Von der Organisations- zur Programmdebatte
Skizzen über Theorie, Praxis und Programm
Antworten(*) an Detlev Georgia Schulze (Teil 1)

von Karl-Heinz Schubert

7-8/11

trend
onlinezeitung

In den letzten Wochen zeigten sich erste Konturen eines Übergangs  - gerade auch durch die seriösen Beiträge von Detlev Georgia Schulze –  von der durch die SchönebergerInnen angestoßenen Organisationsdebatte hin zu einer Debatte über programmatische Grundfragen. In diesem Kontext richtete Detlev Georgia Schulze auch Fragen an mich, auf die ich im Folgenden eingehen möchte.

Beginnen möchte ich mit einer Feststellung des Genossen Schulze über die K-Gruppen, die sich ganz am Ende seines Aufsatzes in der Fußnote 2 befindet. Dort heißt es mit Bezug auf meine Feststellungen im Hinblick auf die voluntaristische Transformation der 68er Bewegung in proletarisch-revolutionäre Organisationen:

Redaktionelle Hinweise

Wir veröffentlichten in der Märzausgabe einen Beitrag der
„Sozialistische Initiative Berlin-Schöneberg“ zur Gründung einer antikapitalistischen Organisation. Darüber entwickelte sich eine Debatte, die durch das TREND TEACH IN ihren ersten Bilanzpunkt erfuhr. Die Statements wurden in der Juniausgabe des TREND veröffentlicht. Weitere in der aktuellen Sommerausgabe 7-8/11

Die "SchönebergerInnen" haben mittlerweile einen Blog eröffnet, der ebenfalls  die Debatte begleitet.

Erfreulicherweise - angestoßen durch Robert Schlossers Beitrag - scheint sich nun in der 2. Juli-Hälfte die Organisationsdebatte in eine Programmdebatte zu transformieren.

„Die negativen Erfahrungen mit KPD/ML, KPD/AO und KBW sind gemacht. Die besseren mit KB und GIM sind ebenfalls bekannt, und all dies ist – jedenfalls teilweise – wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Warum sollte es nicht möglich sein, daraus etwas Neueres und Besseres zu machen?“

Es steht außer Zweifel, dass es ein umfängliches Schrifttum über Bedeutung, Niedergang und Fehler der K-Gruppen, sowie persönliche und literarische Verarbeitungen der mit ihnen gemachten persönlichen Erfahrungen gibt. Doch die darin angesammelten Erkenntnisse halte ich nicht für „zielführend“, wie sich die „SchönebergerInnen“ auszudrücken pflegen, weil sie einen anderen Zweck verfolgen, als den der unsere Debatte bestimmen sollte.

Oder anders ausgedrückt: Zu den programmatischen Grundlagen ( „Leitplanken“) gehört die Bilanz der eigenen Organisationsgeschichte ebenso wie ein durch eigene Analysen fundiertes Verständnis der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung inklusive des Scheiterns des realexistierenden Sozialismus. Denn, wer Menschen für eine „anti-kapitalistische“ Perspektive gewinnen will, die über den Klassenhorizont des Kapitalismus hinausreicht, der sollte bitteschön in Umrissen sagen können, wie der politische Weg dorthin aussieht, und  welcher, aufgrund der bisherigen historischen Erfahrungen,  nicht gegangen werden sollte, weil dann nämlich die Erreichung des Ziels - Aufhebung des Kapitalismus - zum Scheitern verurteilt wäre. (1)

Und damit zurück zu Genossen Schulzes Frage. Dazu Gegenfragen: Was heißt denn „Neueres und Besseres“ im Hinblick auf die Programmdebatte, wie sie von diesen K-Gruppen geführt wurde bzw. was war Deiner Meinung nach so negativ? Schließlich war die Programmfrage ihr theoretischer Dauerbrenner, der ein letztes Mal bei der Vereinigung von KPD(ML) und trotzkistischer GIM 1986 zur VSP aufflackerte, die sich vier Jahre später in die PDS auflöste. Allein die Gründungszirkel des KBW diskutierten drei Jahre lang hauptseitig Programmfragen bevor sie 1973, ihre Organisation gründeten, mit der eine Partei für alle KommunistInnen – also zusammen mit den anderen K-Gruppen - geschaffen werden sollte.

