Der sofortige Aufbau einer revolutionär-proletarischen Partei steht nicht auf der Tagesordnung

Thesen zur Veranstaltung „Klasse & Partei“ von Karl-Heinz Schubert

06/11

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Vorbemerkung

Die folgenden Thesen verstehen sich als Gegenposition zum „Schöneberger Papier“.  Gleichwohl teile ich aber deren Prämisse, dass die Aufhebung des Kapitalismus und der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft nur das Werk des Proletariats selber sein kann. Ferner stimme ich mit ihnen darin überein, dass die wesentliche Voraussetzung  für diesen historischen Schritt der Aufhebung das „Für sich Werden“ der proletarischen Klasse ist, was sich inhaltlich und formal in ihrer selbständigen politischen Organisierung ausdrückt. Und hier beginnen unsere Differenzen. 

Meine Gegenposition folgt nicht der Struktur und den Inhalten des „Schöneberger Papiers“, ist also keine immanente Kritik, sondern thematisiert Grundprobleme der Schaffung einer revolutionären Partei des Proletariats, die im „Schöneberger Papier“ m. E. explizit nicht angesprochen werden bzw. nur rudimentär enthalten sind. 

1)

Im Dezember 1918 vermerkt Rosa Luxemburg über die „russische Revolution“ einerseits, dass  die Diktatur des Proletariats in Russland zu einer Parteidiktatur zu verkommen droht und andererseits, dass die Bolschewiki  dem Weltproletariat gezeigt haben, dass es möglich ist, in einer proletarischen Revolution zu siegen.  Heute – das historische Resultat vor Augen -  wissen wir, dass der russische Sowjetstaat kein Vorbild für eine sozialistische Gesellschaft  mehr sein kann.  

Im Hinblick auf Rosa Luxemburgs Verweis auf den proletarischen Sieg erscheint es mir jedoch unabdingbar für die heutige revolutionäre Selbstorganisierung des Proletariats die Geschichte dieser ersten siegreichen proletarischen Revolution zu studieren, um zu verstehen, welches die historischen Voraussetzungen waren, wodurch eine erfolgreiche proletarische Selbstermächtigung sowohl programmatisch wie auch politisch-praktisch möglich wurde.  

Bei der Darstellung der Geschichte der Partei der Bolschewiki ist es oft üblich, sie 1900 mit  der Herausgabe der Iskra  beginnen zu lassen. Hierdurch wird der  Beginn des Parteiaufbaus markiert, der bekanntlich bis zur Oktoberrevolution in zwei Etappen erfolgte. (1. Etappe: Formierung der Partei und Arbeit am Programm, sowie Gewinnung der führenden Kerne des Proletariats, 2. Etappe:  Gewinnung der proletarischen Massen für den Sturz des Kapitalismus) 

Dem Aufbau der russischen revolutionären Partei ging ein rund 20 Jahre währender Parteibildungsprozess voran. Aus heutiger Sicht ist aber gerade die Vorgeschichte von großer Bedeutung.  Die Parteivorgeschichte vermittelt, dass Parteibildung kein formal-organisatorischer Akt ist, sondern im Kern bedeutet, dass relevante Teile des Proletariats beginnen, für die eigene Klasse Partei zu ergreifen und sich dabei auf den wissenschaftlichen Sozialismus beziehen. 

Dass der Parteibildungsprozess in den jeweiligen historischen Abschnitten und Ländern, seit dem es die Selbstorganisierung der proletarischen Klasse gibt, geschuldet den jeweiligen Klassenkampfbedingungen konkret anders verlief (z. B. SPD vor 1875, KPD 1918,  KPI oder KPE vor 1921) , ändert nichts an der Tatsache, dass dem Parteiaufbau diese Konsolidierungsphase grundsätzlich vorangeht. 

Fasst man das Gemeinsame dieser heterogenen „Parteivorgeschichten“ unter dem Blickwinkel der russischen Parteigeschichte zusammen, dann bedeutet Parteibildung ganz allgemein: Parteinahme im Sinne des wissenschaftlichen Sozialismus für die (eigene) proletarische Klasse. Das zeigt sich auf dem Feld der Ökonomie, indem Verteilungskämpfe in Stadtteil, Betrieb, Schule, Hochschule und auf dem Land, sowie ökologische Kämpfe so geführt werden, dass durch sie die kapitalistische Verwertungslogik angegriffen wird. Politisch führt dies dazu, in diesen Teilkämpfen mit einer eigenständigen proletarischen Programmatik aufzutreten. Dabei beginnt schließlich ideologisch die Loslösung von den Konzepten, Lebensweisen, Entwürfen und Wertvorstellungen der herrschenden Klasse.  

