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Befriedung oder Befreiung!
Ostern 1999 in Berlin

Editorial aus der Zeitschrift So oder So

12/1998
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Meist stellt sich eine Initiative einer linken Öffentlichkeit so vor: ihre Enstehungsgeschichte wird erzählt, wann die Idee aufkam, welche Diskussionen geführt wurden und wer mitmacht. Natürlich auch, wie so oft, wer austieg und aus welchen Gründen. Dazu gehört auch die Versicherung, daß die „Inhalte“ alle betreffen und an den gesteckten Zielen entschlossen festgehalten wird.

Müssen wir das auch so machen? Nein. Wir betonen auch nicht die Wichtigkeit unserer „Inhalte“. Sie sprechen für sich, lies' sie - und entscheide dich.

Die Krise der Linken und die Übermacht von Widrigkeiten sind 100 Mal beschrieben worden. Die radikale Linke hat dies in den letzten Jahren genug getan. Die Frage nach den politischen Gefangenen beantwortet sich von selbst. Ein Blick in die Knäste genügt. Wer ist draußen, wer ist drinnen? Und das wie lange schon? Die Antwort darauf, und dies gilt im Besonderen für die deutschen Verhältnisse, ist zugleich scharfe Kritik an der radikalen Linken selbst.

Die Verantwortung für neue Perspektiven, sie wird zumeist entkoppelt von einer Auseinandersetzung mit der Geschichte der Linken und ihrer Widersprüche. Zu ihr gehören die bewaffneten Rebellionen und Kämpfe im Süden wie in den westlichen Industriemetropolen gleichermaßen. Dies anzuerkennen verlangt nicht die Zustimmung zu allen Aktionen und Taten, aber es verlangt die historisch und aktuell eingeschlagenen Wege radikaler Aufbrüche anzukennen, als das was sie waren und sind: Befreiungsversuche der Vernunft aus der Brutalität und Unvernunft kapitalistischer Weltverhältnisse. Politische Gefangene kommen aus diesen Kämpfen um eine Umwälzung. Die Frage nach ihnen kennt keine nationalen Grenzen.

Tonino Paroli, ein alter Militanter der italienischen Roten Brigaden, bemerkte dazu vor gut einem Jahr in einem ähnlichen Zusammenhang: „Als das Auto erfunden wurde, fuhr es zunächst langsamer als die Pferde liefen. Die Ingenieure sagten nicht: 'Also werden wir weiterhin mit der Kutsche fahren', sondern 'Folglich werden wir das Auto verbessern'. Vielleicht sind der Kommunismus und der Sozialismus in den letzten 70 Jahren diese schöne Erfindung gewesen, die jedoch viel langsamer als die Pferde vorwärts kam“.

In Berlin geht es nicht um den bewaffneten Kampf. Er entscheidet sich nicht auf Konferenzen, sondern aus den gesellschaftlichen Zuständen und der erkannten Notwendigkeit ihrer Umwälzung.

Libertad behauptet einen solchen Kampf nicht und es wäre auch Unsinn dies zu tun. Solidarität mit politischen Gefangenen ist kein Ersatz für ansonsten fehlende Radikalität, sie ist schlicht und einfach Bedingung für eine Politik, die an anderen Werten, als an denen der Herrschenden orientiert ist.

Die alten Bezugssysteme internationaler Befreiungsstrategien sind nicht erst mit dem Zusammenbruch der staatssoziali-stischen Systeme sowjetischer Prägung nicht mehr brauchbar. Die „Einkreisung der Städte durch die Dörfer“ (Mao), die Eröffung einer Front im „Herzen der Bestie“ (Che) ist dort gebrochen, wo der nunmehr global entfesselte Kapitalismus bei Verschärfung der sozialen und ökonomischen Widersprüche alte Unterschiede tendenziell einebnet und neue Abhängigkeiten schafft. Die Diskussion um Demokratie und Menschenrechte ist heute darin zugleich der Diskurs der Herrschenden.

Wie das auflösen, welcher Weg ist zu gehen?

Berlin soll ein Versuch und eine Einladung sein, sich den Voraussetzungen emanzipatorischen Politik wieder zu nähern. Schon das ist schwer genug. Ausgangspunkt ist die Lage der politischen Gefangenen und die Notwendigkeit ihrer Unterstützung. Über sie zu sprechen, heißt über die Gründe ihres Kampfes, über die Ursachen gesellschaftlicher Unterdrückung zu diskutieren, und wie aus ihr zu entkommen ist. Das Motto „Befriedung oder Befreiung“ findet seine konkrete Übersetzung in den grundsätzliche-ren Fragen: Was heißt ein Leben in Würde und Selbstbestimmung? Was ist Autonomie? Wer bestimmt über das Recht auf Erinnerung und internationale Solidarität, und, was verlangt Solidarität heute?

Gelingt dies ansatzweise, so kann unserer Meinung nach auch ein Beitrag geleistet werden, die bittere Niederlage im Kampf um die Freiheit der politischen Gefangenen in der BRD in ihrem jüngsten Verlauf nicht nur als eine speziell deutsche Tragödie zu begreifen.

Für uns ist es auch eine der Bedingungen, über eine Zukunft jenseits utopistischer Träumereien wieder anzufangen zu reden. Eine solche Zukunft ist verbunden mit Erinnerung. Erinnerung daran, was über Jahrzehnte eine zentrale Linie im politischen Selbstverständnis einer Linken war: radikale, systemüberwin-dende Politik, sie ist allein aus den gesellschaftlichen Zuständen der weißen Industriemetropolen nicht zu entwickeln. Ausgangspunkt kann nur die Gesamtheit der weltweiten Widersprüche, der Kämpfe, Bewegungen, Rebellionen gegen den Kapitalismus selbst sein.

Heute ist eine so verstandene internationale Verständigung zwangsläufig etwas offenes. Schnelle Antworten gibt es nicht. Die Solidarität mit Gefangenen, Unterstützung und Aufklärung über ihre Lage, das ist auch kein taktischer Kniff, keine Flucht aus der Tristesse deutscher Verhältnisse, sondern Bedingung um letzte zu verstehen und perspektivisch wieder in sie wirksam eingreifen zu können. Darum sollte es gehen, hartnäckig und erfindungsreich. Dazu möchten wir alle auffordern.

Die deutschen Zustände, „sie stehen unter dem Niveau der Geschichte, sie sind unter aller Kritik... Mit ihnen im Kampf ist die Kritik keine Leidenschaft des Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft“ (Marx). Das gilt heute mehr denn je. Die Gründe dafür stehen in jeder bürgerlichen Zeitung, jeden Tag.

„So oder So“, die Zeitung für die Berliner Konferenz ist in diesem Sinne auch programatisch zu verstehen: So oder So, die politischen Gefangenen müssen raus! Die Wege und Mittel dafür sind vielfältig: Amnestien, Freilassungskampag-nen, Ausbrüche... Die Freiheit bestimmt sich über die konkreten Möglichkeiten und gesellschaftlichen Kräfterverhältnise. Darüber wollen wir in dieser und in folgenden Nummern berichten.

Schwerpunkt unserer ersten Ausgabe ist das Baskenland. Welche Rolle spielt die „Gefangenenfrage“in der aktuellen politischen Dynamik einer möglichen politischen Lösung? Was sagen diejenigen dazu, die seit Jahren die Sache der Gefangenen vertreten?

Das Beispiel Argentinien. Vor kurzem besuchte eine Vertreterin von Libertad! ein internationales Treffen zu politischen Gefangenen in Buenos Aires. Wie ist die Lage politischer Gefangener in den südamerikanischen „Demokratien“ nach der Diktatur der Bajonette? Wer erinnert noch an die „Verschwundenen“ und was ist zu tun?

Die So oder So Redaktion

Alle Artikel der Zeitung für die Internationale Konferenz "Befriedung oder Befreiung! Perspektiven Internationaler Solidarität" in Berlin 1.-5.4.1999 gibt es bei: http://www.libertad.de

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