Betrieb & Gewerkschaft

Das Dilemma „rätekommunistischer“ RGO-Politik

von
Jakob Schäfer, Forum gewerkschaftliche Gegenmacht, Wiesbaden

12-2012

trend
onlinezeitung

Nach dem Gewerkschaftspolitischen Ratschlag vom 22./23. September 2012(1) veröffentlichte die Strike-Redaktion einen sehr kritischen Artikel (2), der danach auch im Labournet verlinkt wurde.(3) Zu den wesentlichen Differenzen soll hier kurz Stellung genommen werden.

Die Strike-Redaktion schreibt:

Denn die „Grundsatzdebatte“, die da mit einem „Gewerkschaftspolitischen Ratschlag“ ausgelöst werden soll, bezieht sich in erster Linie darauf, den sozialdemokratisch-christlichdemokratischen Einheitsgewerkschaften die Notwendigkeit einer Arbeitszeitverkürzung mitzuteilen, damit „die gerechtere Verteilung von Arbeit“ und „die Schaffung von Räumen und Zeit für andere Formen demokratischer Beteiligung“ möglich werden können.

Wir wollen klarstellen: Die Gewerkschaftslinke (jedenfalls soweit sie in der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken vertreten ist) will nicht „den“ Gewerkschaften beispielsweise die „Notwendigkeit der Arbeitszeitverkürzung“ näher bringen. Denn den völlig in das kapitalistische System integrierten Gewerkschaftsvorständen können wir nichts nahelegen, wir können sie nicht überzeugen. Es wäre eine völlige Illusion.

Aber wir kämpfen in der Tat dafür, dass in den Gewerkschaften eine andere Politik zum Durchbruch kommt, dass mit der bisher praktizierten Klassenzusammenarbeit radikal gebrochen wird und sich die Gewerkschaften als Kampforganisationen zur Verteidigung der Klasseninteressen (der unmittelbaren wie auch der historischen) verstehen.

[…] den Gewerkschaften bzw. der Gewerkschaftsbürokratie soll verklickert werden, dass die Clique um Sommer, Huber, Bsirske & Co. wenigstens die ureigenen Positionen der Sozialpartnerschaft und des Klassenkompromisses wieder entdecken sollen.

An dieser Passage wird deutlich, dass die Strike-Redaktion – ähnlich wie die Mainstream-Medien – „die“ Gewerkschaften mit ihren Vorständen (genauer: mit der Gewerkschaftsbürokratie) gleichsetzt.

Die Aufforderung der heutigen „Gewerkschaftslinken“ dockt an eine Idee an, die mit der Phrase vom „organisierten Kapitalismus“ und der „Wirtschaftsdemokratie“ verknüpft ist.

Woraus die Strike-Redaktion diesen Vorwurf ableitet, erschließt sich mir jedenfalls in keiner Weise. Wer sich etwa die Plattform der Gewerkschaftslinken anschaut oder auf unsere Stellungnahmen blickt oder – was letztlich das Entscheidende ist – unsere tägliche Praxis in den Betrieben und unteren Gliederungen der Gewerkschaften in Augenschein nimmt, der/die wird ohne Mühe feststellen, dass wir uns auf die Förderung der Eigenaktivität der Klasse orientieren und dass wir parallel dazu bestimmte Forderungen propagieren, die unserer Ansicht nach im Mittelpunkt der Klassenauseinandersetzung stehen sollten. Von „Wirtschaftsdemokratie“ und ähnlichem Blödsinn ist dabei nirgendwo die Rede!

Mit viel gutem Willen könnten wir bis hierher noch von Missverständnissen zwischen der Gewerkschaftslinken und der Strike-Redaktion sprechen, die vergleichsweise leicht auszuräumen wären (oder sind, wenn es denn das Interesse an einem ernsthaften Austausch gibt). Der Kern der Differenz wird aber an folgender Stelle deutlich:

Also sparen wir uns das Vorhaben, den DGB bzw. seine Gliederungen zu irgendetwas bewegen zu wollen. Das, was wir uns an dieser Stelle an Herzblut und Energie aufsparen, kann an anderen „Interventionsorten“ wesentlich sinnvoller eingebracht werden. .[…] Der DGB ist sprichwörtlich ein Auslaufmodell, dem seit mindestens zwei Jahrzehnten signifikant die Mitglieder abhanden kommen. Und das völlig zurecht…

Es muss unter Linken nicht lange darüber debattiert werden, dass gestandene Bürokraten, erst recht, wenn sie üppige Gehälter beziehen wie in den Gewerkschaftsvorständen, kein Interesse an selbsttätigen KollegInnen oder gar am Klassenkampf haben.

Unsere Position in der Frage der Gewerkschaftsarbeit unterscheidet sich mindestens auf zwei grundsätzlichen Ebenen radikal von der der Strike-Redaktion:

Erstens ist es in keiner Weise in Stein gemeißelt, dass die Mehrheit der unteren Gliederungen der Gewerkschaften sich mit der versöhnlerischen Politik der Gewerkschaftsführungen abfinden oder dies ewig so hinnehmen. In einer ganzen Reihe von Fragen gibt es heute schon sehr wohl kämpferische Stellungnahmen (und bisweilen auch entsprechende praktische Aktivitäten) in vielen Vertrauenskörpern oder örtlichen/bezirklichen Delegiertenversammlungen, Vertrauensleutevollversammlungen usw. Genau dort gilt es, unserer Ansicht nach für eine andere Politik – etwa in Sachen Leiharbeit – zu werben, denn es ist eben keineswegs zwingend, dass Betriebsräte überhaupt der Einstellung von Leihkräften zustimmen. Im Gegenteil.

Hier gibt es große Handlungsmöglichkeit, wenn denn die KollegInnen davon überzeugt sind!

Entscheidend ist, dass wir in den relativ „ruhigen Zeiten“ wie heute nur wenig Entwicklung hin zu mehr Selbsttätigkeit, zu kritischerem Bewusstsein, zu klassenkämpferischen Aktivitäten haben. Wenn sich mehr Betroffenheit einstellt, wenn in der Tiefe der Klasse der Wille zu mehr Widerstand wächst, dann kann sich die politische Ausrichtung auf den unteren Ebenen der Gewerkschaften auch in vergleichsweise kurzer Zeit ändern. Es sei nur auf die Entwicklung einiger Gewerkschaften in Großbritannien in den letzten Jahren verwiesen. Letztlich kann die Entwicklung/Veränderung von Gewerkschaften nicht losgelöst vom allgemeinen Bewusstseinsstand in der Klasse gesehen bzw. verstanden werden.

Und dass eine andere, eine klassenkämpferische Politik „der“ Gewerkschaften (also auf allen Ebenen) nur vorstellbar ist, wenn im Verlauf eines heftigen Richtungskampfes die vorhandenen Führungen durch andere Kräfte ersetzt werden (und dabei auch das Funktionieren der Gewerkschaften umgekrempelt wird), versteht sich dann von selbst.

Zweitens stellt sich nicht nur auf der Ebene der Arbeit in gewerkschaftlichen Gremien (etwa Vertrauensleutekonferenzen) die

Frage: Wie kommen wir überhaupt mit der Masse der KollegInnen ins Gespräch und letztlich auch zu gemeinsamen Aktivitäten? Was ist denn das konkrete (auch vielfältig differenzierte) Bewusstsein in den Belegschaften? Sind denn diejenigen, die konkret bei einem Abwehrkampf gegen Entlassungen oder dergleichen bereit sind, auf die Straße zu gehen (bzw. einen solchen Kampf sogar konkret anführen), auch bereit, sich einer revolutionären Organisation anzuschließen?

Eine rätekommunistische Gewerkschaft ist natürlich nicht nur einfach eine „Richtungsgewerkschaft“ (was in der BRD überhaupt keine Tradition hat), sondern sie ist eine Organisation mit dezidiert revolutionärem Anspruch. Wir würden sie deshalb eher als eine Partei begreifen, denn als eine Gewerkschaft. Die große Masse der KollegInnen (um nicht zu sagen: mehr als 99% der Betroffenen) begreifen die Gewerkschaften als eine unmittelbare Interessenvertretung, die jedem offen steht, der sich für die grundlegenden Interessen der Kolleginnen und Kollegen einsetzt. Die Gewerkschaften bilden deswegen – mindestens in Deutschland mit seinem stark verankerten Bewusstsein von Einheitsgewerkschaften – die tagtägliche Einheitsfront der (politisch differenzierten) Belegschaften. Genau genommen ist die Gewerkschaft das faktische Einheitsfrontorgan der bewussteren Kolleginnen und Kollegen.

Wer sich außerhalb dieser Gemeinschaft stellt und die KollegInnen mit seinem revolutionären Anspruch konfrontiert, wird – heute noch viel mehr als in den zwanziger Jahren – als kompletter Außenseiter/Außenseiterin verstanden und nicht als „GewerkschafterIn“. Die Absonderung von der Masse der KollegInnen war schon die grundlegend falsche strategische Orientierung der Revolutionären Gewerkschaftsopposition in den 1920er Jahren. Und sie ist es erst recht heute, wo es kein Bewusstsein (keine Kenntnis) von konkurrierenden Organisationen der „Arbeiterbewegung“ gibt.