War die Herangehensweise an die Programmfrage des KBW richtig bezogen auf die damaligen Klassenverhältnisse in der BRD? Was war mit der Mitttelklasse gemeint? Warum sollte sie die neue Bündnispartnerin des Proletariats sein? Entsprach die politische Praxis des KBW dieser klassenanalytischen Einschätzung? Warum teilten die KBW-GenossInnen das Programm in einen Prinzipien- und in einen Aktionsteil (siehe Kasten)? Wie entstanden die anderen Programme der K-Gruppen, von denen heute noch zwei existieren. DKP und MLPD. Was hältst Du Genosse Schulze von deren Programmen? Warum sind sie Dir keine Richtschnur sowohl im Sinne von Zustimmung als auch von Ablehnung? Warum können/sollen die revolutionären Zirkel nicht in diesen beiden Parteien aufgehen? Ja – schlussendlich: Muss die neue antikapitalistische Organisation überhaupt die Form einer politischen Partei haben oder spricht die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung nicht ein vernichtendes Urteil über diese Organisationsform?

Solchen Fragen möchte Genosse Schulze vermutlich nicht nachgehen, denn er stellt sich die Arbeit am Programm folgendermaßen vor:

„Diese Texte [die Programme der diskutierenden Zirkel – khs] müßten kollektiv – auf Unterschiede, Übereinstimmungen und Leerstellen – mit einander verglichen werden und dann ein neuer gemeinsamer Text geschrieben werden.“

Arbeit am Programm als Textexegese zur Erfüllung einer zuvor bekundeten Willenserklärung. Mit dieser Methode (2) wurde die kurze Zeit später kläglich gescheiterte VSP gegründet. GIM und KPD(ML) wollten die Klassenwirklichkeit nicht durch praktische Interventionen und deren Verallgemeinerungen analysieren, sondern unbedingt viele Schnittstellen in den jeweiligen Grundlagenpapieren ihres Zirkels finden, damit ihre Vereinigung endlich vollzogen werden konnte. Kritiker dieses Voluntarismus kommentierten damals:

Aus dem Gründungsprogramm des Kommunistischen Bundes Westdeutschland 1973

Die westdeutschen Kommunisten, die den Kampf um die soziale Revolution führen, lehnen den Kampf um Reformen nicht ab und unterstützen alle Bewegungen, die diesen Kampf aufnehmen,, Sie kämpfen aber nur für eine solche Besserung der Lage der Arbeiterklasse, die ihre Fähigkeit, den Klassenkampf zu führen, erhöht. Sie lehnen daher entschieden alle jene Reformpläne ab, die auf Förderung der Zusammenarbeit mit den Ausbeutern oder auf eine Erweiterung der polizeilichbürokratischen Bevormundung der werktätigen Klassen hinauslaufen. Um die Arbeiterklasse und die übrigen Lohnabhängigen vor körperlicher und geistiger Degradation zu bewahren und um sie besser zu befähigen, den Kampf um die sozialistische Revolution zu führen, fordern die westdeutschen Kommunisten heute:

