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Wenn die Brandglocken läuten

von  DIETMAR KESTEN
GELSENKIRCHEN, 18. 12. 1998

12/1998
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Sprechen wir nicht über die amerikanische Aggression, nicht über den Diktator SADDAM HUSSEIN, nicht über die "neue Weltordnung", in die wir hineinstolpern, nicht über die vergangene, oder die heutige Realität, über die irreale Realität, auch nicht darüber, daß das 21. Jahrhundert das Ende der marktwirtschaftlichen Moderne bringen wird. Sprechen wir darüber, was uns so verbittert macht: Jetzt sitzen wir wie- der vor dem Fernseher, wie 1991, starren gebannt auf die Fersehbilder, die CNN aus BAGDAD vermittelt; wieder Gesprächsrunden über "echte" Diskussionstätten, wir blättern die Zeitungen schon fast gelangweilt durch: Neben einem Kommentar zur "Weltmacht USA" lächelt mir TRITTIN entgegen, daneben ein Foto von BARBARA STREISAND, die für den Präsidenten demonstriert, und CHRISTIAN NERLINGER fordert "Nur ein Sieg kann die BVB-Feier retten". 

Der Krieg, ohne den die Öffentlichkeit nicht leben kann, eingepackt in die Alltäglichkeit. Zwischen Gesprächsfetzen, die uns aus BAGDAD erreichen, gibt es Direktschaltungen, so als ob über ein unwesentliches Tennismatch berichtet wird. DIETMAR OSSENBERG, ZDF-Korrespondent, läßt sich nicht aus der Ruhe bringen, während der Himmel über Iraks Hauptstadt hell erleuchtet ist, die Flakgeschosse ihre Spur ziehen. There is no business Like Saddam business- ja, das ist einzigartig und einmalig: Ohne Krieg ist das Leben verdammt langweilig und ohne ihn wäre die publizistische, die telegene Berichterstattung und Darstellung der "Bomben auf Bagdad" vielleicht nur eine simple Soap-opera: Die Dumpfheit, die Gefühlslosigkeit bricht sich Bahn. 

Pars pro toto, im kleinen wird das Große sichtbar, die Drehung des Blickwinkels, die "Tomahawk" Bomben schlagen ein, zielgenaue Präzisionswaffen mit Reichweiten bis zu 1600 km, unterstützt durch Sateliten-Navigation, die "Bunkerknacker"; alles einen Spielfilm suggerierend, auf die heimische Mattscheibe gebannt. Die Arsenale der kommenden Massenvernichtung; es ist transparent, es wird vorgeführt, zur Schau gestellt, die Bomberpiloten neben den Flugzeugträgern, lächelnd, CLINTON, mit herabgelassenen Hosen auf einen Knopf drückend- ein wahrer Staatsmann; SCHRÖDER auf der Seite der Amerikaner, ein getreues Abbild der kasinokapitalistischen Entwicklung, während FISCHER - übernächtigt - schon mehr als lächerliche Kommentare abgibt, JELZIN mit Wut im Buch, aber zahm, da er doch vom Kredittopf des Westens abhängig ist. 

Wir beteiligen uns am Rausch. Wenn es den Fetisch "Krieg" nicht geben würde, dann müßte er erfunden werden. Körper zerfetzen, Menschen verbrennen, die Herzen bleiben auf ewig zerstört; Krieg macht uns heiß, gierig, hektisch, leidenschaftlich und wahnsinnig. Er beschert uns das Feeling, ohne daß der geblendete Mensch nicht mehr auskommt. Wir verehren den Krieg als anbetungswürdigen Gegenstand. Er ist zu einer neuen Kulthandlung geworden, die der Fremdwörter-Duden im nächsten Jahrtausend unter der Rubrik "stilvoll" behandeln könnte. Die Identität des einzelnen und die des Kollektivs werden in ihm bestä- tigt: Emotionen, die eigene Fassungslosigkeit, die Schuld und das Schamgefühl. 

Die Weltlage verschärft sich dramatisch, aber wir packen alles in die unterste Schublade der Seele und erteilen uns jeden Tag unsere eigene Absolution. Ein ganz hervorragender Trick: Der Krieg würdigt die Beteiligten gleichermaßen. In jedem Moment ist er Mythologisierung, Werbekampagne. Wenn CLINTON mit seinem Widersacher in den Ring steigt, dann ist es an der Zeit mal wieder über den "Frieden in der Welt" nachzudenken. Und die deutsche Medienlandschaft horcht auf, die Amerikaner, die wahren Verbündeten, echte Freunde, der "Wüstenfuchs" immer bereit, die "Freiheit" zu verteidigen. KLAUS PETER SIEGLOCH - Kommentator in Washington scheint dafür ein Gespür zu haben, er bringt die ganze "unerschütterliche Wahrheit": Er glaubt, sie glaubt, wir glauben: Es ist alles nicht so schlimm, und wir füh- ren Beweise ins Feld, die den Grad der Seriosität immer verfehlen, zu ei- ner netten Groteske werden lassen. So verlassen wir uns auf Halbwahrheiten, frei nach KARL KLAUS "Das Niveau ist gestiegen, nur steht keiner mehr darauf!". Die amerikanischen Wunderwaffen sind schön anzusehen, sie haben die Qualität eines "Coffee -Table - Pictures"; imaginäre Bilder; sie sind kleine Insignien für Eingeweihte. Doch die "Kultur des Krieges" läßt sich durch sie nicht erkennen. Der Vorgang erinnert tatsächlich an die Werbeaufzüge aus Hollywood, wann kommt der nächste Streifen ins Kino, ins Fernsehen? 

Meine erste Vietnam-Demonstration hatte ich Mitte 1968 mitgemacht. Es ging um ein ultimatives MUß, egal ob man als Pazifist gegen den Krieg war, oder den "Sieg im Volkskrieg" unterstützte. 30 Jahre später sitze ich hier - wie viele von uns - bei Chips und Wein und verstecke den Schmerz. Um nichts zu verpassen, zeichne ich die "Kriegstrommeln" auf Video auf, Programmzeit, Sendezeit, alles auf einmal, die Fernbedienung wird zum Horrortrip, die gane Welt, eine rasende Fabrik! Das ist unser Zeitalter: Wir profitieren von seinen Endzielen, und der Vernichtung; in beiden Fällen ist blankes Entsetzen die Ursache. Den Augenblick zu individualisieren, das ist ästhetisierend, warum gucke ich nur auf die rechte Ecke, auf den Feuerschein, warum nicht auf die linke? Angesichts der historischen Entwicklung der modernen Warenproduktion- pervers!! 

Krieg ist höchste Manipulation; doch die Opfer sind Menschen, bleiben Menschen, schlechte, gute Opfer, gibt es nicht. Diese Idee ist gefährlich, weil sie mit Provokationen verbunden sein kann, eine extreme Gratwanderung, weil die Gewinner und die Opfer in unserer Verantwortung ihnen gegenüber vernachlässigt werden. Zum Jahresende versuche ich mich aus dieser unaussprechlichen Sache herauszureden, herauszustehlen, es gelingt mir nicht. Und ich versuche, die Geschichte zu revidieren, mich selbst als Opfer zu stilisieren; Dialektik des Schicksals, Sehnsucht zu vergessen als wären These und Antithese eins. Soll ich meine Erinnerung in die Landschaft hineinstellen, den Schwerverletzten aus der Ferne "gute Besserung" wünschen, Amis raus schrei- en, alles mit der räumlichen Trennung des Geschehens erklären? 

Wir sind wie eine Klagemauer. Der Krieg ist der Beichtstuhl, des "sündig gewordenen Volkes", das in der "Staatengemeinschaft" gut dazustehen hat. Alles kreist in der einen oder anderen Weise um unsere seelische Mitte: Alles ist Krieg, die moderne Welt ist Krieg. Von HERAKLIT stammt der Ausspruch: "Der Krieg ist der Vater aller Dinge" und CLAUSEWITZ erklärte, daß er "ein Akt der Gewalt ist, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen, er ist die bloße Fortsetzung der Politik (nur) mit anderen Mitteln." Am Anfang schuf die Welt den Krieg; das Mittelalter brauchte den 30- jährigen Krieg, die preußische Geschichte brauchte die Mechanisierung der Kriegsführung um gegen Dämemark oder Österreich loszuschlagen; die Deutschen brauchten VERDUN, später AUSSCHWITZ und TREBLINKA; die Erde wurde blaß und bar; Dunkel lag über ihrem Grund.  

Ich versuche den Schrecken zu beschreiben, in dem ich ihn in Worte   fasse, für den wir bezahlen, weil wir am Krieg verdienen, oder durch das Nachdenken, die Betrachtung über ihn zu traurigen Gestalten wer- den. Ein spannendes Leben: "Ein Gott der Rache ist der Herr!", jetzt verstehe ich, warum die CLINTONs und die SADDAMs auf der Welt Todesurteile vollstrecken können! Die Humansierung des menschlichen Lebens, die Toleranz, wo ist sie? Sind die "Republikanischen Garden", die den Milzbranderreger Anthrax mit sich herumtragen, als sei es eine Ladung Bierfässer, oder die amerikanischen Bomberpiloten, die vielleicht mit dem BRUCE WILLIS Ruf auf den Lippen "Jippiheihe ihr Schweinebacken" ihre Marschflugkörper ins Ziel bringen, friedliebend? Die einen werden mir zustimmen, die anderen den Kopf schütteln. Was wollen wir denn, wohin geht der Weg? 

Die Erinnerung als Ort der Erklärung. Das "kollektive Bewußtsein" ist kein Einigungsband mehr. In den dunkelsten Stunden der Geschichte werden wir von ihm verlassen. Sie hat bewiesen: Wir brauchen einen starken Arm, der uns "sensationelle Siege" verschafft, das Trauma mit den realen Gegebenheiten vertauscht. BAGDAD ist weit weg, JUGOSLAWIEN war weit weg, der SUDAN ist weit weg, das KURDENgebiet usw. Morgen beginnt ein neuer Tag, bald ist Weihnachten, dann ist das Szenario wieder Schnee von gestern, die "Erde hat uns wieder!" Wenn wir uns da mal nicht getäuscht haben!

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