Organisatorisch entstehen aus diesen Teilkämpfen regionale Zirkel, von denen die fortgeschrittensten sich den wissenschaftlichen Sozialismus aneignen und beginnen, den Sozialismus als Ziel programmatisch auszuarbeiten und zu propagieren. Die organisatorischen Strukturen dieser Zirkel - flach oder hierarchisch; klandestin oder offen; Kader oder Mitglied - sind in aller Regel den Erfahrungen und Notwendigkeiten in den jeweiligen Klassenauseinandersetzungen geschuldet und bilden von daher kein allgemeingültiges Konzept. 

Ohne die Parteinahme für die proletarische Klasse, ohne diesen Parteibildungsprozess, d.h. ohne diese hier aufgezählten Bedingungen fehlen vor allem die subjektiven Voraussetzungen für die Aufbau einer revolutionären Partei.  

Bei dem „Schöneberger Papier“, mit dem ausdrücklich ein Beitrag zur Schaffung einer antikapitalistischen Organisation geliefert werden soll, handelt es sich um den Versuch, unterschiedlich organisierte Gruppen und Zirkel aufgrund inhaltlicher Übereinstimmungen in einer AktivistInnen-Organisation zu sammeln. Bei ausreichender Quantität soll dieser Zirkel  als eine mit der Linkspartei konkurrierende sozialistische Partei auftreten, um jene politisch zu filetieren, d.h. Mitglieder oder sogar ganze Parteigliederungen für sich zu gewinnen. 

Ist dieses Konzept geeignet, einen revolutionär-sozialistischen Parteibildungsprozess anzuschieben bzw. einen in der BRD vorhandenen weiter voranzubringen?
Oder sind sogar heute schon die objektiven und subjektiven Voraussetzungen für den Aufbau einer revolutionären Partei gegeben?

2) 

Das „Schöneberger Papier“ kennt den Unterschied zwischen Parteibildungsprozess und Parteiaufbau nicht. Folglich können LeserInnen im Hinblick auf diese Grundfrage der selbständigen Organisierung der proletarischen Klasse bei dem „Schöneberger Papier“  nur Mutmaßungen anstellen. 

Vieles spricht dafür, dass die „SchönebergerInnen“ der Ansicht sind,  dass in der BRD der  Parteibildungsprozess soweit vorangeschritten ist,  dass direkt mit dem Parteiaufbau begonnen werden kann. Im Abschnitt „Revolutionäre Einheit“ skandieren sie deshalb nämlich: „Raus aus dem Zirkelwesen“.  Hinsichtlich der Zielgruppe, die diese Partei aufbauen soll, findet sich an gleicher Stelle der Verweis auf das „Spektrum der subjektiven RevolutionärInnen“.

Im  Abschnitt „Avantgarde, Kaderpartei, demokratischer Zentralismus“  des „Schöneberger Papiers“ werden schließlich die Organisationsstrukturen dieser neuen Partei beschrieben und gleichsam wie Prinzipien behandelt: Zentrale Leitung und  relative Autonomie für die lokalen / regionalen Strukturen, nur theoretisch Qualifizierte als Mitglieder und als deren inhaltliche Klammer: das Parteiprogramm. 

Schauen wir uns dazu im groben Überblick die Klassenkampfsituation in der BRD an.  

  • Fast täglich finden Warnstreiks und Protestumzüge von Belegschaften für den Erhalt von Arbeitsplätzen, für Lohnerhöhungen und „faire“ Entlohnungsbedingungen statt. Kurzum: Der zum normalen Geschäftbetrieb des Kapitalismus gehörende immanente Kampf um den Preis der Ware Arbeitskraft und ihre Verwertungsbedingungen nimmt infolge der jüngsten Weltwirtschaftskrise augenscheinlich zu. Auffallend zudem noch:  Es kämpfen zunehmend häufiger KollegInnen aus neuen Dienstleistungsberufen und dem Handel. 
     
  • Innerhalb der von Lohnarbeit ausgeschlossenen Millionenmassen bildeten sich seit „Hartz IV“ zahllose lokale Zusammenschlüsse von Erwerbslosen und Prekarisierten, die bis hin zu breiten Bündnisaktion auf vielfältige Weise um für ihre Wiederaufnahme ins Lohnarbeitsverhältnis kämpfen, ohne dabei das Lohnsystem selber in Frage zu stellen.
     
  • In den großen Städten gibt es im Hinblick auf den kapitalistischen Stadtumbau sporadische Ansätze von Gegenwehr. Die Träger dieser Kämpfe sind klassenmäßig heterogen (siehe: Mediaspree, Flughafen Schönefeld, Stuttgart 21). Ein Mietkampf ist kaum wahrnehmbar.
     