  • Beschränkung des Arbeitstages auf 7 Stunden an 5 Wochentagen. Völliges Verbot der Überstundenarbeit
  • Für Jugendliche unter 18 Jahren Beschränkung des Arbeitstages auf 6 Stunden.
  • Verbot der Akkordarbeit und aller akkordähnlichen Lohnsysteme.
  • Verbot der Nacht- und Schichtarbeit in allen Zweigen der Volkswirtschaft, mit Ausnahme jener, in denen sie aus technischen, von den Gewerkschaftsorganisationen gebilligten Gründen unbedingt notwendig sind, jedoch unter der Bedingung, daß die Nachtarbeit 4 Stunden nicht übersteigt.
  • 8 Wochen bezahlter Urlaub im Jahr.
  • Beschränkung aller gesetzlichen Einschränkungen der Rechte der Betriebs- und Personalräte sowie der Jugendvertreter, die gewählt werden auf der Grundlage freier gewerkschaftlicher und politischer Betätigung im Betrieb für jeden Lohn-abhängigen» Einjährige reguläre Wahlperiode und jederzeitige Abwählbarkeit. Freie Betätigung der Betriebs- und Personalräte sowie der Jugendvertreter bei der Durchführung von Arbeitskämpfen,, Unkündbarkeit, Beseitigung der Friedensund Schweigepflicht, der Pflicht zur Zusammenarbeit mit den Kapitalisten und der Verpflichtung auf das Betriebswohl.
  • Übergabe der Kontrolle über die Sicherheit der Belegschaft und über das betriebliche Gesundheitswesen an den Betriebs- bzw. Personalrat. Überbetriebliche Überwachung des Arbeitsschutzes durch die Gewerkschaften und die selbstverwalteten Sozialversicherungen. Auswahl und Einstellung des gesamten Sicherheits- und Sanitätspersonals ausschließlich durch den Betriebs- bzw. Personalrat Bestreitung der Kosten durch die Kapitalisten; sofern es sich um staatliche Betriebe oder Einrichtungen handelt, durch den Staat.
  • Verbesserte Sozialversicherung für alle Lohnabhängigen — einheitliche Versicherung für alle Lohnabhängigen.
  • vollständiger Schutz für alle Arten des Verlustes oder der Minderung der Arbeitsfähigkeit durch Krankheit, Unfall, Invalidität, Alter, Mutterschaft und für den Fall der Arbeitslosigkeit.
  • Herabsetzung des Rentenalters auf 50 Jahre bei Frauen, 55 Jahre bei Männern.
  • Erhöhung der Renten auf mindestens 75 % eines Facharbeiterlohns; regelmäßige und gleichzeitige Erhöhung der Renten mit den Löhnen.
  • Zahlung eines Arbeitslosengeldes von mindestens 80 % des Lohns für die gesamte Dauer der Arbeitslosigkeit.
  • Unentgeltliche ärztliche Hilfe und Versorgung mit allen Arzneimitteln. Übertragung des Gesundheitswesens an eine sich selbst verwaltende Krankenkasse, deren Leitung von den versicherten Lohnabhängigen gewählt wird.
  • Bestreitung aller Versicherungskosten ausschließlich durch die Kapitalisten; sofern es sich um Lohnabhängige in staatlichen Betrieben oder Einrichtungen handelt, durch den Staat.
  • Vollständige Selbstverwaltung der Versicherten in allen Versicherungsinstitutionen.
  • Verbot von Frauenarbeit an allen Arbeitsplätzen, an denen die Arbeit für den weiblichen Organismus schädlich ist. Freistellung der Frau von der Arbeit für die Dauer von 12 Wochen vor und nach der Niederkunft, bei anschließender Freistellung eines Elternteils für die Dauer von 15 Monaten; Fortzahlung des vollen Lohnes durch die Versicherungen bei unentgeltlicher ärztlicher Hilfe und Versorgung mit Arzneimitteln. Der Arbeitsplatz muß wieder zur Verfügung gestellt werden. Einrichtung von unentgeltlichen Krippen und Kindergärten unter der Kontrolle des Betriebsrats an allen Arbeitsstätten. Möglichkeit zur ausreichenden Betreuung der Kinder während der Arbeitszeit durch den dort arbeitenden Elternteil bei Verkürzung seines Arbeitstages auf 6 Stunden. Zusätzlicher bezahlter Urlaub für einen Elternteil für die gesamte Dauer der Krankheit ihrer Kinder.
  • Umwandlung der Arbeitsämter aus staatlichen Einrichtungen in Einrichtungen, die ausschließlich von den Lohnabhängigen selbst verwaltet und aus dem Versicherungsfonds unterhalten werden.
„Eine Programmdebatte, die keine theoretischen Fragen aufwirft oder zu klären versucht, die stattdessen Formulierungen und Verfahrenswege sucht, vorhandene differente Auffassungen mit Kompromissformulierungen zu verbergen, setzt eine grundlegende Übereinstimmung bereits voraus. Sie schafft die Einheit nicht, sondern gibt einer bereits vorhandenen Übereinstimmung mit einem gemeinsamen Programm nur den äußeren formalen Rahmen. Genau dies trifft auf den Programmentwurf von KPD und GIM zu. Daher der Optimismus seiner Urheber, trotz des Wissens um seine theoretische wie politische Dürftigkeit. Mit der Verabschiedung dieses Entwurfs hat man dann endlich der Form genüge getan und kann sich der Verwirklichung der tatsächlichen Gemeinsamkelten in der politischen Praxis widmen.“ (3)

