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Konferenz der DKP: "150
Jahre Manifest der Kommunistischen Partei"
Referat von Hans Heinz Holz
Das Kommunistische Manifest und die Sozialismusvorstellungen der DKP
gehalten am 21.2.1998
I
Der 150. Jahrestag der Entstehung des Kommunistischen Manifests ist
hinreichend Anlaß für eine kommunistische Partei, dieses Datums
zu gedenken. Das Manifest ist das Gründungsdokument der kommunistischen
Arbeiterbewegung. Natürlich gab es schon vorher eine utopische Theorie
des Kommunismus, gab es kommunistische Organisationen, die sich an den
utopischen Theorien mehr oder weniger orientierten. Erst das Manifest aber gab
diesen Bewegungen die programmatische Grundlage, auf der der Kampf um eine
von Ausbeutung und Unterdrückung freie Gesellschaft nicht nur von
subjektiv bedingten Wünschen und Zielen angetrieben, sondern aus der
Einsicht in die Gesetzlichkeit geschichtlicher Prozesse geführt werden
konnte. Mit dem Manifest beginnt eine neue Ära der Politik. Das Manifest
ist das Dokument des welthistorischen Übergangs von der Vorgeschichte der
Menschheit, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse sich hinter dem
Rücken der Menschen herstellen, zur Geschichte, in der die Menschen aus
Erkenntnis der und Möglichkeiten von Produktion und Reproduktion ihres
Lebens ihr Schicksal frei gestalten können. Hatte Hegel gesagt, die
Weltgeschichte sei der "Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit",
so schmiedet das Manifest nun den Schlüssel des Tores zur tatsächlichen
Freiheit. Seitdem wissen wir nicht nur, wofür sondern auch nach
welchen strategischen Regeln wir zu kämpfen haben. Grund genug, das
Manifest in Erinnerung zu behalten, es immer aufs neue in unserem Bewußtsein
zu verankern, nicht als eine Urkunde aus einer fernen Zeit, sondern als
einen Motor unseres Tuns und als ein Organon unseres Selbstverständnisses.
Wir Kommunisten sind kein Traditionsverein. Wenn wir das Manifest feiern,
dann geht es uns zwar auch um unsere Geschichte, die mit allen ihren Kämpfen,
Siegen und Niederlagen, Leistungen und Fehlern ein unverzichtbares Moment
unserer Identität ist; vor allem und vorrangig geht es uns aber um
unser Ziel, die Errichtung einer sozialistischen und dann kommunistischen
Gesellschaft. Darum fordert uns die Erinnerung an unser erstes
programmatisches Manifest heraus, die angestrebten Etappen unseres heutigen
Kampfes zu bestimmen. Kants drei Grundfragen "Was können wir
wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen?" lassen sich
auch für uns stellen. Wir spitzen sie allerdings in anderer Richtung
zu: Was wir wissen können, sagt uns der dialektische und historische
Materialismus, der wissenschaftliche Sozialismus als Theorie der Geschichte und
des Verhältnisses von Natur und Mensch, als Wissenschaft des
Gesamtzusammenhangs, in dessen Rahmen sich das Einzelne und Besondere einzufügen
haben, wenn wir keine fatalen Fehler machen wollen. Was wir tun sollen, hier
und jetzt und mit Blick auf die Zukunft der Menschheit, formulieren wir in
unserem Aktionsprogramm, das wir von Fall zu Fall den sich verändernden
Umständen, Kampfbedingungen und erreichten Zielen anpassen. Was wir hoffen
dürfen und worauf unser ganzes Tun sich richtet das ist der
Sozialismus als die erste Stufe auf dem Wege, der uns am Ende in die
kommunistische Gesellschaft führt, von der es im Manifest heißt: "
An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und
Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung
eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (MEW 4,
482).