  • Sporadisch kommt es im Bildungs-, Schul- und Hochschulbereich zu Protesten, die sich gegen materielle Verschlechterungen, Leistungsdruck und die Lernorganisation wenden. Auch hier ist eine antikapitalistische Orientierung inhaltlich nicht zu bemerken. Dies gilt auch für den  Kampf gegen ökologische Gefahren.

Und welche Rolle spielen dabei linksradikale Gruppen und Organisationen?

  • In den Betriebskämpfen sind ihre Mitglieder zwar oft die aktivsten, jedoch als „Nur-Gewerkschafter“ kaum zu erkennen. Ihre revolutionär-sozialistische Orientierung kommt wenn, abgespalten von den Betriebskämpfen auf anderen Feldern jenseits des Betriebs zum Tragen. Dort wo einige wenige klassenkämpferisch-oppositionell auftreten (eigene Liste bei Betriebsratwahlen, eigene Gewerkschaft / FAU), sind sofort massive Repressionen die Folge.
     
  • An den vielfältigen Aktionen im Erwerbslosenspektrum sind Linksradikale zweifellos beteiligt. Dass sie diese Bewegung inhaltlich auf eine Überwindung des Kapitalismus hin zu orientieren versuchen, ist außer an den Phrasen vom „echten Sozialismus“ nicht zu verspüren.
     
  • Ähnlich stellt sich die Lage im Stadtteil, im Bildungsbereich und auf dem Feld der Ökologie dar. Die Verbindung dieser Kämpfe mit dem Kampf für den Sozialismus ist nicht wahrnehmbar. Es handelt sich um reine Abwehrkämpfe, gefangen in der Logik der Kapitalverwertung.
     
  • Dagegen spielt der antifaschistische Kampf eine herausragende Rolle. Hier kann von der revolutionären Linken ohne besondere theoretische Anstrengungen der Kapitalismus als Ursache von Rassismus und Faschismus angegriffen werden.
     
  • Neben den linksradikalen Gruppen, die ihre politische Praxis dort haben, wo die Teilkämpfe des Proletariats stattfinden, gibt es Zirkel, die ihren Schwerpunkt in der Theoriearbeit und in der Propaganda – also im ideologischen Kampf – haben. Diese versuchen mitunter – aber vergeblich - auf die „Bewegungssozialisten“  als kritisches Korrektiv einzuwirken. Inhaltlich steht dabei aber keineswegs die Frage nach dem revolutionären Programm im Mittelpunkt, sondern das Kommentieren und Polemisieren auf den politischen Lieblingsfeldern der „Bewegungssozialisten“ wie Antifa, Rassismus, Sexismus, Militarismus, Internationalismus  etc.

Mit Blick auf diese kursorische Auflistung  ergibt sich für das „Schöneberger Papier“  eine bittere Bilanz, wenn wir den Anspruch des Papiers ernst nehmen, eine Partei auf der Grundlage eines  Parteiprogramms mit den fortgeschrittensten Teilen des Proletariats bereits heute schaffen zu wollen  -  eine Partei also, die für eine klassenkämpferische revolutionäre Politik im Hier und Jetzt und für die Aufhebung des Kapitalismus alltagstauglich ist. 

Tatsache ist dagegen aber:

  1. Weder werden die jetzigen Klassenkämpfe in der BRD von den fortgeschrittensten ArbeiterInnen geführt, nämlich denen, die in der eigenen Klasse – dem  Proletariat - das historische Subjekt der Aufhebung des Kapitalismus sehen – noch richten sich diese Kämpfe inhaltlich gegen die Logik der Kapitalverwertung.
     
  1. Ein Programm zur Aufhebung des Kapitalismus kann nicht von außen als Klischee über den alltäglichen Klassenkampf gestülpt werden, sondern es erwächst aus den Erfahrungen der täglichen Kämpfe und der theoretischen Verallgemeinerung, wobei die Lehren von Marx und Engels sowie anderer revolutionärer TheoretikerInnen den wissenschaftlich-methodischen Werkzeugkasten liefern.  Diejenigen, die heute in der  Theoriearbeit ihr politisches Hauptbetätigungsfeld haben, distanzieren sich lieber vom praktischen Klassenkampf, anstatt die Verbindung von Theorie und Praxis selbst zum Gegenstand ihrer theoretischen Bemühungen zu machen. Kurzum: Nicht einmal die Umrisse eines revolutionären Programms sind sichtbar.