Zur russischen Parteigeschichte

In seinem 1. Punkt unter "Die Aufgabe einer revolutionären Organisation" stellt Genosse Schulze fest:

"Karl-Heinz Schubert führt leider nicht aus, was in diesen 20 Jahren Parteibildungsprozeß in Rußland alles geleistet wurde und was davon seines Erachtens in BRD heute erst noch zu leisten ist. – Aber lassen wir auch diese Frage beiseite."

Warum sollten wir die Frage beiseite lassen? Ist dieser Punkt doch zentral für meine Kritik am "Schöneberger Papier".

Zunächst möchte ich daran erinnern, dass ich ganz grundsätzlich und nicht allein bezogen auf den russischen Weg festgestellt hatte:

"Dass der Parteibildungsprozess in den jeweiligen historischen Abschnitten und Ländern, seit dem es die Selbstorganisierung der proletarischen Klasse gibt, geschuldet den jeweiligen Klassenkampfbedingungen konkret anders verlief (z. B. SPD vor 1875, KPD 1918,  KPI oder KPE vor 1921) , ändert nichts an der Tatsache, dass dem Parteiaufbau diese Konsolidierungsphase grundsätzlich vorangeht." 

Zum russischen Parteibildungsprozess schrieb ich:

"Die Parteivorgeschichte vermittelt, dass Parteibildung kein formal-organisatorischer Akt ist, sondern im Kern bedeutet, dass relevante Teile des Proletariats beginnen, für die eigene Klasse Partei zu ergreifen und sich dabei auf den wissenschaftlichen Sozialismus beziehen."

Dazu Lenin in "Was tun?" im Februar 1902:

"Die Geschichte der russischen Sozialdemokratie zerfällt klar erkennbar in drei Perioden. Die erste Periode umfaßt etwa zehn Jahre, ungefähr die Jahre 1884 bis 1894. Das war die Periode, in der die Theorie und das Programm der Sozialdemokratie entstanden und sich konsolidierten. Die Zahl der Anhänger der neuen Richtung in Rußland konnte an den Fingern abgezählt werden. Die Sozialdemokratie existierte ohne Arbeiterbewegung und machte als politische Partei den Prozeß ihrer embryonalen Entwicklung durch. Die zweite Periode umfaßt drei bis vier Jahre, 1894 bis 1898. Die Sozialdemokratie tritt in Erscheinung als gesellschaftliche Bewegung, als Aufschwung der Volksmassen, als politische Partei. Das ist die Periode der Kindheit und des Knabenalters. Mit der Geschwindigkeit einer Epidemie verbreitet sich unter den Intellektuellen eine allgemeine Begeisterung für den Kampf gegen die Volkstümlerrichtung, ein allgemeiner Drang, zu den Arbeitern zu gehen, und unter den Arbeitern eine allgemeine Begeisterung für Streiks....Die dritte Periode wird, wie wir gesehen haben, im Jahre 1897 vorbereitet und löst im Jahre 1898 (1898-?) die zweite Periode endgültig ab. Das ist die Periode der Zerfahrenheit, des Zerfalls, der Schwankungen....der wissenschaftliche Sozialismus hörte auf, eine einheitliche revolutionäre Theorie zu sein, und wurde zu einem Mischmasch, der nach „freiem Ermessen“ mit Banalitäten aus jedem neuen deutschen Lehrbuch verwässert wurde; die Losung „Klassenkampf“ gab nicht den Anstoß zu einer immer breiter und immer energischer werdenden Tätigkeit, sondern diente als Beruhigungsmittel, da ja „der ökonomische Kampf untrennbar mit dem politischen verbunden ist“ die Idee der Partei diente nicht als Aufforderung zur Gründung einer Kampforganisation der Revolutionäre, sondern rechtfertigte einen „revolutionären Kanzleibürokratismus“ und ein kindisches Spiel mit „demokratischen“ Formen." (LW 5, S. 538ff)

