Von der Organisations- zur Programmdebatte

Die Lage der Linken in der BRD und die Aufgaben einer revolutionären Organisation
von Detlev Georgia Schulze

7-8/11

trend
onlinezeitung

Die Lage der Linken in der BRD 

1. In trend 6/2011 analysierte Karl-Heinz Schubert die Lage der Linken in der BRD mit der gebotenen Nüchternheit und Schärfe (die Hv. sind mir hinzugefügt):

  • Fast täglich finden Warnstreiks und Protestumzüge von Belegschaften für den Erhalt von Arbeitsplätzen, für Lohnerhöhungen und „faire“ Entlohnungsbedingungen statt. Kurzum: Der zum normalen Geschäftbetrieb des Kapitalismus gehörende immanente Kampf um den Preis der Ware Arbeitskraft und ihre Verwertungsbedingungen nimmt infolge der jüngsten Weltwirtschaftskrise augenscheinlich zu. Auffallend zudem noch: Es kämpfen zunehmend häufiger KollegInnen aus neuen Dienstleistungsberufen und dem Handel. 

Redaktionelle Hinweise

Wir veröffentlichten in der Märzausgabe einen Beitrag der
„Sozialistische Initiative Berlin-Schöneberg“ zur Gründung einer antikapitalistischen Organisation. Darüber entwickelte sich eine Debatte, die durch das TREND TEACH IN ihren ersten Bilanzpunkt erfuhr. Die Statements wurden in der Juniausgabe des TREND veröffentlicht. Weitere in der aktuellen Sommerausgabe 7-8/11

Die "SchönebergerInnen" haben mittlerweile einen Blog eröffnet, der ebenfalls  die Debatte begleitet.

Erfreulicherweise - angestoßen durch Robert Schlossers Beitrag - scheint sich nun in der 2. Juli-Hälfte die Organisationsdebatte in eine Programmdebatte zu transformieren.

  • Innerhalb der von Lohnarbeit ausgeschlossenen Millionenmassen bildeten sich seit „Hartz IV“ zahllose lokale Zusammenschlüsse von Erwerbslosen und Prekarisierten, die bis hin zu breiten Bündnisaktion auf vielfältige Weise um für ihre Wiederaufnahme ins Lohnarbeitsverhältnis kämpfen, ohne dabei das Lohnsystem selber in Frage zu stellen.
     

  •  In den großen Städten gibt es im Hinblick auf den kapitalistischen Stadtumbau sporadische Ansätze von Gegenwehr. Die Träger dieser Kämpfe sind klassenmäßig heterogen (siehe: Mediaspree, Flughafen Schönefeld, Stuttgart 21). Ein Mietkampf ist kaum wahrnehmbar.
     

  •  Sporadisch kommt es im Bildungs-, Schul- und Hochschulbereich zu Protesten, die sich gegen materielle Verschlechterungen, Leistungsdruck und die Lernorganisation wenden. Auch hier ist eine antikapitalistische Orientierung inhaltlich nicht zu bemerken. Dies gilt auch für den Kampf gegen ökologische Gefahren.

Und speziell bzgl. der linksradikale Gruppen und Organisationen fügt er hinzu:

  • In den Betriebskämpfen sind ihre Mitglieder zwar oft die aktivsten, jedoch als ‚Nur-Gewerkschafter’ kaum zu erkennen. Ihre revolutionär-sozialistische Orientierung kommt wenn, abgespalten von den Betriebskämpfen auf anderen Feldern jenseits des Betriebs zum Tragen. Dort wo einige wenige klassenkämpferisch-oppositionell auftreten (eigene Liste bei Betriebsratwahlen, eigene Gewerkschaft / FAU), sind sofort massive Repressionen die Folge.

  • An den vielfältigen Aktionen im Erwerbslosenspektrum sind Linksradikale zweifellos beteiligt. Dass sie diese Bewegung inhaltlich auf eine Überwindung des Kapitalismus hin zu orientieren versuchen, ist außer an den Phrasen vom „echten Sozialismus“ nicht zu verspüren.