Summa Summarum: Ein Parteibildungsprozess, der insoweit abgeschlossen ist, dass heute der Aufbau einer revolutionär-proletarischen Partei auf der Tagesordnung steht, ist nicht feststellbar. Heute zum Parteiaufbau aufzurufen, wie die „SchönebergerInnen“ es tun,  ist reine Fiktion, die, wenn sie in Angriff genommen würde, schlimme Folgen für die revolutionäre Linke haben kann. Ich möchte dies an einem uns bekannten Beispiel der jüngeren Geschichte aufzeigen.

Exkurs: Das Jahr 1969

Spätestens seit dem gescheiterten Kampf gegen die Notstandsgesetze 1968 begann sich der Charakter der Jugend- und Studentenbewegung zu verändern. In vielen Städten waren außerhalb der Uni so genannte Stadtteilbasisgruppen entstanden, in der alle linken Richtungen nebeneinander vertreten waren und in denen einzelne jüngere LohnarbeiterInnen mitmachten.  An der Uni selber hörten die klassischen Organisationen wie  SDS und  SHB auf, die Bewegung zu führen. An ihre Stelle traten so genannte Adhoc-Gruppen, die strömungsübergreifend waren. In diesen Adhoc- und Basisgruppen entwickelte sich zum Jahreswechsel 1969 als Mainstream die Hinwendung zum Proletariat.

In dieser Situation gründete sich mit Erlaubnis der Bundesregierung im September 1968 die moskauorientierte DKP und ohne Erlaubnis am 31.12.1968 im Hinterzimmer einer Hamburger Gaststätte die maoistische KPD/ML. Am 15. Januar 1969 propagierte Ernest Mandel für die 4. Internationale auf Wunsch der westberliner Basisgruppen vor rund 1000 ZuhörerInnen in der westberliner „Neuen Welt“ den proletarischen Klassenkampf als Betriebskampf:

„Wenn es den Studenten gelingt, aus ihrer praktischen Erfahrung der Hochschulrevolte Elemente der Arbeiterkontrolle in die Betriebe hineinzutragen, so werden sie bei der elementarsten Ebene anfangen müssen. Das Wissen über die Produktion, den Arbeitsablauf, die Bandgeschwindigkeit, die Bilanzen ist notwendig, um zu zeigen: jeder Konflikt zwischen Meister und Arbeiter ist der wieder aufbrechende Konflikt zwischen Arbeit und Kapital. Die Studenten müssen aufzeigen, daß diese Einzelkonflikte geeignet sind, die bürgerliche Gesellschaft zu durchbrechen und zur Arbeiterproduktionskontrolle vorzustoßen und schließlich den bürgerlichen Staatsapparat zu zerschlagen.“ 

Die Hinwendung zum Proletariat bedeutete ab 1969 praktisch, im Sinne von Mandels Empfehlung die Inhalte der Theoriearbeit und die Praxisfelder so umzugestalten, dass OberschülerInnen und StudentInnen mit LohnarbeiterInnen kontinuierlich organisatorisch auf revolutionärer Grundlage zusammenkamen.   Der Trotzkismus beförderte damit einen Parteibildungsprozess, an dem sich 1969 alle Strömungen beteiligten und miteinander über das richtige Konzept diskutierten. Nicht wenige brachen ihr Studium ab bzw. unterbrachen es, um im proletarischen Milieu (Stadtteil und Betrieb) praktische Politik zur Gewinnung von ArbeiterInnen für den eigenen Zirkel zu machen.

Anders DKP und KPD/ML - und in Westberlin noch zusätzlich die SEW – sie nahmen an den Diskussionsprozessen  in den Basis- und studentischen Adhoc-Gruppen nur mit dem Ziel teil, einzelne GenossInnen als Parteimitglied zu gewinnen.

Die wilden Septemberstreiks 1969 in der BRD und Westberlin machten allerdings deutlich, dass das soeben entdeckte revolutionäre Subjekt –  die ArbeiterInnenklasse – sich nicht von StudentInnen und OberschülerInnen für weitergehende Ziele, die über ihren Lohnkampf hinaus reichten, mobilisieren lassen wollte. Für die DKP und SEW kann gesagt werden, dass sie mit ihren Betriebskadern als „Nur-Gewerksschafter“ an den Kämpfen beteiligt gewesen sind.

Im Herbst 1969 tauchten in einigen Zusammenhängen so genannte Untersuchungskonzepte aus Italien auf, mit denen es möglich schien, Teile der proletarischen Klasse durch Betriebskämpfe für den Sozialismus zu gewinnen. Andere Teile der intellektuellen Linken erblickten in den so genannten jugendlichen Randgruppen die relevanten Teile der proletarischen Klasse. Gleichzeitig entstanden im Kontext der Stadteilbasisgruppen Organisationsvorschläge wie die Schaffung des „Sozialistischen Zentrum“, von dem man sich versprach, die proletarischen Kerne dort zusammenzufassen. Anarchistische Strömungen klärten untereinander Grundfragen des libertären und syndikalistischen Anarchismus.

Zum Jahresende 1969 hin war die Lage im Hinblick auf die Transformationsversuche  der Jugend- und Studentenbewegung der Jahre 1965 – 1968 in eine proletarisch-revolutionäre Bewegung schließlich völlig diffus geworden. Der Parteibildungsprozess war ins Stocken geraten. Bundesweit werkelten zwar zahllose Grüppchen vor sich hin, aber ein zentrales Organ zur Vermittlung der lokalen Erfahrungen und zur Aufrechterhaltung eines bundesweiten Diskurses gab es  - abgesehen von der Roten Presse Korrespondenz in Westberlin - nicht.  Die vom Bundesvorstand herausgegeben SDS-Berichte erschienen zwar bundesweit, aber erreichten nur einzelne Gruppen, nämlich dort, wo es noch SDS-Strukturen gab.

In dieser Situation rief im Dezember 1969 eine Gruppe um die westberliner SDS-Funktionäre Christian Semler und Jürgen Horlemann zum Aufbau der Kommunistischen Partei Deutschlands auf. Damit schien es möglich, den Gordische Knoten der Stagnation zu zerschlagen. Die Folgen sind bekannt. Parteien und parteiähnliche Organisationen schossen wie Pilze aus dem Boden.

Da keine dieser maoistischen Gründungen aus einem im obigen Sinne kollektiven und diskursiven Parteibildungsprozess hervorgegangen war, sondern voluntaristisch erfolgte, kostümierte man sich hilfsweise als kommunistische Proleten der 1920er Jahre, in der Hoffung mit Aufzügen, Schallmeinkapelle und „richtigen“ Parteitagen Eindruck beim Proletariat zu schinden.  

Linkssozialistische, trotzkistische, anarchosyndikalistische und linkskommunistische  Organisationen, die sich in Abgrenzung gründeten, traten zwar nicht mit einem Parteiführungsanspruch auf, verhielten sich aber letztlich ähnlich sektiererisch, weil sich ihre programmatischen Fundamente nicht aus der Analyse und den Erfahrungen der aktuellen Klassenkämpfe speisten, sondern die Geschichte – wie auch die MaoistInnen -  als klitternden, argumentativen Steinbruch benutzten.

Der Boom dieser K-Gruppen – womit hier auch die T- und A-Gruppen gemeint sind, hielt bis Mitte der 70er Jahre an, dann setzte der Niedergang ein, der Mitte der 80er Jahre abgeschlossen war. Und die niederschmetternde Bilanz lautete:  Politisch praktisch war man kein Jota im Hinblick auf die Schaffung einer revolutionär-proletarischen Partei  vorangekommen, dafür hatte man kräftig direkt wie indirekt mitgeholfen aus der grün-alternativen Bewegung eine liberale Partei für die neuen Mittelschichten zu machen.  

Die Bewegung der SchülerInnen und StudentInnen des Jahres 1968/69, die in den Parteibildungsprozess diskursiv einbezogen war, dürfte bundesweit mehrere Zehntausend umfasst haben. 1975 zählte der Verfassungsschutz jenseits der DKP rund 20.000 Mitglieder im maoistischen bis anarchistischen Organisationsspektrum.

Wenn also der Parteibildungsprozess damals rein quantitativ eine viel breitere Basis als heute hatte, so besaß er im umgekehrten Verhältnis keine qualitative Tiefe. D.h. die damalige Bewegung verfügte  nicht über das Wissen, welches die konstitutiven Elemente sind, um vom Parteibildungsprozess zum Parteiaufbau überzugehen.  Was man damals jedoch - hautnah als kulturell wirkungsmächtige APO verspürte - war, dass diese APO zusehends zerfiel. Eine Entwicklung, die man trotz aller Zerrissenheit nicht bereit war hinzunehmen.

Solch ein Voluntarismus darf sich heute nicht wiederholen.

3)

Das Theorie und Praxis in einem dialektischen Verhältnis zu einander stehen, ist eine Binsenweisheit, die nicht besonders hervorgehoben werden muss, wenn es um den Aufbau einer revolutionär-proletarischen  Partei geht. Was dagegen unverzichtbar ist, sind Darlegungen, aus denen ersichtlich wird, wie sich das Verhältnis von Theorie und Praxis in Bezug auf den Parteiaufbau konkret gestaltet. Dazu findet sich kein inhaltlicher Hinweis im „Schöneberger Papier“.  Stattdessen  eine rein formale Behandlung dieser Problematik:

  • Ziemlich am Anfang ihres Papiers im Abschnitt über die Krise  schreiben die „SchönebergerInnen“: „Eine revolutionäre Organisation ist kein voluntaristischer Akt, sondern wird Resultat verallgemeinerter Kämpfe und Mobilisierungen sein“.
  • Und am Ende ihres Papiers betonen sie, dass die zukünftigen Mitglieder ihrer Partei im Hinblick auf das Parteiprogramm über eine ausreichende theoretische „Selbst-Qualifikation“ verfügen müssen. Schließlich sollen sie in der Lage sein, in „solidarischer Konkurrenz“ zur Linkspartei ihre Partei „glaubhaft rüberzubringen“.

Die „SchönebergerInnen“ wären einfach gut beraten gewesen, die Inhalte des Parteiprogramms konkret zu nennen und aufzuzeigen, woraus ihre theoretischen Verallgemeinerungen der Klassenkämpfe bestehen und welche politische Praxis deshalb im Hier und Jetzt zu entfalten wäre, die im Interesse des Proletariats in die Kapitalverwertungslogik eingreift und die Abschaffung des Lohnsystems auf die Tageordnung setzt. Deshalb wäre es auch zweckdienlich zu erfahren,  auf welchen programmatischen Grundlagen die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise in der BRD  angesichts der weltweiten Kapitalverflechtungen erfolgen könnte.

Schließlich wäre für die weitere Arbeit am Programm darzulegen, für welche Fragestellungen weitere Untersuchungen  unabweisbar erscheinen und welchen Anteil die Beschäftigung mit diesen Fragen im Verhältnis zu den praktischen Erfordernissen des ökonomischen, politischen und ideologischen Kampfes im Parteileben haben soll.

Letzteres führt uns zu der ominösen  „Selbst-Qualifikation“.

Was ist darunter zu verstehen – nicht im Sinne allgemeiner akademischer oder beruflicher Beschäftigung mit Wissenschaft - sondern im Kontext der Parteilichkeit antikapitalistischer Politik?

Ich meine, das selbständige Auftreten in den Klassenauseinandersetzungen erfordert in doppelter Weise die Beschäftigung mit der Theorie:  Einmal als Schulung im Sinne von Aneignung eines theoretischen Werkzeugkastens und zum andern als Bildung im Sinne einer Aneignung von Wissen über die Klassenverhältnisse und Klassenstrukturen.

Daher wäre es ratsam gewesen aufzuzeigen, welches die Gegenstände der Schulung und welches die der Bildung sein sollen, geschuldet den jetzigen Klassenkampfbedingungen und den subjektiven Voraussetzungen der „AktivistInnen“, die die Partei aufbauen sollen.  Allerdings müsste diese To-Do-Liste der Theoriearbeit bestimmt sein von dem Ziel, den Klassenkampf nach drei Seiten hin - Wirtschaft, Politik und Ideologie - zu führen.

Schlussendlich wäre klar zu machen, welche der drei Seiten in der Gründungsetappe der Partei die Hauptseite bilden wird, statt flapsig von „programmatischen und strategischen Leitplanken“ zu sprechen.

Dass sich im „Schöneberger Papier“ zu diesen zentralen Fragen rein gar nichts finden lässt, liegt m. E. nicht daran, dass sie deren Behandlung einfach ablehnen, sondern – ich glaube, dass sie außer gewissen historisch vermittelten Schlagwörtern wie z.B. Einheitsgewerkschaft, Aktionseinheit, Demokratischer Zentralismus, Arbeiterstaat, und zwei literarischen Exkursen sowie einer offenen Baustellenliste nichts Erhellendes zu den Inhalten von Theorie und Praxis für den Parteiaufbau zu sagen haben.

Oder im Umkehrschluss: Eine eingehende  Beschäftigung mit der Theorie/Praxis-Problematik als Schlüsselfrage revolutionärer Organisierung hätte die „SchönebergerInnen“ zu der Erkenntnis geführt,
 

1)      dass, die subjektiven Voraussetzungen weder bei Ihnen noch bei ihren Adressaten und vor allem aber nicht im Proletariat  reif für einen Parteiaufbau sind. Letzteres räumen sie übrigens selber ein, wenn sie das Klassenbewusstsein als „kümmerlich“  einschätzen und die Mehrheit der engagierten LohnarbeiterInnen im Fahrwasser des Reformismus bei der Linkspartei verorten.

2)      dass ihre  Behauptung „Wir treten ein in eine Phase von Revolution und Konterrevolution“ nicht mehr als eine folgenlose verbalradikale Phrase über heutige Klassenverhältnisse und Widerspruchskonstellationen ist und für eine Parteigründung hinten und vorne nicht hinreicht.

3)      dass wir uns in der BRD am Beginn eines Parteibildungsprozess im Proletariat  befinden, den es durch gezielte Untersuchungsarbeit einzuschätzen und voranzutreiben gilt, und nicht vor einem Parteiaufbau stehen.

Allein diese drei Essentials machen die Gründung einer „antikapitalistischen Organisation“  nicht überflüssig, wenn mit der gebotenen  Bescheidenheit herausgestellt wird, dass es sich hierbei um einen linksradikalen Zirkel handeln wird, der sich qualitativ von anderen Zirkeln dadurch unterscheidet, dass er das Zirkelwesen überwinden will. Die politische Relevanz dieses Zirkels würde sich sicherlich erhöhen, wenn sich bestehende Zirkel in diesen hinein auflösen würden.

4)

Um vom Parteibildungsprozess zum Aufbau einer revolutionär-proletarischen Partei übergehen zu können, müssen mindestens zwei Bedingungen erfüllt sein:

a)      Mit der politischen Praxis der lokalen bzw. regionalen Zirkel müssen Untersuchungen über Klassen und Klassenstruktur verbunden sein, die sich in der Programmatik (Forderungen, Losungen, Konzepte, Projekte) der Zirkel widerspiegeln und die zur Verankerung der Zirkel in der Klasse beitragen.

b)      Es muss eine gewisse Quantität an Zirkeln und Zusammenhängen vorhanden sein, in denen sich die revolutionären „Aktivistinnen“ der proletarischen Klasse organisieren, sodass ein Zusammenschluss zur neuen Qualität einer selbständigen Klassenorganisation ausreichend ist.

Dass Klassenanalyse, politisch-revolutionäre Organisierung und Programm als unverzichtbare Aufgabenstellungen zusammengehören, um in der Klassenwirklichkeit erfolgreich agieren zu können, suchen die LeserInnen  im "Schöneberger Papier" leider vergeblich.

Die „SchönebergerInnen“ betonen zwar, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, worin die LohnarbeiterInnen die überwiegende Mehrzahl bilden, doch dass damit nur eine empirische Tatsache ausgesprochen wird, die ohnehin im Alltagsbewusstsein vorhanden ist, erscheint ihnen bereits als ausreichend für den Aufbau einer politischen Klassenorganisation.

Dass die lohnarbeitenden und prekären Massen sich dennoch nicht erheben, dass objektive Klassenlage und subjektiver Faktor vom Standpunkt des Kommunismus aus betrachtet nicht zusammenpassen, muss von den „SchönebergerInnen“ konstatiert, kann aber von ihnen nicht erklärt werden. Stattdessen wird spekuliert, gedeutet und gewertet:

„Das eher kümmerliche Klassenbewusstsein in Deutschland (auch viele KollegInnen echauffierten sich über die faulen, ouzo-trinkenden Griechen, denen „wir“ jetzt unter die Arme greifen müssen“) korrespondiert mit einem offenkundigen Desinteresse „bürgerbewegter Proteste“ an der „sozialen Frage“. Hunderttausende auf der Strasse gegen ‚Stuttgart 21’ und Castor-Transporte, traurige 2000 Leute bei der Bundestags-“belagerung“ anlässlich der Verabschiedung des Sparpakets. Und dennoch ist diese „deutsche Stabilität“ verdammt brüchig – sowohl was die Widerstandspotentiale als auch die ökonomischen Perspektiven angeht.“  (aus dem Abschnitt: Welche Krise ?)

Die Klassenanalyse als ein zentraler Hebel der politischen Praxis ist mehr als die Summe empirischer Untersuchungen über Einkommenshöhe, Bildungsgrad, Familienstand, Freizeitinteressen usw. im begrifflichen Gewand der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie.

Ausgehend von der Tatsache, dass die Ebenen und Bereiche des Politischen und Ideologischen gegenüber der ökonomischen Basis eine relative Eigenständigkeit entfalten und auf diese wiederum zurückwirken, muss eine angemessene Untersuchung dieses Zusammenhangs die realen Machtpositionen und die sozialen Auseinandersetzungen auf allen gesellschaftlichen  Ebenen sowie das Bewusstsein der Akteure mit einbeziehen.

Im Kontext des  Parteibildungsprozesses bedeutet Klassenanalyse  für die AktivistInnen eines antikapitalistischen Zirkels dreierlei:

  1. Teilnahme an den proletarischen Kämpfen zum Zwecke ihrer Untersuchung im Hinblick auf Klassenstruktur und –zusammensetzung
     

  2. Verstehen und politisches Bewerten des subjektiven Faktors, wer ist rechts  - mitte - links
     

  3. Organisierung von LohnarbeiteraktivistInnen zum Zwecke der Verankerung der revolutionären Politik in der Klasse. Oder anders: Die politische Organisation des Proletariats entsteht in ihren Kämpfen.

Und weil es selbst in den kapitalistischen Metropolen nicht nur zwei Hauptklassen gibt, nämlich die Eigentümer von Produktionsmitteln auf der einen Seite und die Verkäufer der Ware Arbeitskraft auf der anderen, verfolgt die Klassenanalyse immer auch den Zweck herauszuarbeiten, welche Nebenklassen und Schichten noch existieren, um auf der Grundlage solcher konkreten Untersuchungen eine entsprechende Bündnispolitik zu entfalten.

Ein provisorisches Fazit

Wenn das Werk der Aufhebung des Kapitalismus nur das der proletarischen Klasse selbst sein kann, dann können die Erfahrungen der internationalen ArbeiterInnenbewegung ein wichtiges Wissen darstellen, um z.B. folgende Aussage zu treffen, wie wir sie im "Schöneberger Papier" finden:

„Eine Lehre aus diesen Fehlentwicklungen betrifft für uns die (Neu-)Justierung des Verhältnisses von Sozialismus und Demokratie. Sozialistische Demokratie wird im Gegensatz zur kapitalistischen „Demokratie“ die bürgerlichen Freiheiten mit sozialem Inhalt füllen. Trotzdem oder gerade deswegen wird es in einer nach-kapitalistischen Gesellschaft nicht weniger, sondern mehr auch „formale“ Rechte wie Organisations-, Presse-, Versammlungs-, Religionsfreiheit geben (müssen).“

Wie dies allerdings einmal konkret aussehen wird, wird sich aus den politischen Verhältnissen, unter denen das Proletariat eines Landes die politischen Voraussetzungen für die Aufhebung des Kapitalismus erringt, ergeben. Das hängt nicht zuletzt auch von den internationalen Machtverhältnissen ab.

Doch die historischen Bedingungen, die die Bourgeoisie hatte, um ihre Klassenherrschaft zu installieren, wird das Proletariat so nicht vorfinden, nämlich: dass die ökonomischen Voraussetzungen des Sozialismus bereits im Kapitalismus so entfaltet sind, wie es die kapitalistischen Verhältnisse in den feudalistischen Regimes waren. Von daher steht das Proletariat eines Landes als Teil des internationalen Proletariats vor ungleich größeren Aufgaben als vormals die nationale Bourgeoisie in den Mutterländern der bürgerlichen Revolution.

Viele andere Erfahrungen der internationalen ArbeiterInnenbewegung mit den realsozialistischen Staaten erscheinen dagegen bereits auf den ersten Blick nicht mehr anwendbar. Und selbst wenn, wären sie energisch abzulehnen, wie z.B.  Staatsgewerkschaften und Einheitspartei als die Organe des Proletariats.

Angesichts der Klassenkämpfe in der BRD und  angesichts des Zustands  aller hiesigen sozialemanzipatorischen Zirkel, Zusammenhänge und Strömungen, ist es nur allzu verständlich, dass es sehr divergierende Ansichten über die Selbstorganisierung des Proletariats gibt. Welcher Weg dabei der richtige lässt sich m.E. nur bedingt mithilfe der Geschichte beantworten. Denn zuvorderst ergibt sich das heute notwendige Organisationskonzept aus den vorgefundenen Klassenverhältnissen und den Kämpfen, sowie aus den daraus abgeleiteten (programmatischen) Zielen. 

Allerdings lassen sich unter den heutigen Klassenverhältnissen sich kaum schlüssige Argumente für zentralistische  Organisationskonzepte finden. Das Kapitalverhältnis ist in den Metropolen so allumfassend, dass es keine Hierarchisierung der Teilkämpfe in Betrieb, Stadtteil, Schule usw. mehr gibt, vor allem dann nicht, wenn der Staat in den Kämpfen als Adressat genommen werden muss.

Insgesamt ist daraus zu folgern, dass nur flache und dezentrale Strukturen für die vorgefundenen Kampfbedingungen angemessen sind. Vor allem  auch deshalb, weil die öffentlichen Strukturen der Informationsverarbeitung, -verbreitung und -bevorratung Kommunikation auf gleicher Augenhöhe und in voller inhaltlicher Breite (technisch) möglich machen. Unter solchen Verhältnissen wird es die Hauptaufgabe bei der Gründung eines Zirkels, der das Zirkelwesen selber überwinden will, sein, zeitgenössische  Strukturen und Verkehrsformen für eine revolutionär-proletarische Organisation zu entwickeln, anstatt ein weiteres Mal in die Mottenkiste der ArbeiterInnenbewegung zu greifen.

Editorische Anmerkungen

Die Thesen erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.