1898, das was das Jahr, als die Gründung der SDAPR verkündet wurde. Aber eine Partei bestand deswegen noch lange nicht. In der Geschichte der KPdSU wird dies am Beispiel Petersburg verdeutlicht:

"1898—1900 entstanden und betätigten sich in Petersburg mehrere Zirkel und Gruppen, zwischen denen kein Zusammenhang bestand. So gab es im Zentrum der Arbeiterbewegung Rußlands neben dem Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse Splitterorganisationen wie „Gruppe der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse", „Arbeitergruppe zum Kampf gegen das Kapital", „Rabotscheje siiamja" (Arbeiterbanner), „Sozialist", „Sozialdemokratische Arbeiterbibliothek" und „Arbeiterorganisation". Alle gaben sie Druckschriften heraus, jede suchte ein eigenes Programm und eine eigene Taktik zu erarbeiten." (4)

Im "Kurzen Lehrgang" der "Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki)" findet sich folgende Darstellung:

"Dieser Parteitag hat jedoch die Partei noch nicht geschaffen: es gab weder ein Programm noch ein Statut der Partei, noch eine Leitung von einem Zentrum aus, es gab fast keine Verbindung zwischen den einzelnen marxistischen Zirkeln und Gruppen. Um die zersplitterten marxistischen Organisationen miteinander zu verbinden und zu einer Partei zu vereinigen, entwarf und verwirklichte Lenin den Plan der Schaffung der ersten gesamtrussischen Zeitung der revolutionären Marxisten — der „Iskra". Die Hauptgegner der Schaffung der einheitlichen politischen Arbeiterpartei waren in dieser Periode die „Ökonomisten". Sie verneinten die Notwendigkeit einer solchen Partei. Sie förderten die Zersplitterung und Handwerklerei der einzelnen Gruppen. Und gegen sie gerade richteten Lenin und die von ihm organisierte „Iskra" ihre Schläge. Die Herausgabe der ersten Nummern der „Iskra" (1900—1901) bedeutete den Übergang zu einer neuen Periode, der Periode der tatsächlichen Bildung der einheitlichen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands aus den zersplitterten Gruppen und Zirkeln." (5)

Für Lenin war die Iskra - das Zentralorgan - der Hebel schlechthin, den Kampf gegen den Ökonomismus in der SDAPR erfolgreich zu führen, der Ideologie, die politisch Nachtrab hinter den Kämpfen der Klasse bedeutete.