  •  Ähnlich stellt sich die Lage im Stadtteil, im Bildungsbereich und auf dem Feld der Ökologie dar. Die Verbindung dieser Kämpfe mit dem Kampf für den Sozialismus ist nicht wahrnehmbar. Es handelt sich um reine Abwehrkämpfe, gefangen in der Logik der Kapitalverwertung.

  • Dagegen spielt der antifaschistische Kampf eine herausragende Rolle. Hier kann von der revolutionären Linken ohne besondere theoretische Anstrengungen der Kapitalismus als Ursache von Rassismus und Faschismus angegriffen werden.

  • Neben den linksradikalen Gruppen, die ihre politische Praxis dort haben, wo die Teilkämpfe des Proletariats stattfinden, gibt es Zirkel, die ihren Schwerpunkt in der Theoriearbeit und in der Propaganda – also im ideologischen Kampf – haben. Diese versuchen mitunter – aber vergeblich – auf die ‚Bewegungssozialisten’ als kritisches Korrektiv einzuwirken. Inhaltlich steht dabei aber keineswegs die Frage nach dem revolutionären Programm im Mittelpunkt, sondern das Kommentieren und Polemisieren auf den politischen Lieblingsfeldern der ‚Bewegungssozialisten’ wie Antifa, Rassismus, Sexismus, Militarismus, Internationalismus etc.

Insbesondere dem ersten Block von Aufzählungspunkten sei hier ausdrücklich zugestimmt. Und der zweite Block ist jedenfalls für die ‚großen Masse’ der verbliebenen ‚Linksradikalen’ zutreffend.

Allerdings bin ich mir nicht sicher, daß bspw. der RSB und die SAV in sozialen Kämpfen tatsächlich ausschließlich als – wenn auch besonders aktive – ‚Nur-GewerkschafterInnen’ auftreten. Auch die inhaltlichen Äußerungen, der Gruppen, die in Berlin im Klassenkampf-Block-Bündnis (insb. für die 1. Mai-Demos) zusammengeschlossen sind, scheinen mir über ‚Nur-Gewerkschaftertum’ hinauszugehen. Das Gleiche gilt für die Gruppen des bundesweiten 3 A-Bündnisses und das Spektrum um die Zeitschrift radikal seit deren relaunch im Jahre 2009.

Aber zugegeben sei, daß ich das nicht hundertprozentig einschätzen kann, da ich es selbst in den letzten Jahren – wegen der vorherrschenden Reduktion von Linksradikalismus auf Reformismus und der faktischen Nicht-Existenz eines politischen Spektrums von revolutionären MarxistInnen – vorgezogen hatte, überwiegend theoretisch zu arbeiten. Allerdings scheint mir, daß sich in den letzten – vielleicht vier – Jahren eine Tendenz abzeichnet, wieder über reformistische Tagespolitik hinauszugehen und die Frage nach den Perspektiven revolutionärer Politik weitaus expliziter anzugehen, als dies seit Anfang der 1990er Jahre gemeinhin üblich war. Und in diese Tendenz scheint sich mir auch das von Karl-Heinz Schubert kritisierte Schöneberger Papier einzuordnen, in dem für eine Debatte über die Schaffung einer neuen antikapitalistischen Organisation plädiert wird. Denn dort heißt es u.a.: „Viele GenossInnen haben für unseren Geschmack zu lange in Sozialforen gesessen, Teile auch der radikalen Linken sind saft-, kraft- und mutlos geworden. […]. Wir hätten’s jetzt gern mal etwas handfester, soll heißen ‚Raus aus dem Zirkelwesen’ und ‚Kein Friede mit dem Kapitalismus’. Dazu gehört Offenheit und Dialog / Kompromissbereitschaft, aber eben auch der Mut, die eigenen revolutionären Positionen wieder mit ein wenig mehr Selbstbewusstsein zu vertreten.“ 

2. Aber nehmen wir an, Karl-Heinz Schuberts Einschätzung, die noch pessimistischer ausfällt als meine, sei zutreffend: Was schlußfolgert er daraus in Bezug auf den Schöneberger Vorschlag?