II
Was dürfen wir hoffen, das heißt, was sollen wir als erstes
Etappenziel auf dem Weg zum Kommunismus erstreben? Wie kann und muß
eine sozialistische Gesellschaft beginnen, welche Schwierigkeiten und
Probleme werden sich ihr stellen? Den Rahmen einer allgemeinen Vorstellung
von Sozialismus zu entwerfen, ist gegenwärtig eine der theoretischen
Aufgaben, die sich die DKP gestellt hat. Ein Entwurf nach einer ersten
Diskussionsrunde bereits in überarbeiteter Fassung liegt vor und
wird von den Genossinnen und Genossen heftig und kontrovers diskutiert. Wir
hoffen, am Ende dieser Diskussionen wird eine aussagekräftige
Bestimmung des politischen Ziels der Partei, des Übergangs vom
Kapitalismus zum Sozialismus, gegeben werden können.
Man kann dem entgegenhalten, Ihr nehmt Euch mehr vor, als die Verfasser des
Manifest glaubten sagen zu dürfen. Aus gutem Grund haben Marx und
Engels keine ausgearbeiteten Vorstellungen über die Lebensweise und
gesellschaftlichen Organisationsformen im Kommunismus entwickelt. Ihnen genügte,
die allgemeinen Bedingungen anzugeben, unter denen nach Beseitigung
kapitalistischer Produktionsverhältnisse eine neue Stufe der
Menschheitsgeschichte beginnen sollte: Aufhebung des Privateigentums an den
gesellschaftlichen Produktionsmitteln und damit Aufhebung der Klassenspaltung.
Wie im einzelnen dieser Übergang sich vollziehen würde, könnte
nur aus der Analyse der konkreten historischen Umstände zu bestimmen
sein: wo, in welcher Phase des Verfalls des Kapitalismus und der Entwicklung
der Produktivkräfte, in Anknüpfung an welche kulturellen
Traditionen der Formationswechsel stattfinden würde. Das zu realisieren,
ist die politische Aufgabe derer, die in dieser Epoche leben und handeln
werden.
Eines war Marx und Engels klar: der Übergang würde nicht ohne Kämpfe
gehen und gegen den Widerstand der bisher herrschenden Klasse und ihrer
Gefolgsleute durchgesetzt werden müssen. Die Arbeiterklasse und ihre
Verbündeten brauchten darum, gestützt auf ihre Mehrheit,
politische Macht zum Aufbau der neuen Gesellschaft; dies nannten Marx und Engels
die Diktatur des Proletariats als die Form der politischen Machtverteilung,
die die Veränderung der Eigentumsverhältnisse garantieren sollte.
Der Beginn des Sozialismus würde die Übernahme der
Staatsfunktionen durch die Organe der Arbeiterklasse sein.
Allerdings haben Marx und Engels die ersten notwendigen "Maßregeln"
genannt: "Die ökonomisch unzureichend und unhaltbar erscheinen,
die aber im Lauf der Bewegung über sich selbst hinaustreiben und als
Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweisen unvermeidlich sind"
(MEW 4, 481). Das heißt, sie haben den vorläufigen Charakter von
Eingriffen in die bestehenden Verhältnisse beim Namen genannt vorläufigen
Eingriffen, die aber unerläßlich Schritte zur Einleitung des Übergangs
sind, wenn überhaupt die Veränderung der Gesellschaft in Gang
kommen soll. Wie das Sprichwort sagt: Rom ist nicht an einem Tag erbaut
worden. Es gibt keine Regel, nach der sich dieser Übergang in aller
Welt auf die selbe Weise vollziehen müßte. Im Gegenteil. Marx und
Engels betonen: "Diese Maßregeln werden natürlich je nach den
verschiedenen Ländern verschieden sein." (MEW 4,481). Was sie als
die ersten Schritte für die damals ,fortgeschrittensten Länder
ziemlich allgemein' nennen, entspricht einem aktuellen Aktionsprogramm des
Jahres 1848. Einiges möchte auch heute noch (oder wieder) gelten,
anderes ist durch die Veränderung des Kapitalismus in seinem
imperialistischen und heute staatsmonopolistischen (beschönigend
Neoliberalismus genannten) Stadium und durch die neuen Formen der
Produktionsmittel überholt. Aktionsprogramme und
Sozialismusvorstellungen sind verschiedene Dinge; sie haben andere historische
Bezugspunkte, einen anderen historischen Stellenwert. Man darf sie nicht
vermengen.