"Was tun?" wird zwar in diesem Zusammenhang vom Genossen Schulze richtig eingeordnet, wenn er schreibt, dass die "Leninsche Fraktion" entstand, um den Ökonomismus in der SDAPR zu bekämpfen, jedoch den Schluss, den er daraus zieht, ich würde meinerseits den falschen Schluss ziehen, die Aneignung  des wissenschaftlichen Sozialismus durch "relevante Teile der Lohnabhängigen" wäre nach Lenin die Voraussetzung für den Parteiaufbau, ist schlicht eine Fehlinterpretation. Von Aneignung war bei mir überhaupt nicht die Rede, sondern von sich darauf Beziehen - und wer waren in den Jahren ab 1894, wenn wir von Lenins Periodisierung ausgehen,- die Träger des wissenschaftlichen Sozialismus, die zum Bezugspunkt für Teile der Klasse wurden?  Das war die ideologische Strömung der russischen SozialdemokratInnen, die sich als Intellektuelle auf den Standpunkt der Proletariats gestellt hatten und als örtliche Zirkel wie z.B. der Petersburger "Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse" ab 1894 zunehmend organisierend und leitend in Streikkämpfe eingriffen (6).

Wenn nun Genosse Schulze als zweites fragt, was es aus der Geschichte der Leninschen Partei für die radikale Linke in der BRD heute zu lernen gäbe, dann lautet meine Antwort: Wenig bis gar nichts, wenn es um die konkreten historischen Verhältnisse und die sich darauf beziehenden Programme, Strategien sowie um deren Partei-Praxis geht. Rudi Dutschke wendet zurecht in seiner historisch-materialistischen Untersuchung gegen das Leninsche Parteikonzept ein:

"Richtig ist, daß Lenin in »Was tun?« die internationalen Erfahrungen der Arbeiterbewegung kritisch und den Bedingungen seines Landes entsprechend, überprüft. Er stellt der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands die Aufgabe, »das ganze Volk vom Joch der Selbstherrschaft zu befreien«. Diese revolutionäre Partei »soll« und »will« die unterdrückten Klassen befreien - nicht einmal die Wechselwirkung von Arbeiter-Partei und Arbeiter-Klasse wird hier durchgehalten. Der Emanzipationskampf ist verschoben, abstrakt-ideologisch soll die Arbeiterklasse sich selber befreien, konkret-historisch soll die revolutionäre Arbeiterpartei diese Aufgabe in die Hand nehmen. Unter diesen Prämissen ist es kein Wunder, daß die »technische« Seite in der Leninschen Revolutionstheorie eine besondere Rolle einnimmt. So kam es denn zu einem Partei-Typus, in dem nicht die Klassenzugehörigkeit, sondern die politisch-menschliche Besonderheit, Berufsrevolutionär in der aufgezwungenen Illegalität des Zarismus zu sein, entscheidend war.(7)

Essentiell war für mich (8) , die Konstitutionsbedingungen der Geschichte der Leninschen Partei zu verstehen und zwar nicht nur im Hinblick auf die objektiven Verhältnisse (Entwicklung des Kapitalsverhältnis, Struktur der Klassen und Klassenherrschaft) sondern gerade auch im Hinblick auf die Beziehungen zum subjektiven Faktor. Dies führte mich zur Betonung des Unterschieds zwischen Parteibildungsprozess und Parteischaffung/-aufbau. Schlussendlich war die russische Parteigeschichte für mich der Ausgangspunkt, um für die Organisationsfrage dass Gemeinsame in der Geschichte der internationalen ArbeiterInnenbewegung herauszuarbeiten. Mein Resümee lautete:

"Fasst man das Gemeinsame dieser heterogenen „Parteivorgeschichten“ unter dem Blickwinkel der russischen Parteigeschichte zusammen, dann bedeutet Parteibildung ganz allgemein: Parteinahme im Sinne des wissenschaftlichen Sozialismus für die (eigene) proletarische Klasse."  

Und will man in der BRD eine antikapitalistische Politik in Abgrenzung zum Reformismus der Linkspartei entfalten, dann wäre man gut beraten, die ausdifferenzierten Klassenstrukturen und den subjektiven Faktor zu untersuchen, um die Kräfte aufzuspüren, die für die proletarische Klasse Partei ergreifen, um sich mit denen zu verbinden. Mit dieser Verbindung würde für uns als ideologischen Strömung das Ende eingeläutet und der Übergang zu einer politischen Bewegung eröffnet.

