Editorial
Grundwissen


Von
Karl Mueller
7/8-06

trend
onlinezeitung

Unlängst war in der bürgerlichen Presse (Berliner Zeitung vom 22.6.06) zu lesen, dass nach Ansicht der Konzernleitung die Produktion des VW Golfs unrentabel sei. Die Fertigung eines Golfs dauere 50 Stunden, hieß es – der Anteil der Lohnkosten mit 11 % am Produktionspreis sei erheblich zu hoch.  Eine Arbeitsstunde koste den Konzern 55 Euro, branchenüblich seien 40 Euro.  Daher müsse nun der Arbeitstag verlängert werden, indem die Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich von 28,5 auf 35 Stunden heraufgesetzt wird.  

Der Betriebsrat konterte: Es läge nicht an den Arbeitern, dass die Produktion eines VW Golfs 50 Stunden betrüge,  und verlangte, dass das Management über die Neuorganisierung der Fertigungslinie des Golfs nachdenke und in dessen Umbau investiere, anstatt die Arbeitszeit zu verlängern. Immerhin stünden, wenn man nur in die Richtung der Konzernleitung denkt, 20.000 Arbeitsplätze auf dem Spiel. Und beim Vorschlag des Betriebsrats? 

Nun stelle sich mensch einmal vor, eine kommunistische Gruppe wolle hier mit einem Flugblatt propagandistisch intervenieren. Die Vorstellung ist nicht einmal weit hergeholt, denn Jobkill und ArbeiterInnenwiderstand gehören auch in der BRD seit Jahren wieder zum kapitalistischen Business as usual. So werden diese Klassenauseinandersetzungen gerne zur Bühne für die linksradikale Parole: „Wir wollen nicht nur ein Stück vom Kuchen, sondern die ganze Bäckerei!“ 

Doch was hieße dies im vorliegenden Fall konkret? Etwa darlegen, dass der Konzernvorschlag auf die Steigerung des absoluten Mehrwerts hinausläuft, während der Betriebrat die Steigerung des relativen Mehrwerts favorisiert? Unser revolutionärer Zirkel stünde also vor der Schwierigkeit qualitativ mehr über die konkreten Verhältnisse bei VW aussagen zu müssen, als die KollegInnen und ihre Gewerkschaft darüber eh schon wissen. Ja schlimmer noch – sie müssten eigentlich auch in Ansätzen formulieren können, welchen Vorteil es brächte, wenn die Produktionsmittel nicht mehr Privateigentum sondern vergesellschaftet wären.  

Unterstellen wir –  diese GenossInnen griffen zum Mittel der Schulung, um sich für solche Fälle schlau zu machen. Hier erfreut sich das Marxsche Kapital –  vor allem Band 1 -  besonderer Beliebtheit. Denn schließlich sind so genannte Einführungen erhältlich, die es erleichtern, jenen trocknen Zwieback der Theorie zu käuen. Diese Einführungen bedienen sich zwar unterschiedlicher Darstellungsweisen, lassen sich aber letztlich zwei Grundrichtungen zuordnen. Zum einen handelt es sich wie z. B. im Fall von Wal Buchenbergs Das Kapital“ um eine textnahe Zusammenfassung aller Themen, die in den drei Bänden behandelt werden. Dadurch soll  das Studium der Kritik der Politischen Ökonomie zeitökonomischer erfolgen können.

Die andere Richtung wird repräsentiert durch Michael Heinrichs „Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung“. Diesem Autor geht es vor allem darum, das wachsende Interesse an Aneignung von polit-ökonomischem Grundwissen dafür zu nutzen, um jene potentielle LeserInnenschaft für seine Werkinterpretationen anhand ausgewählter Themen aus dem Kapital aufzuschließen.

So grundverschieden diese beiden Richtungen erscheinen, haben sie doch eines gemeinsam: Sie unterlassen es zu vermitteln, dass die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie drei Quellen und drei Bestandteile hat: Ökonomie, Geschichte und Philosophie. Oder wie es Lenin ausdrückte: "Sie (die Lehre von Marx - kamue) ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen Ökonomie und des französischen Sozialismus hervorgebracht hat."

Ebenso marginalisiert wird in jenen Einführungen das Grundproblem jeder Kapital-Schulung, dass es sich hier um eine Wissenschaft handelt, die wie Engels zurecht hervorhebt, "wie eine Wissenschaft betrieben, d. h. studiert werden will".

Aus beiden Überlegungen folgt, dass ein erfolgreiches Studium der Kritik der Politischen Ökonomie - also die Aneignung von für den Klassenkampf notwendigem Grundwissen - nicht zu haben sein wird, wenn die Marxsche Lehre qualitativ wie ein "konkret"- oder "jungle world Artikel" behandelt wird.  Kurzum: wenn sich mensch trifft, um jenes Grundwissen zu erwerben, dann wird es um Konspekte, Referate, Kontrollfragen, weiterführende Literatur etc. gehen - aber nicht um einen Meinungsaustausch von Assoziationen und Mutmaßungen, nicht um Halbwissen, Hörensagen und Befindlichkeiten.

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Am 31.1./1.2.1981 nahmen die Delegierten von über 20 Vereinigungen für revolutionäre Volksbildung (Mitgliederstand ca. 600) an einem Kongress in Frankfurt/M teil. Veranlasst wurde der Kongress vom Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW), der auf seiner ZK-Sitzung am 15.11.1980 Beschlüsse zur Umgestaltung der Schulung gefasst hatte. Mit diesem Vorstoß stand der KBW nicht allein da. In jener Zeit entdeckte so ziemlich jede KG-Gruppe im Niedergang ihre theoretischen Defizite, die dadurch spürbar wurden, dass die Politik der Kampagnen, die in der ersten Hälfte der 70er Jahre den Organisationen reichlich Mitglieder zugeführt hatten, nun gescheitert war. Ein Jahr später, am 8. Mai 1982, stellte bereits eine a. o. Konferenz der Vereinigung das Scheitern ihrer Bildungs- und Schulungsarbeit fest, weil diese sich inhaltlich nicht von der politischen Praxis des KBW emanzipieren konnte. Bald danach wurde die politische Arbeit des KBW eingestellt und 1985 erfolgte schließlich sein formelles Ende.

Wer sich heute mit den Grundfragen revolutionärer Schulungs- und Billdungsarbeit befasst, wird an den damaligen Erfahrungen nicht vorbeikommen. Jene Zersetzung- und Niedergangssituation der K-Gruppen schaffte nämlich einen Diskursrahmen, der im Niedergang der traditionellen ArbeiterInnenorganisationen so nicht entstand. Einschlägige Archive (wie z.B. das APO-Archiv der FU Berlin) sind in der Lage dies zu dokumentieren  und sollten genutzt werden.

Schon beim ersten Studium dieser Dokumente fällt auf, dass damals eine der Hauptfragen war, welche Grundlagen müssen vorhanden sein, ehe ein Kapitalstudium begonnen wird. In einem ausführlichen Bericht über die Schulungsarbeit der Kommunistischen Gruppe Ulm heißt es diesbezüglich: "Nach unseren Erfahrungen hat es sich als günstig erwiesen, das Studium des Marxismus mit dem intensiven Studium eines seiner Bereiche, am besten mit der Philosophie, zu beginnen." (Zirkular zu Fragen der Schulungsarbeit, hrg. v. den Marx-Engels-Bildungsgesellschaften", Nr.4, 1982, S.20)

Und weiter heißt es dazu: "Im Bereich Philosophie ist von den vorgeschlagenen Texten (Mao Zedong: Über die Praxis, Mao Zedong: Über den Widerspruch, Engels: Anti-Dühring, Philosophie-Teil und Marx: Thesen über Feuerbach) der Philosophie-Teil des Anti-Dühring für eine Grundschulung am besten geeignet. Die anderen Texte setzen unserer Ansicht nach bereits tiefere Kenntnisse vor allem in der Dialektik und Erkenntnistheorie voraus, als sie nach dem vorherigen Verlauf der Schulung wahrscheinlich erscheint, wenn sie eine gründliche Beschäftigung und nicht eine oberflächliche Schulung im Stile der alten ml-Bewegung bringen sollen." (ebd. S. 21)

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Bekanntlich hat sich am deutlichsten Michael Heinrich gegen solch ein Verständnis des Studiums der Kritik der politischen Ökonomie abgegrenzt, indem er es mit dem Totschlagargument "Weltanschauungsmarxismus"  belegte, um seiner Leserschaft sozusagen eine ideologiefreie Marxrezeption zu liefern. Das dem nicht so ist, wurde mittlerweile auch kritisiert. In der vorliegenden Ausgabe z.B. durch Hans-Peter Büttner, der darauf verweist, dass Heinrich letztlich Anhänger einer "Gleichgewichtsökonomie" ist, quasi durch eine erkenntnistheoretische Wahrnehmungsschranke, nicht zur Kenntnis nimmt / nehmen will, dass es "sich beim Marxschen Verfahren um eine permanente Bewegung vom Gleichgewicht zum Ungleichgewicht und umgekehrt" handelt.  

Auch Ralf Krämer grenzt sich wissenschaftstheoretisch in seinen "Thesen zur Werttheorie" von einem Marxismus Heinrichscher Provenienz ab, wenn er gegen dessen monetäre Werttheorie schreibt: "Sondern es kommt darauf an, zu begreifen, dass diese Modifikation nicht aufhebt, dass nur die Werttheorie eine grundlegende sozialwissenschaftliche Erklärung und Begründung der ökonomischen Verhältnisse und Proportionen in der bürgerlichen Gesellschaft liefert, nämlich letztlich aus dem Anspruch auf Gegenleistung, den die Arbeitenden für die von ihnen geleistete Arbeit geltend machen."

Gleichzeitig aber macht er deutlich, dass auch er gegen die philosophischen Grundlagen der Marxen Kritik der Politischen Ökonomie zu Felde zieht: "Das ”Kokettieren” (vgl. MEW 23, 85) Marx’ mit hegelianisch-dialektischer Ausdrucksweise bei der Wertformenanalyse ist für das sozialwissenschaftliche Verständnis problematisch."

Dankenswerter Weise erfahren wir alsbald warum.

Nach seinem verkürzten Verständnis der Werttheorie als einer Gesellschaftslehre kann der Kommunismus, nämlich die Aufhebung von Ausbeutung und Unterdrückung, nicht möglich sein: "Der Übergang zu einer sozialistischen Ökonomie ist m.E. nur als ein längerer historischer Prozess gestaltbar, in dem die Gesellschaft kapitalistische Produktion und Eigentumsformen zurückdrängt und eine Dominanz demokratischer Gestaltung und freier Entfaltung der Individuen im gesellschaftlichen Produktions- und Lebensprozess durchsetzt. Dabei wird sie aber m.E. für längere Zeit auch weiterhin auf in regulierten Dimensionen und Formen auch kapitalistische Warenproduktion und monetäre Steuerung angewiesen sein."

Freilich - diesen Satz könnte Michael Heinrich vermutlich ohne ideologische Bauchschmerzen auch unterschreiben.

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Kommen wir zurück zu unser eingangs erfundenen K-Gruppe und dem ihr unterstellten Interesse an einer propagandistischen Intervention für den Kommunismus. Letztlich wäre es egal mit, mit welcher Sekundärliteratur unsere GenossInnen ihr Kapitalstudium begleiten. Denn den wirklichen Schlüssel zum adäquaten Verständnis der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie bildet ein solides philosophisches Grundwissen - nämlich Kenntnisse auf dem Gebiet des dialektischen und historischen Materialismus. Damit ausgestattet würde Heinrichs Einführung in die Kritik der Politischen Ökonomie sogar einen guten Begleittext für die Schulung abgeben. Hier könnten unsere GenossInnen lernen, wie die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie entstellt wurde, indem sie die Ergebnisse ihres Kapitalstudiums auf den Heinrichschen Text anwenden.

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Die "Sommerausgabe 2006" ist - wie jede/r sehen kann - anders ausfallen als die regulären Monatsausgaben. Bedingt durch die Urlaubsituation wird es für Juli/August eine Ausgabe und keine Updates geben. Hereinkommende Artikel werden nicht gesondert rubriziert, sondern fortlaufend dazugestellt.

Mit der Septembernummer geht es dann formal weiter wie bisher. Auf zwei kommende Neuerungen soll aber bereits hier schon hingewiesen werden. Ab der Nr. 9/06 soll es eine neue Rubrik DAS POLITISCHE BUCH geben. Desweiteren wird es ein (Link-)Verzeichnis der beim TREND erschienenen Texte zur Kritik der politischen Ökonomie. Da wird eine Menge zusammenkommen, denn die Rubrik "Texte zur Ökonomie" gibt es seit der Nr. 1/99 und die "Anschauungsmaterialien und Quellen zur Kritik der Politischen Ökonomie" seit der Nr. 5/04.