Er schlußfolgert daraus, daß „die subjektiven Voraussetzungen weder bei Ihnen [den Schönebergern] noch bei ihren Adressaten und vor allem aber nicht im Proletariat reif für einen Parteiaufbau sind.“

Nun gut, die Schöneberger hatten allerdings auch gar nicht von „Partei“ gesprochen, sondern von „Organisation“. Aber dies mag vielleicht nur eine terminologische und keine inhaltliche Differenz zu sein: Wenn wir als MarxistInnen die Beteiligung an Parlamentswahlen nicht für ein notwendiges Merkmal des Parteicharakters halten, so werden wir zu klären haben, welche spezifische Eigenschaften Parteien von anderen (politischen) Organisationen unterscheiden. Aber lassen wir dieses Problem an dieser Stelle dahinstehen. 

II. Die Aufgabe einer revolutionären Organisation 

1. Das zentrale Argument von Karl-Heinz für seine Schlußfolgerung lautet: In einer Situation, wie wir sie heute in der BRD haben, sei nur ein „Parteibildungsprozess“, aber noch kein „Parteiaufbau“ möglich. Für dieses Argument führt er wiederum als zentrales Argument die historische Erfahrung der Bolschewiki an: „Bei der Darstellung der Geschichte der Partei der Bolschewiki ist es oft üblich, sie 1900 mit der Herausgabe der Iskra beginnen zu lassen. Hierdurch wird der Beginn des Parteiaufbaus markiert, der bekanntlich bis zur Oktoberrevolution in zwei Etappen erfolgte. (1. Etappe: Formierung der Partei und Arbeit am Programm, sowie Gewinnung der führenden Kerne des Proletariats, 2. Etappe: Gewinnung der proletarischen Massen für den Sturz des Kapitalismus). Dem Aufbau der russischen revolutionären Partei ging ein rund 20 Jahre währender Parteibildungsprozess voran.“

Karl-Heinz Schubert führt leider nicht aus, was in diesen 20 Jahren Parteibildungsprozeß in Rußland alles geleistet wurde und was davon seines Erachtens in BRD heute erst noch zu leisten ist. – Aber lassen wir auch diese Frage beiseite.

Fragen wir der Einfachheit halber: Wie analysierte Lenin die russische Situation 1902 als er Was tun? schrieb, also zwei Jahre nach dem von Karl-Heinz auf das Jahr 1900 datierten Beginn des Parteiaufbaus?

Lenin schrieb 1902: „An und für sich waren diese Streiks ein trade-unionistischer und noch kein sozialdemokratischer Kampf; sie kennzeichneten das Erwachen des Antagonismus zwischen den Arbeitern und den Unternehmern, aber den Arbeitern fehlte – und mußte auch fehlen – die Erkenntnis der unversöhnlichen Gegensätzlichkeit ihrer Interessen zu dem gesamten gegenwärtigen politischen und sozialen System, das heißt, es fehlte ihnen das sozialdemokratische [d.h. nach heutiger Terminologie: kommunistische, DGS] Bewußtsein. In diesem Sinne blieben die Streiks der neunziger Jahre, trotz ihres gewaltigen Fortschritts im Vergleich zu den ‚Rebellionen’, eine rein spontane Bewegung.“

Genau das von Karl-Heinz für die heutige Lage in der BRD herausgearbeitete ‚Nur-Gewerkschafter’-Bewußtsein kennzeichnete nach Lenin die damalige russischen Lage: Was es gab, war ein „trade-unionistisches Bewußtsein […], d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m.“ Und laut Lenin nahm von Mitte der 1890er bis zu dem Zeitpunkt, wo er Was tun? schrieb der Ökonomismus sogar unter den organisierten Sozialdemokraten zu

2. Was ist nun nach Lenin die Aufgabe einer revolutionären Partei? Die Aufgabe einer revolutionären Partei ist es nach Lenin, an dieser Lage etwas zu ändern:

„Das politische Klassenbewußtsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden [1], das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. Das Gebiet, aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, sind die Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, sind die Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen Klassen. Deshalb darf man auf die Frage: Was ist zu tun, um den Arbeitern politisches Wissen zu vermitteln? – nicht allein die Antwort geben, mit der sich in den meisten Fällen die Praktiker begnügen – von den Praktikern, die zum ‚Ökonomismus’ neigen, ganz zu schweigen –, nämlich die Antwort: ‚Zu den Arbeitern gehen’. Um den Arbeitern politisches Wissen zu vermitteln, müssen die Sozialdemokraten [in heutiger Terminologie: KommunistInnen, dgs] in alle Klassen der Bevölkerung gehen, müssen sie die Abteilungen ihrer Armee in alle Richtungen aussenden.“ (fette Hv. hinzugefügt).

Sicherlich ist für einen revolutionären Parteiaufbau erforderlich, daß die ParteiaufbauerInnen – um Karl-Heinz’ (im Detail m.E. diskussionsbedürftige) Worte vorläufig aufzugreifen – „im Sinne des wissenschaftlichen Sozialismus für die (eigene) proletarische Klasse“ Partei nehmen. (Diskussionsbedürftig ist m.E. das Verhältnis von Wissenschaftlichkeit und Parteilichkeit und die heutige Zeitgemäßtheit des Wortes „proletarisch“. Aber lassen wir auch dies dahinstehen.) 

Weit davon entfernt aber, daß nach Lenins Ansicht die Voraussetzung eines Parteiaufbaus wäre, daß relevante Teile der Lohnabhängigen sich den wissenschaftlichen Sozialismus bereits angeeignet haben (und bereit und in der Lage sind, ihn weiterzuentwickeln) – wie aber wohl Karl-Heinz meint –, konstituierte sich die leninsche Fraktion gerade in Opposition gegen den in der Klasse und selbst innerhalb der SDAP weiterhin vorherrschenden (und ggü. Mitte der 1890er Jahre sogar stärker gewordenen) ‚alltagsverständigen’ gewerkschaftlichen Ökonomismus. Die Konstituierung der leninschen Fraktion innerhalb der der SDAPR (was Karl-Heinz mit Wort dem „Parteiaufbau“ belegt, was nicht so verkehrt ist, weil die Herausbildung der beiden Fraktionen faktisch auf eine Parteispaltung hinauslief) hatte die Überwindung des Ökonomismus innerhalb relevanter Teile der Lohnabhängigen nicht zur Voraussetzung, sondern sollte vielmehr ein Mittel sein, um dazu überhaupt erst beizutragen. 

3. Nun ist es – hypothetisch – sicherlich möglich zu argumentieren, daß die Lage in Rußland 1902 ff. und folglich auch die Rolle der Bolschewiki darin eine ganze anderen waren, als die Bolschewiki selbst dachten. Dafür liegt aber, wenn schon nicht die Argumentations- und Beweis-, so doch auf jeden Fall die Behauptungslast bei Karl-Heinz. – Bisher jedenfalls habe ich Karl-Heinz’ Text nicht die Behauptung entnommen, die Bolschewiki wären einer derartigen Fehleinschätzung der Lage und ihrer eigenen Rolle unterlegen.

Und selbst, wenn die Bolschewiki einer solchen Fehleinschätzung unterlegen gewesen wären – auch dann müßte noch gezeigt werden, daß eine Organisationsgründung nicht auch unter schlechteren Bedingungen möglich, sondern dann vielmehr schädlich ist.  

4. Bleibt noch die Überzeugung von Karl-Heinz: „Organisatorisch entstehen aus […] Teilkämpfen regionale Zirkel, von denen die fortgeschrittensten sich den wissenschaftlichen Sozialismus aneignen und beginnen, den Sozialismus als Ziel programmatisch auszuarbeiten und zu propagieren.“

Das mag – beim damaligen Stand der Kommunikations- und Verkehrsmittel – die tatsächliche Entwicklung in Rußland um 1900 (und in anderen Ländern zur damaligen Zeit) zutreffend beschreiben.

Für uns heute kommt diesbzgl. aber ein Gesichtspunkt ins Spiel, den Karl-Heinz selbst am Ende seines Papiers anspricht: die heutigen „öffentlichen Strukturen der Informationsverarbeitung, -verbreitung und -bevorratung [machen] Kommunikation auf gleicher Augenhöhe und in voller inhaltlicher Breite (technisch) möglich“.

Warum sollte es also heute in der BRD notwendig sein, die von Karl-Heinz zurecht geforderte Programmdebatte in regionalen Zirkeln zu führen und diese dann erst in einem zweiten Schritt überregional zusammenzuführen? [2] 

Was spricht also nach Ansicht von Karl-Heinz dagegen, heute eine überregionale und die verschiedenen Diskussionszirkel, Kleinorganisationen und Politgrüppchen übergreifende Programm- und Organisationsstruktur-Diskussion zu beginnen und im Einigungsfalle dann tatsächlich eine gemeinsame Organisation zu gründen?

Eigentlich nichts! Denn er schreibt ja selbst: „die Gründung einer ‚antikapitalistischen Organisation’ [ist] nicht überflüssig, wenn mit der gebotenen Bescheidenheit herausgestellt wird, dass es sich hierbei um einen linksradikalen Zirkel handeln wird, der sich qualitativ von anderen Zirkeln dadurch unterscheidet, dass er das Zirkelwesen überwinden will. Die politische Relevanz dieses Zirkels würde sich sicherlich erhöhen, wenn sich bestehende Zirkel in diesen hinein auflösen würden.“ 

III. Nächste Schritte 

1. Karl-Heinz wendet des weiteren gegen das Schöneberger Papier ein:

„Die ‚SchönebergerInnen’ wären einfach gut beraten gewesen, die Inhalte des Parteiprogramms konkret zu nennen und aufzuzeigen, woraus ihre theoretischen Verallgemeinerungen der Klassenkämpfe bestehen und welche politische Praxis deshalb im Hier und Jetzt zu entfalten wäre, die im Interesse des Proletariats in die Kapitalverwertungslogik eingreift und die Abschaffung des Lohnsystems auf die Tageordnung setzt. Deshalb wäre es auch zweckdienlich zu erfahren, auf welchen programmatischen Grundlagen die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise in der BRD angesichts der weltweiten Kapitalverflechtungen erfolgen könnte.

Schließlich wäre für die weitere Arbeit am Programm darzulegen, für welche Fragestellungen weitere Untersuchungen unabweisbar erscheinen und welchen Anteil die Beschäftigung mit diesen Fragen im Verhältnis zu den praktischen Erfordernissen des ökonomischen, politischen und ideologischen Kampfes im Parteileben haben soll.“

Daran ist m.E. zutreffend, daß eine politische Organisation jedenfalls mittelfristig ein Programm oder quasi-Programm benötigt. Mir erscheint aber sinnvoll, daß die Schöneberger dazu nicht zu fünft im Alleingang einen Vorschlag vorgelegt haben.

Vielmehr scheint mir einer der Vorteile eines Organisationsgründungsprozesses darin zu liegen, daß eine Programmdebatte – angefangen von einer kürzeren Gründungserklärung bis hin zu einem umfassenden Programm – im größeren Rahmen erarbeitet und diskutiert werden kann.

Und was Fragestellungen, „für welche […] weitere Untersuchungen unabweisbar erscheinen und welchen Anteil die Beschäftigung mit diesen Fragen im Verhältnis zu den praktischen Erfordernissen des ökonomischen, politischen und ideologischen Kampfes im Parteileben haben soll“, anbelangt… – ja. Das müssen wir klären. Aber: Da dazu die Schöneberger keinen Vorschlag gemacht haben und Du, Karl-Heinz, ja anscheinend Ideen und Vorstellungen hast – bring sie doch bitte in den weiteren Diskussionsprozeß ein. 

2. Und es ist ja nicht so, daß es in Sachen Programm keinerlei Vorarbeiten gibt: Der RSB hat ein Programm, die SAV hat ein Grundsatzprogramm, Avanti hat ein langes Grundsatzpapier, auf das sich die Schöneberger in ihrem Text ja auch beziehen, SoL hat ein langes Grundsatzpapier. Die Gruppen Projekt Revolutionäre Perspektive (Hamburg) und Revolutionäre Perspektive Berlin haben zumindest mehrseitige Selbstverständniserklärungen. Die Revolutionäre Linke um die Zeitschrift radikal hat ein Grundsatzpapier vorgelegt.

Diese Texte müßten kollektiv – auf Unterschiede, Übereinstimmungen und Leerstellen – mit einander verglichen werden und dann ein neuer gemeinsamer Text geschrieben werden. Um diese Diskussion in demokratischer Weise und unter Einbeziehung von GenossInnen, die nicht bereits in den genannten oder anderen Zusammenhängen organisiert sind, führen zu können, müßten entsprechende neue, gemeinsame Strukturen geschaffen werden. 

3. Und zu den „Untersuchungen über Klassen und Klassenstruktur […], die sich in der Programmatik (Forderungen, Losungen, Konzepte, Projekte) […] widerspiegeln und die zur Verankerung […] in der Klasse beitragen“ sollen:

Mir scheint Robert Schlosser spricht in seinem Beitrag zur laufenden Debatte einen wichtigen Gesichtspunkt an:

Es geht um die Entwicklung von Forderungen, die „der immer tiefergehenden Spaltung der Klasse der LohnarbeiterInnen entgegenwirken, indem er [der Kampf für sie] deren [der LohnarbeiterInnen] Konkurrenz untereinander abschwächt und soweit aufhebt, soweit das im Kapitalismus möglich ist. Ohne eine solche tendenzielle Aufhebung der Konkurrenz unter den VerkäuferInnen von Ware Arbeitskraft kann man aber jede Aussicht auf soziale Revolution vergessen (und dieser Kampf ist keiner, den man auf betrieblicher Ebene führen und gewinnen kann).”

Und diesbzgl. gilt m.E. das von mir bereits in meinem ersten Diskussionsbeitrag zu unserer aktuellen Diskussion Geschriebene:

Es geht um eine „‚Einheit, die Differenzen zuläßt (und voraussetzt)’. Ein Bündnis hat nur Sinn und kommt nur zustande, wenn den Beteiligten der Raum gelassen wird, ihre jeweiligen eigenen Motive und Interessen einzubringen und nicht die Einheit jedem ‚Partikularismus’ der Beteiligten übergeordnet wird.“ 

PS.: Nur falls es notwendig ist, das klarzustellen: Wenn ich sage, daß die heutige Lage der revolutionären Linken in der BRD auch nicht besser sei als die Lage der russischen Revolutionäre um 1900, dann heißt das nicht, daß ich damit rechnen würde, daß uns in 17 Jahren in der BRD eine sozialistische Revolution gelingen wird.

Anmerkungen 

[1] Dabei nimmt Lenin im Laufe von Was tun? eine bemerkenswerte Verschiebung der Bedeutung der „von außen“-Metapher vor:

Zunächst ist dieses „außen“ – ganz in Übereinstimmung mit dem bekannten Kautsky-Zitat, auf sich Lenin zunächst beruft (vor der dortigen FN) – ein klassenmäßiges Außen: Es sind die bürgerlichen Intellektuellen, die den ArbeiterInnen das revolutionäre Klassenbewußtsein bringen: „Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. […]. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an. Ebenso entstand auch in Rußland die theoretische Lehre der Sozialdemokratie ganz unabhängig von dem spontanen Anwachsen der Arbeiterbewegung, entstand als natürliches und unvermeidliches Ergebnis der ideologischen Entwicklung der revolutionären sozialistischen Intelligenz.“

► An der oben angesprochenen Stelle geht es dann aber um den Unterschied zwischen Fabrik und Rest der Gesellschaft bzw. Ökonomie und Politik.

► Und bereits an der Stelle, wo Lenin Kautsky zitiert (vor der genannten FN), macht er folgende Kautsky verschiebende bzw. korrigierende Fußnote: „Dies heißt selbstverständlich nicht, daß die Arbeiter an dieser Ausarbeitung nicht teilnehmen. Aber sie nahmen daran nicht als Arbeiter teil, sondern als Theoretiker des Sozialismus, als die Proudhon und Weitling, mit anderen Worten, sie nehmen nur dann und soweit daran teil, als es ihnen in höherem oder geringerem Maße gelingt, sich das Wissen ihres Zeitalters anzueignen und dieses Wissen zu bereichern. Damit aber den Arbeitern dieses häufiger gelinge, ist es notwendig, alles zu tun, um das Niveau der Bewußtheit der Arbeiter im allgemeinen zu haben; ist es notwendig, daß die Arbeiter sich nicht in dem künstlich eingeengten Rahmen einer ‚Literatur für Arbeiter’ abschließen, sondern daß sie es immer mehr lernen, sich die allgemeine Literatur zu eigen zu machen. Es wäre sogar richtiger, anstatt ‚sich nicht abschließen’ zu sagen: nicht abgeschlossen werden, dann die Arbeiter selbst lesen alles und wollen alles lesen, auch das, was für die Intelligenz geschrieben wird, und nur einige (schlechte) Intellektuelle glauben, ‚für Arbeiter’ genüge es, wann man ihnen von den Zuständen in der Fabrik erzählt und langst bekannte Dinge wiederkäut.“

► Dies gilt heute umso mehr, wo die Hochschulzugangquote selbst in der BRD um ein Vielfaches höher ist als im zaristischen Rußland (und in anderen OECD-Ländern ist sie noch höher) und wo (sozial)wissenschaftliches Wissen im internet vielfach frei zur Verfügung steht. 

[2] Hilfsweise zur Rußland-Analogie, warnt Karl-Heinz noch – mit Blick auf 1969 ff. –: „Solch ein Voluntarismus darf sich heute nicht wiederholen.“

Ja, sicherlich. Aber:

1. Die Schöneberger schlagen keine Organisationsgründung vor, sondern sie schlagen vor, über eine eventuelle Organisationsgründung zu diskutieren – und dann eine Entscheidung zu treffen.

2. Sicherlich sind die politischen Bedingungen für das, was die Schöneberger vorschlagen, heute schlechter als 1969 ff. Es fehlt eine relativ breite linke Bewegung.

3. Die theoretischen Bedingungen – auf die Karl-Heinz besonders abstellt – sind aber eher besser:

a) Damals gab es innerhalb von kurzer Zeit eine Wende von der Frankfurter Schule zum Maoismus. Es gab für die maoistischen Organisationsgründungen praktisch keine älteren linken Organisierungskerne, auf die hätte zurückgegriffen werden können.

b) Die Veröffentlichungslage marxistischer Literatur – in der ganzen Breite ihrer verschiedenen Strömungen – ist heute um Längen besser (Trotzki- und Gramsci-Ausgaben, MEGA2, marxistischer Wörterbuchprojekte, online-Zugänglichkeit der LW- und MEW-Ausgaben; – in den 50er und 60er Jahren unterlag dagegen der Zugang zu Literatur aus den ‚real’sozialistischen Ländern in der BRD noch – während der KommunistInnen-Verfolgung geschaffener – strafrechtlicher Verfolgung). Gerade das trotzkistische Spektrum ist es, das – anders als das maoistische Spektrum, das nahezu vollständig zusammengebrochen ist – eine gewisse organisatorische und personelle Kontinuität seit 1968 gewahrt hat. Und von diesem Spektrum geht die laufende Organisierungsdebatte aus.

c) Die negativen Erfahrungen mit KPD/ML, KPD/AO und KBW sind gemacht. Die besseren mit KB und GIM sind ebenfalls bekannt, und alldies ist – jedenfalls teilweise – wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Warum sollte es nicht möglich sein, daraus etwas Neueres und Besseres zu machen?

Editorische Hinweise

Detlev Georgia Schulze sandte uns seinen Artikel zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.
Der Autor hat einen http://theoriealspraxis.blogsport.de, wo seine Positionen diskutiert werden können.