Ende Teil 1


Anmerkungen

1) 1989 veröffentlichte ein AutorInnenkollektiv - Christine Bachmeier, Alexander Ewald, Thomas Fischer, Sabine Norton - unter dem Titel „Mythen knacken – 40 Jahre westdeutsche Linke“ eine Untersuchung über die historischen Bedingungen des „Fehlens einer ernstzunehmenden Linken“. Mit dieser Untersuchung sollte eine wichtige theoretische Voraussetzung geschaffen werden, diesen Zustand der Marginalisierung zu überwinden. Unbeschadet der Tatsache, dass die Untersuchungsergebnisse sowohl fragmentarisch als auch teilweise mangelhaft sind, ragt dieser Versuch in der Frage des selbstkritischen Umgangs mit der eigenen Geschichte weit über jene Texte hinaus, die heute als so genannte Grundsatzpapiere für den jeweiligen Zirkel programmatische Funktionen erfüllen.

2) Friedrich Engels nannte diese Methode aprioristisch, weil es mit ihr darum geht „die Eigenschaften eines Gegenstandes nicht aus dem Gegenstand selbst zu erkennen, sondern sie aus dem Begriff des Gegenstandes beweisend abzuleiten. Erst macht man sich aus dem Gegenstand den Begriff des Gegenstandes; dann dreht man den Spieß um und misst den Gegenstand an seinem Abbild, dem Begriff. Nicht der Begriff soll sich nun nach dem Gegenstand, der Gegenstand soll sich nach dem Begriff richten.“ MEW 20, S. 89

3) Alfred Schröder, Manfred Weiß, Sozialpartnerschaft oder Klassenkampf, Beiträge zur Programmdiskussion Nr. 7, Frankfurt/M, 1986

4) Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Moskau o. J., Band 1, S.349

5) Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) - Kurzer Lehrgang, herausgegeben von einer Kommission des ZK der KPdSU (B), 1938, dt. Fassung, Berlin 1945, S. 32

6) "Im Herbst 1895 ging der Petersburger »Kampfbund« an die Organisierung und Leitung der Streikbewegung. Zusammen mit den Arbeitern formulierte Lenin die Forderungen der Streikenden. Unter der Leitung des »Kampfbundes« kam es 1896, während der Krönungsfeierlichkeiten, zu einem Streik von 30000 Petersburger Webern. Sie forderten Verkürzung des Arbeitstages auf dem Wege des Gesetzes und Auszahlung des Lohns für die Zeit der Stillegung der Fabrik während der Krönungsfeierlichkeiten. Dieser Streik der Petersburger Weber bildete eines der größten politischen Ereignisse, da er durch seine revolutionären Aktionen die Krönungsfeierlichkeiten störte und angesichts der in Moskau versammelten Vertreter aller Länder bewies, daß die Selbstherrschaft ins Wanken geraten war." K.W. Baselewitsch, Geschichte der UdSSR, Moskau 1949, Teil II, S. 323

7) Rudi Dutschke, Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen, Westberlin, 1974, S. 101

8) Natürlich sind zum Beispiel vom Resultat des Scheiterns der sozialistischen Staaten aus betrachtet genauere und weitergehende Untersuchungen zur Leninschen Partei zu führen. Das ist aber ein anderer Kontext.

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*) Sommerzeit ist für mich auch Urlaubszeit, so dass dann meine Schwerpunkte nicht unbedingt auf dem Gebiet der Publizistik liegen. Ich bitte daher um Verständnis, dass ich hier nur einige Punkte anspreche. Doch ich denke, aufgrund der vielen Mühe, die sich Genosse „DGS“ mit meinem Text gemacht hat, dass ihm eine ausführliche Antwort zusteht. Ich werde sie in Teilen liefern.
 

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe