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DER GEIST AUS DER FLASCHE
DIE FAHNENFLUCHT DER DEUTSCHEN GESCHICHTE

von DIETMAR KESTEN, Gelsenkirchen

12/1998
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Wer die Debatte zwischen IGNATZ BUBIS UND MARTIN WALSER verfolgt, der kommt nicht umhin, zu fragen: Was beklagen wir mehr: das Erinnern an die Verbrechen der Vergangenheit, plumpe Debatten der Schuldzuweisung, oder das Forschen nach den Abgründen von damals und die Auseinandersetzung mit den Geschichtsgefahren von heute? Die jeweilige Antwort darauf hat etwas mit einer öffentlichen Debatte über die Geschichte Deutschlands zu tun (aber nicht nur); denn sie ist immer noch eingebunden in Völkisches Denken, Rassismus, Antisemitismus, Verbrechen der Vergangenheit, dem Mord an zig Millionen Juden, an einen totalitären Staat, an die Furcht, die 'unschöne Warheit' könne nur allzuschnell die Geister der Vergangenheit wieder auferstehen lassen. 

So dünn und undurchsichtig ist die Aura, das Aufschlußreichste, daß nichts dem Menschen imponieren kann, wenn es um Vergangenheit und Größe geht: Alle geschriebenen und ungeschriebenen Wörter sind die schrecklichsten Invasionen, Schablonen, Abstraktionen, davor uns Angst und Bange werden muß; vor dem Enthusiasmus der eingefahrenen Denkbahnen, die BUBITZ und WALSER als Zankapfel präsentieren, glaubhaft zu versichern, die letzten 'Geheimnisse' von Ausschwitz ausgesprochen zu haben. Der Streit, den WALSER mit seiner Frankfurter Rede ausgelöst hat, ist nicht neu, die Reaktionen darauf auch nicht: Es geht um Moralität und Schuld, es geht darum, für alle Zeiten tief im Gedächtnis zu haben: Millionenfacher Mord kann niemals Schnee von gestern sein. Der Atem der Geschichte ist lang, die Opfer haben ein Langzeitgedächtnis, und wir, die wir mit den Verbrechen anderer konfrontiert sind, können nicht so tun, als würde allein die Sensibilisierung für das Thema Wiedergutmachung bedeuten!  

Vieles erinnert an den sog. 'Historikerstreit' aus den Jahren 1986/1987, über die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, als ERNST NOLTE (1) mit seinem Aufsatz 'Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus' (2) eine Debatte lostrat, die die nationalsozialistische und 'kommunistische' Massenmordpolitik zum Inhalt hatte, um deren Vergleiche es vielleicht auch nur oberflächlich ging, wenn sie auch in Historikerkreisen anders gewichtet wurden. Wird der bedeutungsvolle Zusammenhang des damaligen Diskurses zuge- spitzt, dann schält sich doch heraus, daß in totalitären Staaten das Erbe der Vergangenheit als Kränkung und Würdelosigkeit empfunden wurde; die Last der Verbrechens den determinierten Geschichtsabläufen zuschoben wurde, und sie von der 'Größe' der Persönlichkeiten in der Geschichte abhängig waren.  

Als 1996 der junge Harvard-Professor DANIEL J. GOLDHAGEN sein Buch   'Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust' (3) vorlegte, schien es so, als würde die alte Debatte neu entfacht, die mit Verdrängung zu hatte, mit Beschuldigungen, mit Anklagen gegen die Staaten der Moderne, ihren Führern, mit universeller Schuldhaftigkeit, etwas, daß ich mit das UNAUFLÖSBARE im menschlichen Dasein bezeichnen möchte; denn Macht und Gewalt sind in der Tat entscheidende Realitäten in der Welt des modernen Menschen geworden; egal wo er sich befindet, in welchem Staat er lebt, und mit welchen Ideologien er durch's Leben geht. 

Die Schuldfrage läßt sich nicht abwischen. Vor allem nicht in politischen Konflikten. Sie spielte eine große Rolle in den Argumentationen zwischen Napoleon und England, zwischen Preußen und Österreich, oder in der französischen Revolution, als DANTON ROBESPIERRE im Konvent vorarf, er würde die 'Ideen der Revolution' verraten, was im übrigen beide nicht vor der Guillotine rettete. Die eigene Vergangenheit ist eine durch die Geschiche gehende Schuld, die im übrigen im Versailler-Vertrag nach dem ersten Weltkrieg noch zuungun- sten Deutschlands entschieden wurde: Alle Seiten seien damals einfach so in einen Krieg 'hineingeschlittert'. (4)

 Ist die Frage, ob wir mit den Nazi-Verbrechen leben müssen, etwas, was auf schuldig, mitschuldig oder nichtschuldig hinausläuft? Klingt die Schuldfrage heute anders als früher? Ohne Zweifel ist der 2. imperialistische Krieg durch Hitlerdeutschland entfesselt worden; und in der Tat vollzieht sich hier eine schmerzvolle politische Haftung, weil wir - ob alt oder jung - damit etwas über unsere völlige politische Ohnmacht erfahren, wenn es um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportationen, Vergasung, Zwangsarbeit, Mißhandlungen von Kriegsgefan- genen, Plünderungen, Zerstörungen von Städten und Dörfern geht. In menschlichen Dingen bedeutet Realität noch längst nicht Wahrheit. Die Instrumentalisierung der Nazi-Verbrechen, die Präzision, mit der die Vernichtung in den Gaskammern geschah, sollte uns nicht von der Anklageschrift befreien. Insofern sind gerade wir Deutsche bei einer moralischen Selbstdurchleuchtung so unwissend im Umgang mit all den Frage die den Korpus der jün- geren deutschen Geschichte umfaßt, geworden: nahezu hiflos; wir betrei- ben nur Sophistik! 

In der ZEIT Nr. 50/1998 hat der Redakteur ROBERT LEICHT in dem Leitartikel 'Warum Walser irrt!' eindeutig Partei bezogen, und der SPIEGEL hat gefragt, ob 'die Schuld verjährt ist?' Leichtfertig schwingt sich LEICHT zur Aussage empor: 'Irgendwann wird kein Deutscher mehr irgendeine Schuld an den Verbrechen der Hitler-Zeit tragen.' (5). Der Waffenstillstand vor den Ereignissen, öffentlich publiziert, tausendfach verbreitet: Man darf sich eben nicht einbilden, daß der Schmerz vergeht, ihn rückgängig machen zu wollen, grenzt an Scharlatanerie; man darf sich nicht einbilden, daß man der Zeit davon laufen könnne, den Schreien eines Säuglings, eines Alten; Schreie sind der Schmerz aller Generationen, aller Opfer, aller lebendiger Wesen. 

Vielleicht sollte man den Automatenschreibern KARL JASPERS 'Die Schuldfrage' (6) empfehlen: Wenn Glaubenslehren zum unverrückbaren Dogma werden, dann haben sie gesiegt. Wer falsche Wertungen trifft, sich einem Rausch der Aufteilung von Gerechten und Ungerechten hingibt, Entschuldigungen präsentiert, als ob jetzt klar sei, wann wir zeitlich mit den Verbrechen des Faschismus nichts mehr zu tun haben, der feiert den Skandal vor unseren Augen. Das ist die Vulgarität der deutschen Politik, des deutschen Bürgertums, die des Widerwärtigen, der Exponenten, der Grillenfänger, Selbstverstümmler; die Halbbarbarei im Kulturkampf. 

In der Erinnerung sind alle Tage gleich; nur nicht für die Opfer: Die toten Juden verdampfen quasi in der Suppe der Schizophrenie des Denkens. NOLTE und GOLDHAGEN hatten recht: einmalig ist jeder Mensch, und die Toten liegen unter derselben Erde: die qualvoll im Gas der Konzentrationslager Erstickten, die, die im 'Vaterländischen Krieg' sinnlos ihr Leben lassen mußten, und die, die für die 'Freiheit des Westens' vom Atomblitz Erschlagenen. Sie alle teilen sich niemals auf in glückliche oder unglückliche Tote, rechnen sich gegeneinander nicht auf, ziehen sich nicht voreinander ab, vergleichen sich nicht: Sie sind heute noch von einer Präsenz, die es unmöglich macht, zu atmen.

 Die innere Dramatik der Geschichte: Mit jedem neuen Verweis auf das kollektive Gedächtnis der Deutschen wird versucht, die Normalität ins Gestrige abzuschieben. Das gelingt immer weniger! Das Bekenntnis allein ist Offenbarung. Am schlimmsten sind die historischen Fehler, die begangen werden. Die Atmossphäre ist unwiderruflich vergiftet. Der wahre Blick hinter die Kamera, daß 'alles nicht so gewesen sei', der Mechanismus und seine Anpassung: Die Vision bricht sich Bahn: Geschichte respektiert weder Nöte noch die spitzfindige Krititk. Die Totalität, Zusammenfassung und Konsolidierung; der historische Hintergrund, ist das nicht Warnung genug, dem scheinbaren Vergessensdramaprozeß KEIN Ende zu bereiten.

 Anmerkungen:

(1) ERNST NOLTE, geb. 1923 in Witten (Ruhr); von 1965 bis 1973 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Marburg; von 1973 bis zur Emeritierung 1991 Professor an der FU-Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: 'Der Faschismus in seiner Epoche' (1963), 'Theorien über den Faschismus' (1967), 'Deutschland und der Kalte Krieg' (1974), 'Marxismus und industrielle Revolution' (1983), 'Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945' (1987), 'Streitpunkte. Heutige und zukünftige Kontroversen um den Nationalsozialismus' (1993), 'Feindliche Nähe - Briefwechsel mit FRANCOIS FURET' (1998), 'Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte' (1998).

 (2) Vgl. den Sammelband:Historikerstreik, München 1989. 

(3) DANIEL J. GOLDHAGEN: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996. 

(4) Vgl. GORDON A. CRAIG: Geschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. II (1914-1975), München 1979.

 (5) ROBERT LEICHT in: DIE ZEIT Nr. 50/1998: Warum Walser irrt. 

(6) KARL JASPERS: Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung   Deutschlands, München 1965.

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