 kamen frei, der Rest in den darauffolgenden Jahren. Das Verhältnis der Gulag-Depor tierten zur Gesamtheit der Bevölkerung beträgt durchschnittlich 1 zu 100 (bei uns kommt ein Gefängnisinsasse auf mehr als 1000).

Das sind fürchterliche Zahlen es handelt sich um Menschenleben, Festgenommene und durch Urteil und Unterschrift in den Tod geschickte, die ein ganzes Heer von Apparatschiks unterstellen. Sie wurden von Beginn an von einer mächtigen Sonderorganisation eingesetzt, der Tscheka von Felix Dzershinski und seinen Nachfolgern. Abgesehen von der erschreckenden statistischen Bilanzierung müssen wir eine Reihe von Überlegungen anstellen.

* * *

Warum diese gewaltige Repression?

Sie liegt in der Phase der Revolution und des Bürgerkrieges, als es übrigens nicht die Bolschewiki waren, die den Terror anzettelten, der in einem erniedrigten und auf gewühlten Land explodierte, das keine andere Wahl als die der Rebellion hatte. Es gibt keinen Anlaß für die These, bemerkt auch Werth, Lenin hätte einen heranreifenden demokratischen Prozeß blockiert. Die Kommunisten schafften sofort die Todesstrafe ab, hielten sich aber nicht daran. Werth bringt einige bluttriefende Zitate von Lenin (etwa »erschießt sie alle«), doch sie belegen eher eine außergewöhnliche Streßsituation denn seine kulturelle Grundhaltung. Für Lenin ist Repression das notwendige Mittel angesichts des Angriffs der Weißgardisten und der ausländischen Intervention, kein Regierungssystem. Nicht so für Stalin, der die Repression zum Dauerzustand machte, und der die Repression als Methode der sozialen, und ab einem gewissen Punkt sogar der ethnischen Umgestaltung einsetzte. Die von Chruschtschow in seiner Geheimrede lancierte These, daß die Repression sich vor allem gegen die innerparteiliche Opposition gerichtet hätte, gehört in den Bereich der Ammenmärchen. Sie erfaßte ganze Sozialschichten und später einige nationale Minderheiten.

Das >>Schwarzbuch<< spricht vom »Krieg gegen das Volk«. Gegen das Volk nicht, aber gegen die Bauern. Ein Krieg, den Bucharin so gefürchtet hatte, und der so schreckliche Kosten mit sich brachte. Er beruhte auf der Idee. soziale Umgestaltungen durch Unterdrückung und Deportation voranzutreiben: Wo das Proletariat eine prämoderne, rückwärtsgewandte Schicht wie die Kleinbauern (als solche wird sie auch in der Marxschen Konzeption angesehen) nicht an sich binden kann, müsse es versuchen, ihren Widerstand auch mit Gewalt zu brechen. Das ist eine völlige Verdrehung der Marxschen Theorie der Diktatur des Proletariats. Die Deportation gerät aus der Fassung sogar dort, wo sie funktioniert: Die Ex-Kulaken in den Lagern neben den großen Industriekomplexen bewegen sich ab einem gewissen Punkt außerhalb der Lager, an der Seite der freien Arbeiter, ja sie machen z.B. 40 Prozent der Gesamtbevölkerung des berühmten Magnitogorsk aus. Die Grenze zwischen Haft und Zwangsarbeit, zwischen Zwangsarbeit und Arbeit verblaßt in beide Richtungen. Und die offene Wunde zwischen Bauernschaft und Sowjetmacht wird sich nicht mehr schließen.

* * *

Das ist eine Schranke des kommunistischen Aufbruchs, die wir – wenngleich weniger zugespitzt – in allen Revolutionen dieses Jahrhunderts wiederfinden werden. Guevara wird darauf in Bolivien stoßen und daran zugrunde gehen. Die Bruchstelle scheint im Auseinanderdriften des Blocks der sozialen Kräfte, die an der Revolution teilgenommen haben, und des Blocks der sozialen Kräfte des »sozialistischen Aufbaus« zu liegen. Dies gilt nicht nur für die UdSSR, sondern für alle Drittweltländer.

1917 hat Lenin tatsächlich die Unterstützung der Bauern, weil er ihnen Brot und Frieden verspricht und wirklich gibt. Dieses Vertrauen geht verloren, als zur Beschlagnahmung der Ernte übergegangen wird, um so mehr, als auf dem Land zwischen den geschätzten »Bolschewiki<< und den ungeliebten »jüdischen Kommunisten« unterschieden und nicht mehr hingenommen wird, die Stadt jenseits des Marktes zu ernähren. Das bäuerliche Kleineigentum steht nicht nur im theoretischen Widerspruch zum gesamten kommunistischen Projekt, sondern widerspricht den elementarsten Erfordernissen des Landes. Die Besteuerung führt zur Verweigerung. Lenin antwortet mit der »Neuen Ökonomischen Politik«, dem teilweisen Rückzug auf den ungleichen Mechanismus von Eigentum und Markt, der zu einer gewissen Belebung der Landwirtschaft und des Kleinhandels führt. Ungleicher Zugang zu den Gütern erscheint den Massen akzeptabler als Beschlagnahmung und Umverteilung. Man laviert zwischen Notwendigkeit und Utopie.

Stalin löst das Problem mit der forcierten Kollektivierung: keinerlei Versuch von vorübergehenden Kompromissen, Waffenstillstand, Konsens. Der rebellierende Geist verwandelt sich in die Fratze des Gegners, und man kann sie fortan nicht mehr unterscheiden. Die Deportationen verursachen fünf bis sechs Millionen Tote (fünf für Margolin im Anschluß an Farquhar, sechs Millionen für Werth auf der Basis der Untersuchungen auch von Andrea Graziosi). Man kann einer Bewertung mißtrauen, die um eine Million mehr oder weniger oszilliert. Man kann die Behauptung zurückweisen, das alles sei ein »von der Partei angeordnetes« Verbrechen gewesen. Entscheidend ist:

War es ein Verbrechen »im eigentlichen Sinne« oder die unvorhergesehene Konsequenz der beschleunigten Enteignung und der Agrarrevolution?

Das »Schwarzbuch« stigmatisiert die kommunistische Überlegenheit, aber der eigentlich ernstzunehmende Vorwurf besteht darin, daß die Kommunisten nicht fähig gewesen seien, auf die tatsächlichen Ereignisse, die alle Vorhersagen über den Haufen geworfen hätten, angemessen zu reagieren. Die Liberalen wissen eh, an wen sie sich zu halten haben: mehr schlecht als recht, der Markt machts. Wer daran nicht glaubt, für den ist die Frage der realen Machbarkeit das »Problem« Nummer eins. Aber wo setzt man an? Gegen die Arbeiter an sich hat es keinen Krieg gegeben. Aber Lenin liquidiert die Sowjets: Die Partei konzentriert sich mehr auf die Militarisierung der Arbeit als auf ihre Selbstverwaltung. Der Waffenstillstand verwandelt sich in »einen ungleichen Tausch« zwischen Sowjetregierung und Arbeiterklasse, machtlos aber vollbeschäftigt, mit einer gewissen Mobilität, realen Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, Zugangsmöglichkeiten zu soziokulturellen Gütern und Dienstleistungen. Das stille Übereinkommen dauert partiell an. Doch hätte man eine moderne und verteidigungsfähige Industrie aufbauen können durch bloße Addition der einzelnen Teile des alten produktiven Apparats?

Ideologie und historische Situation spielten gegen die Räte, für den Plan und das Kommandowesen von oben. In letzter Instanz verweist uns die Repression auf die Frage nach den Voraussetzungen. dem »Reifegrad« einer kommunistischen Revolution. Dazu reicht es nicht aus, daß die alten Eigentums und Staatsstrukturen quasi zum Pflücken frei liegen, sondern daß sie voll ausgereift sind und vor allem ein neues politisches System installiert werden kann. Damit ist nicht gesagt, daß das Bündnis mit den Sozialrevolutionären entscheidend gewesen wäre. An diesem Punkt präsentiert das russische Experiment seine offene Rechnung. das eigentliche Dilemma, das die Führungsgruppe der Bolschewiki nicht in den Griff bekam. Aus dem Nicht-Lösen dieses Problems erwächst die Repression. Daß sie erleichtert wird durch das Machtmonopol der Partei, das Fehlen eines Korrektivs auf der Verwaltungsebene, den Mangel an Meinungsfreiheit bzw. der Artikulation von Widerspruch, also insgesamt das, was wir »stalinistisches« System nennen, ist die aller einfachste Feststellung.

* * *

Der Diskurs über China scheint dies zu bestätigen. In China gibt es nichts, was mit der Tscheka und ihren Unterorganisationen vergleichbar ist (der von Margolin benannte Geheimdienst hatte niemals dessen Machtfülle). Die Kommunistische Partei frißt nicht ihre Kinder, der politische Kampf marginalisiert die Unterlegenen, läßt ihnen aber die Chance zur Rückkehr. Deng ist dafür das Paradebeispiel. Das Hauptopfer ist Peng Dehuai, berühmter Mitkämpfer des Langen Marsches, der den Großen Sprung ablehnt, 1967 festgenommen wird und 1974 im Gefängnis stirbt, wie nach der Kulturrevolution der alte Liu Shaoqi. Nur Lin Biao wurde erschossen, und das geheim. Zumindest eine Schlußfolgerung läßt sich ziehen:

Die physische Vernichtung des Volksfeindes war weder Teil der maoistischen Praxis noch ihrer Theorie. Die Repression bot keinen Raum für Massendeportationen, die Haftbedingungen untersagten Folter, das Gefängnissystem ist ausgeprägt, aber als Arbeits- und Umerziehungslager angelegt. Obwohl jegliche offiziellen Quellen fehlen, kann man dies behaupten.

Aber mehr noch als Werth gegen Lenin, ist Jean Louis Margolin gegen Mao eingeschworen. Er wirft ihm nicht nur vor, ein blutrünstiger, wenngleich visionärer Tyrann zu sein, und ein System zu errichten, das auf Basis der psychischen Unfreiheit alle zu Gefängnisinsassen macht, ausgehend von den beiden spezifischen Hauptlastern Maos : die Verdrehung der Realität auf dem irrealen Wege zum sofortigen Kommunismus, und der Weg der Indoktrination.

In der chinesischen Revolution sei die Gewalt nicht so ausgeprägt gewesen wie in der UdSSR, sagt Margolin. Der scharfe parteiinterne Konflikt der 20er und 30erJahre sei ein ihr nicht selbst zuzurechnendes Erbe. Die Greueltaten der Kuomintang und der japanischen Invasoren verleiten sie aber nicht zu vergleichbaren Missetaten. Die KP China wird die Bauern weder unterdrücken noch ihnen unzumutbare Steuern auferlegen, und sich dadurch vom sowjetischen Modell klar absetzen (ebenso, wie man 1957 – Margolin läßt es unerwähnt – mit dem »Diskurs über die zehn großen Beziehungen« in jeder Hinsicht davon Abstand nimmt). Was Mao befürwortet, ist der direkte, gewalttätige und hautnahe Kampf der Armen gegen die Herrschenden, auch gegen die weniger Armen, der Appell zum permanenten Kampf zwischen den sozialen Schichten, in der Überzeugung, daß diese Auseinandersetzung zugleich der Antrieb sei, die Waagschale stets zugunsten der Ärmsten, der Massen, unten zu halten gegen den permanenten Gegendruck der»Herrschenden<<.

* * *

Das chinesische System zeichnet sich also nicht aus durch die Zahl der Getöteten, die es gegeben hat. Aber die Köpfe wachsen nicht wie Kohl, sagt Mao. Offizielle und offiziöse Zahlen liegen nicht vor und Margolin macht keinen eigenen Versuch der Quantifizierung. Hingegen will er die Ausmaße der Umerziehungslager darlegen, vor allem auf Basis der persönlichen Erfahrungen von Jean Pasqualini, der dort sieben Jahre zubrachte, und anderer Dissidenten. Daß diese Umerziehung psychisch (Arbeitslager und dann noch Unterrichtung im >>Marxismus-Leninismus<<) und auch physisch in einem derart armen Land eine Qual gewesen sein muß, liegt auf der Hand. Die Umerziehung in den Arbeitslagern und die Indoktrination sind äußerst hart, sehr unangenehm ist auch der soziale Druck im System der »wechselseitigen Erziehung«. Die Zahl der Selbstmordfälle ist höher als in der UdSSR, es handelt sich nicht um massenhafte, aber dennoch signifikante Zahlen. Die Utopie vom neuen Menschen – wird abschließend gesagt – resultiert in einer gewalttätigen Utopie. Die Unterdrückung des Kapitals und der Machtstrukturen ist hingegen stumm, die ewige Ungleichheit auf Erden.

Liegt diese Gewalt in der marxistischen Tradition? Keinesfalls. Noch gibt es die Idee eines Pro letariats, der Massen, das als solches mit besonderer Tugend ausgestattet ist:

für Marx widerspiegelt die Arbeiterklasse das Elend ihres entfremdeten Daseins. Diese Heiligkeit des Armen oder Ausgestoßenen wird in tausend nachfolgenden Revolutionen ausbrechen, geprägt durch eine pädagogische Ethik, wie sie selbst die bolschewistischen Führungskader nicht vertraten. Der subjektivistische und ethische Elan des Maoismus ähnelt in vielem eher einigen Stimmungen von '68, denn Marxens Thesen. Es ist ein ethisches Gegengift gegen die prämodernen Machtgefüge, wo der Klassenkampf noch in seinen Kinderschuhen steckt. Aber warum den Drang nach einer Umwälzung der Gesellschaft von einem ethischen Antrieb abtrennen?

Margolins andere große Anklage gegen Mao betrifft das Konzept der Flucht nach vorne. Das erste Mal mit dem Großen Sprung von 1958 bis 1960. Daß dies eine Niederlage war, ist unbestritten: Die Maoisten haben es zugegeben, machen dafür »Naturkatastrophen, den plötzlichen Abbruch der sowjetischen Hilfeleistungen, unsere eigenen Fehler« verantwortlich. Für Margolin gab es keine außergewöhnlichen natürlichen Unbilden, der Rückzug der russischen Techniker und Hilfsgüter sei nebensächlich, der Hauptirrtum sei vielmehr die Beschleunigung des gegen Privateigentum und Markt gerichteten Programms gewesen, das Ende jeglicher privaten Dimension. Dadurch wurden die traditionell bescheidenen Ressourcen Chinas vollends verschüttet, ersten Erfolgen folgte eine gigantische Hungersnot, einigen Sachkennern zufolge die schlimmste des modernen China. Lassen wir diese Behauptung so stehen, sie ist nicht beweisbar. Die Zahlen jedenfalls sind schwindelerregend: Westlichen Quellen zufolge wurden – legt man demographische Daten zugrunde und rechnet die aus den statistisch am präzisesten erfaßten Provinzen vorliegenden Zahlen für das gesamte Gebiet hoch – zwischen 20 bis 43 Millionen Menschen Opfer der Hungersnot. Nach heutigen, nicht offiziellen, chinesischen Quellen etwa 20 Millionen Personen – in einem Land mit mehr als einer Milliarde Bewohnern sind das 1,5 bis 5% der Gesamtbevölkerung. Margolin sieht dies als Beleg für die wesentlich kriminelle Natur des Konzepts vom Großen Sprung. Die Frage nach der Kosten-Nutzen-Relation einer Radikalisierung ist auch für die Maoisten unausweichlich gewesen: für Mao sollte das Gleichgewicht in einem unaufhörlichen Auf und Ab der Bewegung der Massen gefunden werden, sich hochschaukelnd auf ein immer höheres Niveau. Bekanntlich hat das nicht funktioniert. Es sei denn, man denkt in Kategorien von zehntausend Jahren, was eine ganz nette, vielleicht sogar weise Vorstellung ist, aber sinnlos für ein Leben.

* * *

Die zweite Flucht nach vorn: die Kulturrevolution.

Auch hier redimensioniert das >>Schwarzbuch<< die Zahlen: statt von »vielen Millionen« Toten. wovon in den vergangenen Jahren stets die Rede war, spricht Margolin (und Jean Luc Domenach nicht weniger vorsichtig) nunmehr von vierhunderttausend bis einer Million Opfern – Opfern eher infolge gewalttätiger Auseinandersetzungen denn organisierter Repression. Dabei entsteht das Profil einer wesentlich urbanen und Studentenbewegung und der daraus hervorgehenden Widersprüche, wie es die Aussagen von Rotgardisten bezeugen. Mao hätte versucht, eine Minderheit von Höherqualifizierten zu lenken, die sich als nicht regierbar erwies. Ohne Vorbild in den kommunistischen Regimes wirbelte die Kulturrevolution Partei und System durcheinander, endete schließlich in dem extremen Bemühen, der Armee die Rolle des Schiedsrichters zwischen »Partei und Massen« zurückzugeben. Eine Armee ohne jegliches Vorbild, statt bewaffnetes Organ eher Mittel der ideologischen und zivilen Gesellschaftsformierung.

In Wahrheit ist China mit unserem Instrumentarium gar nicht erfaßbar. Auch nicht mit jenem des originellen Marxismus. Margolin muß sein Dilemma offen eingestehen: Seine Arbeit, obwohl absolut feindlich eingestellt, offenbart dennoch ein Problembewußtsein, das dem Beitrag von Werth abgeht. Gleiches gilt für die Kommunismen in Asien, hervorgegangen aus antiimperialistischen Kämpfen, militärischem Widerstand, untereinander ganz verschieden und alle bloße Schachfiguren, nachdem sie tapfer einen Krieg gewonnen haben. Entweder man opponiert wie Chomsky im Fall Kambodscha gegen das Fehlen einer vollständigen und unangreifbaren Dokumentation, sicherlich ein großes Verschulden, ein noch offenes Problem. Oder das Bedürfnis wird mehr als je zuvor wachsen, sich mit dem Problem der mächtigen Verschmelzung des Kommunismus mit den Befreiungsbewegungen in diesem Jahrhundert auseinanderzusetzen mit den vorhandenen Mitteln, ohne Ausweichmanöver, ohne Zögern. Es bleiben alles historische Ausnahmesituationen, deren Besonderheit und Dichte nicht einmal Bücher wie die von Hobsbawm einfangen können.


Der Text stammt aus der Sozialismus 7/8-98, die demnächst auch im Internet beheimatet sein wird.


nach oben
trend
Nr.7-8/1998