Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Nachrichten vom Eisenbahnerstreik
 

5-6/2018

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onlinezeitung

09. April 2018: Eisenbahnerstreik und andere soziale Proteste

Die CGT-Eisenbahner spricht von der Perspektive eines „Streiks über Juni d.J. hinaus“ – Solidaritätskassen mit Geldsammlungen für die Streikenden werden gefüllt – Eisenbahner besetzen kurzfristig den Lügensender BFM TV – Studierendenprotest flammt hier und da auf; militante Faschisten attackierten auch an der Universität Tolbiac (Paris) – CFDT entsolidarisiert sich vom Arbeitskampf bei der Fluggesellschaft Air France.

Man müsse sich darauf gefasst machen: Der Streik bei der französischen Bahngesellschaft SNCF könne auch über den bisherigen – bis zum 27./28. Juni dieses Jahres gehenden – Streikkalender hinausgehen.

Streikberichte vom

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Dies erklärte die CGT-Cheminots (CGT Eisenbahner), stärkste Einzelgewerkschaft bei der SNCF und eine von vier dort als „repräsentativ“ (ungefähr: „tariffähig“) anerkannten Branchenverbänden, am Wochenende. // Vgl. https://www.francetvinfo.fr/l und http://www.europe1.fr// Dadurch reagierte diese Gewerkschaft auf das Verhalten der Regierung, die am vorigen Donnerstag, den 05. April laut Aussagen der beteiligten Gewerkschaften eine „Verhandlungsparodie“ hinlegte und sich zu keinerlei Zugeständnissen in der Sache bereit zeigte.

Unterdessen werden mehrere Initiativen für sektorenübergreifende Protestmobilisierungen vorbereitet: Die CGT ruft zu einem Aktionstag am 19. April dieses Jahres auf, und ein gut besuchtes Treffen von Basisinitiativen im Pariser Gewerkschaftshaus am 04. April ergriff die Initiative für einen Berufsgruppen übergreifenden Aktionstag am 05. Mai d.J. (vgl. auch unseren Beitrag vom Freitag, den 06.04.18 zum Thema Sozialproteste in Frankreich).

Eine gewisse Hoffnung könnte darauf begründet werden, dass das Zusammenführen von Protest verschiedener Sektoren die nötige Dynamik schafft, die einen Sieg gegen die Regierung unter Emmanuel Macron und seinem Premierminister Edouard Philippe möglich macht. Warnende Stimmen weisen bereits darauf hin, blieben etwa die Eisenbahner/innen isoliert – kämpften sie in den Augen von weiten Teilen der Öffentlichkeit nur für „ihre eigene Sache“ -, drohe eine Niederlage. // Vgl. ausführlich etwa: https://blog.mondediplo.net // Zumal die öffentliche Meinung derzeit Anzeichen macht, in negativer Weise zu kippen, was ihre Haltung zum Bahnstreik betrifft; vgl. dazu eine Umfrage für die gestrige Sonntagszeitung JDD: // vgl. http://www.lejdd.fr/ //

Zwar hat es in der Vergangenheit Eisenbahn- und Transportstreiks gegeben, welche trotz Unannehmlichkeiten für die Nutzer/innen ausgesprochen populär waren, wie im Dezember 1986 sowie insbesondere im November und Dezember 1995. Allerdings gab es damals z.T. andere Voraussetzungen: Im Jahr 1995 war Präsidentschaftskandidat Jacques Chirac am 07. Mai j.J. mit einem ausgesprochen „sozial“ orientierten Wahlkampfdiskurs zum Staatsoberhaupt gewählt worden – kurz nach der Sommerpause hielt er dann allerdings (am 26. September 1995) eine TV-Ansprache, in welcher er als Kernbotschaft verkündete: „Tut mir leid, Leutchen, ich hatte die Haushaltsprobleme ein bisschen unterschätzt – ein Studium der Haushaltslage (und der europäischen Verpflichtungen Frankreichs) zeigt mir nun, dass es leider leider nichts wird aus den ganzen sozialen Versprechungen.“ Das Publikum führte sich hinters Licht geführt, um nicht zu sagen: tüchtig verarscht; daraus resultierte ein erheblicher und schneller Legitimitätsverlust für buchstäblich alle, nun durch die Regierung verkündeten Maßnahmen. Bei Emmanuel Macron tut sich hingegen kein vergleichbarer, quasi schreiender Widerspruch zwischen seinen Reden im Wahlkampf und dem Handeln danach auf, denn er trat von vorherein als wirtschaftsliberaler „Reformer“ auf den Plan. Allerdings: Den Inhalt der nun geplanten „Reform“ der Bahngesellschaft SNCF (wir berichteten darüber) hat auch er vor seiner Wahl am 07. Mai 2017 eben nicht angekündigt.