Genügt es also nicht, die allgemeinen und unverzichtbaren
Voraussetzungen für den Übergang zum Sozialismus zu wiederholen,
die schon Marx und Engels angegeben haben? Nämlich die Aufhebung des
privaten Eigentums an den Produktionsmitteln. Vergesellschaftung von Grund
und Boden, von Rohstoffen, von Kommunikationsinstrumenten, Verstaatlichung
des Kreditwesens, Herstellung echter Demokratie durch Sicherung der
Herrschaft des Volkes (der Allgemeininteressen) über Sonderinteressen und
gegen die Bestrebung konterrevolutionärer Wiederherstellung des
Kapitalismus, d.h. Diktatur des Proletariats. Darf eine kommunistische
Partei heute weiter ins Detail gehen angesichts der Tatsache, daß eine
sozialistische Revolution gewiß nicht nahe bevorstehend ist, und sich
bis zum Eintritt des Übergangs noch mancherlei in der
wissenschaftlich-technischen Umwelt und in der weltweiten Organisation der
Kapitalmacht ändern wird.
Es gab 70 Jahre lang eine sozialistische Sowjetunion, mehr als 40 Jahre ein
sozialistisches Gesellschaftssystem in Osteuropa. Die Systemkonkurrenz
zwischen Kapitalismus und Sozialismus war die weltpolitische Struktur der
Epoche seit der Oktoberrevolution. In dieser Systemkonkurrenz hatten die
sozialistischen Länder von vornherein den Nachteil des niedrigeren
Entwicklungsstandes, der geringeren Ausbildung gesellschaftlicher
Institutionen, wie sie von den bürgerlichen Revolutionen des 18.
Jahrhunderts in Westeuropa und Nordamerika erkämpft worden waren, der
Behinderungen und Zerstörungen durch militärische Bedrohung und Überfälle.
Sie hatten den Vorzug, all ihre gesellschaftlichen Kräfte für das
allgemeine Ziel einsetzen zu können, "vermittels der
gesellschaftlichen Produktion allen Gesellschaftsgliedern eine Existenz zu
sichern, die nicht nur materiell vollkommen ausreichend ist und von Tag zu Tag
reicher wird, sondern die ihnen auch die vollständige freie Ausbildung
und Betätigung ihrer körperlichen und geistigen Anlagen garantiert"
(MEW 19, 226). Die sozialistischen Gesellschaften haben in dieser
Systemkonkurrenz Unvergleichliches geleistet. Sie sind zum Schluß
unterlegen.
Es ist hier nicht der Ort, um auf die vielfachen Gründe dieser
Niederlage einzugehen; das ist an anderer Stelle geschehen. Aus dem 70 Jahre
dauernden und schließlich gescheiterten Bemühen, eine
sozialistische Gesellschaft mit dem Ziel des Kommunismus in der Sowjetunion
und in Osteuropa aufzubauen, folgern die Gegner des Sozialismus dessen
historische Unmöglichkeit; sie führen vor allem jene Fehler und Mängel
ins Feld, die aus besonderen Ausgangsbedingungen der Oktoberrevolution
hervorgegangen sind und verallgemeinern diese negativen Erfahrungen.
Kommunisten, die am Ziel des Sozialismus als der historischen Alternative
zum Kapitalismus festhalten, geraten daher in die Lage, für die
Entwicklungsperiode der Ablösung des Kapitalismus und des beginnenden
Aufbau des Sozialismus inhaltlich bestimmtere Aussagen zu machen, als dies
die Klassiker taten. Da dieser Übergang sich nur auf der Basis einer
breiten und durchaus nicht gesamthaft kommunistischen Bevölkerung
vollziehen kann, wird von Kommunisten erwartet, daß sie sagen, wie sie
ihre eigene Stellung und Funktion in diesem Übergangsprozeß und im
Bündnis mit anderen fortschrittlichen Kräften verstehen. Der Hinweis
auf die allgemeinen geschichtlichen Entwicklungsgesetze reicht nicht mehr
aus. Menschen, die sich für uns entscheiden sollen und wollen, haben
angesichts offenkundiger Mängel beim ersten Aufbau des Sozialismus ein
Recht zu fragen, wie es beim nächsten aussehen soll und besser gemacht
werden kann.
III
Wir brauchen diese Fragen nicht zu scheuen. Gerade die DKP hat in diesem
Deutschland, das einmal aus zwei Staaten mit den verschiedenen
Gesellschaftssystemen bestand und durch einen Eroberungsakt vereinigt wurde,
einen einmaligen Erfahrungsschatz. Die Genossen und Genossinnen in
Westdeutschland kennen seit 1945 die Entwicklung des modernsten Kapitalismus
von innen und die Formen des politischen Kampfes in diesem System; die
Genossinnen und Genossen in Ostdeutschland haben 40 Jahre sozialistischer
Aufbauarbeit, ihrer Erfolge, ihrer Fehlschläge, ihrer Deformation
hinter sich, und kennen das Lebensgefühl, die Lebensweise in einer sich
entwickelnden sozialistischen Gesellschaft. Wer in Deutschland vom
Sozialismus spricht, muß auch von der DDR sprechen, und von den
Erfahrungen. die die Menschen in der DDR gemacht haben.
Es ist sicher nicht leicht, im nur formell geeinten Deutschland davon ein
Bild zu vermitteln, 40 Jahre lang ist die DDR in der BRD ein Gegenstand
dauernder publizistischer Hetze gewesen, die nahtlos an den Antikommunismus
der Nazis anschloß. Das hat tiefe Spuren im öffentlichen Bewußtsein
hinterlassen. Das Mißtrauen gegen die Gesellschafts- und Staatsform
der DDR ist im Westen ungeheuer groß. Andererseits haben Sozialisten aus
Solidarität oder Utopismus tatsächlich bestehende Mängel in der
DDR nicht sehen wollen; sie wurden durch die Ereignisse der "Wende"
und danach enttäuscht und in dieser Enttäuschung durch den
Opportunismus der "Wendehälse" bestärkt. (Man darf auch
nicht verschweigen, daß es, besonders auch in den Wissenschaften, eine
rechthaberische Bevormundung der in Westdeutschland kämpfenden Genossen
durch dogmatische DDR-Kollegen gab, die in mißmutiger Erinnerung
geblieben ist. Doch das alles sollte unter Kommunisten nicht zu Verständigungsschwierigkeiten
führen!) So gibt es Hindernisse für die gerechte Beurteilung und
Aneignung der Leistungen, die mit dem Aufbau des Sozialismus in der DDR
verbunden waren, der Erfolge in der Systemveränderung, die errungen wurden.
Ich erinnere mich an einen umfangreichen Sammelband Marburger Politologen
und Soziologen, "Systemvergleich BRD DDR" (1971), in dem
die DDR keineswegs schlechter weg kam als die BRD. Auf Einzelheiten gehe ich
nicht ein; die können von DDR-Bürgern besser dargestellt werden
als von einem Westdeutschen. Nur prinzipiell möchte ich sagen: wer
immer darüber nachdenkt, wie der Übergang von einer kapitalistischen
zu einer sozialistischen Ökonomie vollzogen werden könne, wird
eine genaue Analyse der Entwicklungsphasen der DDR, der da gemachten
Erfahrungen, und der theoretischen Reflexionen der DDR-Ökonomen
vornehmen müssen; die sozialistischen Planer waren mit Realitäten
konfrontiert, die sicher in einem zukünftigen Sozialismus nicht die
gleichen sein werden, aber doch näher daran, als alles abstrakte
Wunschdenken. Ohne Analogien gibt es keine geschichtliche Erkenntnis.
IV
Im Kommunistischen Manifest haben Marx und Engels sich die Zeit des Übergangs
zum Kommunismus noch ziemlich kurz vorgestellt. Schon beim Nachdenken über
die Pariser Commune haben sich ihre Zeiterwartungen verändert. Die
historischen Erfahrungen mit den erfolgreichen sozialistischen Revolutionen,
der Oktoberrevolution in der Sowjetunion, der Begründung der
Volksrepublik China, dem Sieg der revolutionären Befreiungskämpfe in
Kuba und in Vietnam haben gezeigt, daß zwischen dem erfolgreichen
Abschluß des revolutionären Kampfes, also der Eroberung der
politischen Macht, und der Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung eine
lang zu bemessende Übergangsphase liegt. Mit der Übernahme der
politischen Macht durch die Arbeiterklasse und der Veränderung der
grundlegenden also der Verstaatlichung der großen Industrie und der
Finanzinstitute, sowie der Bodenreform ist die Formationsspezifik der
kapitalistischen Gesellschaft gebrochen, der Sozialismus als Anfang einer
neuen Gesellschaftsform hat begonnen. Aber das heißt nicht, daß
die bürgerliche Gesellschaft als Ganzes bereits überwunden ist,
denn diese besteht aus vielen Elementen ökonomischer, institutioneller,
menschlicher Vergesellschaftungsprozesse, nicht zuletzt aus lang dauernden
Lebenseinstellungen, Werthaltungen, Bewußtseinsformen, die nicht einfach
"abgeschafft" werden können, wie ein Parkverbot oder das Gebet
vor der Mahlzeit.
Die Übergangsphase vom Kapitalismus zum Kommunismus ist als solche eine
relativ selbständige gesellschaftliche Struktur, die in dauernder Veränderung
tendenziell zur Verwirklichung des Kommunismus, aber mit den Widersprüchen
des Übergangs und der noch nicht vollendeten Aufhebung der
Klassenunterschiede begriffen ist. Sie ist also, formationslogisch,
die erste Phase der geschichtlichen Ära des Kommunismus, aber
keineswegs verwirklichter Kommunismus, und in ihren Anfängen noch nicht
einmal wirklich verwirklichter Sozialismus. Gesellschaftsformationen darf
man sich ja nicht als in sich geschlossene und gegeneinander genau
abgrenzbare Einheiten vorstellen, sondern muß sie als
Entwicklungsprozesse denken, die um den Kern zentraler Bestimmungsmomente der
Produktionsverhältnisse statthaben.
Der beginnende Sozialismus wird unter anderem durch folgende Merkmale
bestimmt sein:
- Im Sozialismus werden zunächst weiterhin Klassen bestehen; die
klassenlose Gesellschaft entsteht erst am Ende dieses Prozesses und Ist
bereits der Anfang des Kommunismus ist die Fortexistenz von Klassen
bedeutet auch, daß es Klassengegensätze und
Klassenauseinandersetzungen geben wird, die voraussichtlich durch Einfluß
von außen verschärft werden, solange es noch kapitalistische
Staaten neben sozialistischen in der Welt gibt.
- Die Entwicklung einer gesamtgesellschaftlichen Bewußtseinslage, die
die sozialistische Lebensweise In einer allgemeinen Lebenseinstellung
oder "Jedermannsphilosophie (Gramsci) spiegelt, wird langsamer vor
sich gehen als die institutionellen Veränderungen; es gibt ein
zeitliches Zurückbleiben des Bewußtseins und von Teilbereichen der
Weltanschauung gegenüber dem Fortschritt in den Produktionsverhältnissen.
- Während die allgemeine Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung auf
den Ausbau des Sozialismus ausgerichtet ist, wird es aus den unter 1 und
2 genannten Gründen auch Gegenströmungen geben, die den
Fortschritt verzögern oder gar frühere Zustände
wiederherstellen wollen.
- Der sozialistische Staat, aus einem Bündnis der Klassen
hervorgegangen, die sich zur Überwindung des Kapitalismus
zusammengetan haben, wird einen Klassenkompromiß zu vollstrecken
haben. Diese seine Funktion wird sich auch in seinen Institutionen
niederschlagen. Der sozialistische Staat ist der Ort, an dem der Widerspruch
zwischen dem Fortschritt im Allgemeininteresse und der Verteidigung von
Sonderinteressen (möglichst nicht-antagonistisch, d.h. mit geringem
Konfliktpotential) ausgetragen wird. Daraus folgt, daß die
Kommunistische Partei nicht Staatspartei ist, sondern den fortschrittlichsten
Teil des Staatsvolks in sich vereinigt.
- Da nicht anzunehmen ist, daß der Sozialismus gleichzeitig überall
in der Welt verwirklicht wird, muß international von der
Koexistenz zweier Gesellschaftssysteme ausgegangen werden. Aber auch der
Entwicklungsstand der sozialistischen Länder wird nicht einheitlich
sein. Man muß also mit einer vielfältig differenzierten
Weltgesellschaft rechnen, die nicht automatisch von solidarischen
Interessen gelenkt wird. Kommunistischer lnternationalismus und
staatliche Belange eines sozialistischen Staates sind nicht ohne
weiteres und nicht immer gleichzusetzen. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß
wir mit allem Nachdruck formulieren können: der Sozialismus beginnt
mit der Enteignung der in privater Hand befindlichen Produktionsmittel
und Kapitalien, soweit sie für die Produktionsverhältnisse ökonomisch
und politisch ausschlaggebend sind. Um diesen Kern gesellschaftlichen
Eigentums wird er schrittweise weiter ausgebaut. Welche Schritte in
einer Übergangsphase die erstmöglichen sind, ist nicht
prognostizierbar. Das hängt von der tatsächlichen Ausgangslage
ab, das heißt, vom ökonomischen Entwicklungsstand, von den
bestehenden Kommunikationsstrukturen, von den Machtverhältnissen, von den
mit Bündnispartnern einzugehenden Kompromissen.
Selbstverständlich gehören zu den ersten Schritten, die den
Sozialismus einleiten, neben der grundlegenden Veränderung in den
Eigentumsverhältnissen und dem damit verbundenen Aufbau einer
rationalen Nutzung des gesellschaftlichen Reichtums durch eine globale
Wirtschaftsplanung die elementaren sozialpolitischen Maßnahmen, die der
unmittelbaren Hebung des Lebensstandards der Menschen dienen. Auf diesen Aspekt
hat der DKP-Entwurf besonderen Wert gelegt. Recht auf Arbeit, Wohnung,
Bildung, Gesundheits- und Altersversorgung werden von Anfang an im
Sozialismus verfassungsmäßig gesichert sein.
V
Marx und Engels haben stets gesagt, daß der Übergang zum
Sozialismus und dessen Aufbau die Fortexistenz des Staats unter der
Hegemonie der Arbeiterklasse erforderlich macht. Der Staat wird nicht
einfach abgeschafft, sondern er wird allmählich absterben; das schreibt
Engels mit Marx' Einverständnis noch 1880 in "Die Entwicklung des
Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", also mehr als 30 Jahre nach
dem Manifest. Eine der zentralen Fragen wird daher sein, in welcher Weise
ein sozialistischer Staat verfassungsmäßig organisiert ist.
In westeuropäischer Tradition ist davon auszugehen, daß die
plurale Klassenstruktur und die noch nicht homogenisierten Interessenlagen
der verschiedenen Bevölkerungsteile sich in der Existenz von Parteien
ausdrücken und in ihnen und anderen gesellschaftlichen Organisationen,
wie Gewerkschaften, Frauenverbänden usw. ihre politische Organe finden.
Dabei ist das Modell des bürgerlichen Parlamentarismus sicher nicht die
geeignete und auf jeden Fall nicht die einzige Form gesellschaftlicher
Willensbildung und in großem Umfang durch dezentralisierte
Beteiligungsmodelle zu ergänzen: Arbeitermitbestimmung in den
Betrieben, örtliche Räte, Bürgerinitiativen, Konsultationsgremien
u. a. m. sind geeignet, die Bürger in die politische Verantwortung
einzubeziehen und Selbstbestimmung, die in jeder Massengesellschaft ja immer
nur über Vermittlungsvorgänge zu einer gesamtgesellschaftlichen
Politik werden kann, so zu verankern, daß sie von jedem als eine
Lebenswirklichkeit erfahren wird.
Die kommunistische Partei, die als die Kraft des gesellschaftlichen
Fortschritts zum Kommunismus an der vordersten Front der Geschichte steht
und darum nie mit dem bereits ins sozialistischen Staat jeweils Erreichten
zufrieden sein darf das ist es, was Ihre Avantgarde-Rolle ausmacht
wird mit der Doppelfunktion zurechtkommen müssen, zugleich als führende
Kraft des Staats im Bündnis mit anderen Parteien und Gruppen zu
fungieren und die Instanz dauernder Kritik dieses Staat in seinem jeweiligen
Zustand und treibende Kraft des Weiterschreitens zu sein. Um diese
Doppelrolle ausüben zu können, sollten die Parteifunktionen
personell getrennt sein von den Staatsämtern, die die Partei besetzt.
Daß dies eine Frage der Stärke der Partei ist, liegt auf der Hand.
Die Partei wird jedoch um so stärker sein, je deutlicher sie ihre
Aufgaben als Partei von ihren Aufgaben als Teil der Staatsmacht zu
unterscheiden vermag.
Der Aufbau des Sozialismus unter Beteiligung einer Mehrheit der Bevölkerung
schließt eine fortlaufende Bewußtseinsentwicklung ein. Die
Herausbildung einer Kultur mit neuen Lebenszielen und Wertorientierungen ist
ein unerläßlicher Bestandteil sozialistischer Politik. Das ist
kein Prozeß der Erziehung, in dem es Erzieher und zu Erziehende gibt,
sondern das Ergebnis einer gemeinsamen Veränderung der Lebensweise. Die
Bewußtseinsveränderung wird immer länger dauern als die Veränderung
der materiellen Basis, und sie setzt diese voraus, sonst entsteht eine
forcierte Willensanstrengung, die für kurze Zeit möglich und
sinnvoll sein kann, aber auf längere Zeit nicht durchzuhalten ist.
Subjektivismus und Voluntarismus haben keine historische Perspektive.
Abschließend: Der Übergang zum Sozialismus und der Aufbau des
Sozialismus als Weg zum Kommunismus ist ein Prozeß mit zahlreichen
Variablen und einigen Konstanten, an denen nicht gerüttelt werden kann,
wenn es Sozialismus sein soll. Die Konstanten müssen mit aller
Deutlichkeit und kompromißlos benannt werden. Die Variablen festlegen zu
wollen, wäre ein Mangel an historisch materialistischer Offenheit und
ein politischer Fehler. Diese Erkenntnis von Marx und Engels, die den
wissenschaftlichen vom utopischen Sozialismus unterscheidet, werden wir
nicht preisgeben dürfen. |