Um gesellschaftliche Solidarität rund um den derzeitigen Arbeitskampf bei der SNCF zu mobilisieren, regten zunächst dreißig mehr oder minder prominente Intellektuell an, eine „Solidaritätskasse“ zur finanziellen Unterstützung ihres Streiks einzurichten. Innerhalb von achtzehn Tagen kam dabei bereits eine halbe Million Euro herein, gegen Ende vergangener Woche wurde ein Zufluss in der Größenordnung von 70.000 Euro täglich erreicht. // Vgl. http://www.lemonde.fr/ u.a. und https://www.huffingtonpost.fr/ // Dadurch wird nicht nur Solidarität sichtbar und eine Debatte über eine Positionierung gegenüber diesem Streik möglich, sondern auch den Teilnehmer/inne/n das Durchhalten materiell ermöglicht respektive erleichtert. In der Vergangenheit gab es in Frankreich keinerlei Streikkassen, vielmehr erachteten die Lohnabhängigen, dass sie ja „nicht nur für sich selbst, sondern auch für Andere“ streikten und deswegen den Preis der Solidarität gerne bezahlten. In Zeiten gesunkener Kaufkraft wird dies allerdings immer schwieriger. Ferner gab es früher nach jedem größeren Streik auch eine Art „Nachstreik“, bei dem eine finanzielle Beteiligung des Arbeitgebers am Ausgleich der Lohnverluste hinterher erzwungen wurde. Auch dies ist durch veränderte Kräfteverhältnisse heutzutage weitaus schwerer geworden. Erstmals hat die Mediengewerkschaft CGT Info’Com mit ihrer Berufsgruppen (und Gewerkschaftsgrenzen) übergreifenden Sammelaktion im Frühjahr 2016, während der Bewegung gegen das „Arbeitsgesetz“ (Letzteres wurde am 08.08.2016 trotz fünfmonatiger heftiger Widerstände in Kraft gesetzt), bisherige Traditionen durchbrochen und auch materielle Solidarität organisiert. Teilnehmer/innen des damaligen Streiks 2016 unter den Eisenbahnern berichteten dem Verfasser dieser Zeilen allerdings, für einen zweiwöchigen Verdienstausfall hätten sie aus den seinerzeitigen Streikkassen je zwischen 100 und 200 Euro an Solidaritätszahlungen erhalten, was sie – die Tatsache als solche betreffend – positiv anerkennen, was jedoch ihre realen Einkommensausfälle nicht entfernt auszugleichen vermochte.

Ende voriger Woche besetzten streikende Eisenbahner/innen kurzzeitig den Privatfernsehsender BFM TV, welcher aufgrund seiner Rund-um-die-Uhr-Bildberieselung ziemlich populär ist, jedoch auch durch besonders schroffe und grelle neoliberale Propaganda hervorsticht. // Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=avej1naDM18 // Das Ereignis, das auch im Internet dokumentiert wurde, erlaubte es u.a., einige besonders verbreitete Propagandalügen – nicht nur dieses Senders – zu korrigieren. So wird dort und anderswo regelmäßig behauptet, der „Durchschnittslohn“ von Bahnbeschäftigten liege bei monatlich 3.000 Euro. Dabei handelt es sich jedoch nur um ein mathematisches Mittel zwischen (verbreiteten) tiefen Löhnen und (einigen relativ wenigen) hohen Gehältern, französisch salaire moyen - und nicht um einen Durchschnittswert, welcher unter Gewichtung der jeweiligen zahlenmäßigen Bedeutung jeder Lohngruppe errechnet würde (französisch: salaire médian). Konkretes Beispiel: Verdienen neun von zehn Personen je 1.000 Euro und verdient eine von den zehn hingegen 2.000 Euro, dann liegt der erstgenannte Mittelwert bei 1.500 Euro. Nicht jedoch der reale Durchschnitt, unter Berücksichtigung der jeweiligen Häufung hoher und tiefer Löhne/Gehälter. Real verdienen rund 60 Prozent der Beschäftigten unter 1.600 Euro monatlich (netto). (Anmerkung: „Netto“ hier im französischen Sinne, d.h. nach Sozialabgaben jedoch vor Steuerabzug, weil die Besteuerung bislang jährlich und danach, und nicht wie in Deutschland als monatliche Quellensteuer erfolgt; 2019 soll das französische Steuersystem allerdings umgestellt werden. Wofür Chaos vorprogammiert erscheint.)

Parallel zum Eisenbahnerstreik wächst auch, zumindest örtlich, der Studierendenprotest gegen das Gesetz Loi ORE, das erstmals (seit einem abgebrochenen Versuch der damaligen konservativen Regierung im Herbst 1986) Zugangsbeschränkungen zum Hochschulstudium einführt. Beispielsweise erging an der Universität Lille ein Streikaufruf für Anfang dieser Woche // vgl. http://www.lefigaro.fr/f //. An der sozialwissenschaftlichen Fakultät von Tolbiac im 13. Pariser Bezirk – diese zählt als ausgelagerte Fachschaft zur Universität Paris-1 (Sorbonne) – wurde vergangene Woche ebenfalls ein Streik beschlossen, und Hochschulgebäude wurde besetzt. //Vgl. http://www.lefigaro.fr/ //

In der Nacht vom vorigen Donnerstag zum Freitag (05/06. April d.J.) attackierten auch dort, wie zuvor in Montpellier, Lille und Strasbourg, wiederum militante Rechtsextreme die Besetzer/innen. // Vgl. u.a. https://www.politis.fr/ und http://www.europe1.fr/ oder https://www.huffingtonpost.fr // Verletzt wurde dort allerdings in diesem Falle, anders als besonders in Montpellier, glücklicherweise niemand. Im Nachhinein kam es im Zusammenhang mit dem Angriff zu sechs Festnahmen. // Vgl. http://www.lefigaro.fr/ // Die bürgerlichen Medien stürzen sich nun kurz darauf allerdings auf die Nachrichten, wonach im Inneren Molotow Cocktails (fünf) aufgefunden worden seien, was mit dem Wirken der autonomen Szene im Zusammenhang zu stehen scheint… // Vgl. http://www.lefigaro.fr/ // Die Justiz lehnte allerdings eine Räumungsverfügung, welche die Verwaltung beantragt hatte, bislang ab. // Vgl. http://www.lefigaro.fr/ //

Editorischer Hinweis

Diesen Bericht erhielten wir von B. Schmid für diese Ausgabe.