Dies wird beispielsweise auch an folgendem Faktum deutlich: Es gibt einige Bereiche, wo zwei verschiedene Gewerkschaften miteinander konkurrieren. Wenn es DGB-Gewerkschaften sind, dann in der Regel, weil sie sich um die BeitragszahlerInnen streiten (dann sind es rein bürokratische Eigeninteressen der jeweils betroffenen Apparate). Aber es gibt auch Fälle, in denen KollegInnen sich beispielsweise von einer DGB-Gewerkschaft abwenden und sich einer Spartengewerkschaft anschließen. So geschehen bei den Verkehrsbetrieben in München oder in Wiesbaden, wo Busfahrer von ver.di zur GDL gewechselt sind (Ähnliches ist in Berlin bei der S-Bahn gelaufen usw.). In all diesen Fällen wechseln die KollegInnen, weil sie sich einer kampfwilligen und kampffähigen Gewerkschaft anschließen wollen. Sie würden niemals dorthin wechseln, wenn die andere Gewerkschaft nicht den Nachweis (nicht nur ihres Kampfwillens sondern auch) ihrer Durchsetzungsmacht an den Tag gelegt hätte. Der Wechsel zur UFO (letztlich hervorgegangen aus einer verdi-Vorgängerorganisation) und der Nachweis ihrer Streikfähigkeit etwa im September 2012 ist nur ein weiteres Beispiel.

Und genau das ist das Dilemma der historischen wie der heutigen RGO-Politik. Als Richtungs“gewerkschaft“ können solche Organisationen in dem einen oder anderen Betrieb mal ein paar Stimmen sammeln oder in einem Kleinbetrieb auch – letztlich aufgrund gewisser günstiger Bedingungen oder Zufälligkeiten – mal die Mehrheit der Kolleginnen organisieren oder auch einen begrenzten Kampf führen (wie etwa in dem Berliner Filmtheater Babylon, einem Kleinbetrieb), aber das ist es dann auch. Die Masse aller Auseinandersetzungen wird entweder von gewerkschaftlichen Strukturen (der DGB-Gewerkschaften oder der Spartengewerkschaften) auf den unterschiedlichen Ebenen geführt (oder auch mal ganz spontan, nur bleibt es dann leider sehr begrenzt) oder sie finden einfach nicht statt, weil es eine in größeren Kreisen anerkannte andere Organisation neben den Gewerkschaften in den Betrieben einfach nicht gibt. Das ist die Realität.

Wer sich die Mühe der tagtäglichen Überzeugungsarbeit und des Kampfes für eine andere Gewerkschaftspolitik nicht machen will (und lieber in einer kleinen feinen revolutionären „Gewerkschaft“ wirken will), der/die hat zwar weniger Stress mit rückständigen Gewerkschaftskollegen, muss sich nicht gegen Bürokraten behaupten usw., wird aber letztlich an den großen Auseinandersetzungen, die noch kommen werden, kaum wirksam teilnehmen können.

Mit der Feststellung

Der DGB fällt als Teil sozialer Protestbewegung jedenfalls aus.

ist der heutige Stand der Dinge erst mal richtig benannt. Aber daraus können zwei sehr entgegengesetzte Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Strike-Redaktion zieht in bester RGO-Tradition – den unsres Erachtens politisch katastrophalen Schluss:

Wenn‘s um Grundsätzliches in der Gewerkschaftsfrage gehen soll, dann auch um die Frage nach der… „Zertrümmerung der Gewerkschaften!“

Mensch kann auch den ganz anderen Schluss der Notwendigkeit zur Veränderung der Gewerkschaften ziehen. Auch zu Marx’ Zeiten waren die Gewerkschaften alles andere als revolutionär. Aber das hinderte diesen Pionier der modernen kommunistischen Bewegung nicht daran, zeitlebens sich für eine Änderung der Politik der vorhandenen Gewerkschaften einzusetzen. Wofür er dabei eintrat hat er beispielsweise in „Lohn. Preis Profit“ so dargelegt:

Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d. h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems. (MEW Bd. 16, S. 152)

Anmerkungen

1) http://www.jungewelt.de/2012/09-25/046.php sowie http://www.labournet.de/GewLinke/vers/ratschlag12resolution.pdf
2) Zeitschrift für revolutionären Unionismus und Rätekommunismus: Strike Redaktion : Das Dilemma der „Gewerkschaftslinken“ 28. September 2012 bei Trend veröffentlicht in Nr. 10/2012
3) Labournet-Rubrik: Debatten der realexistierenden Gewerkschaften.

Editorische Hinweise

Wir  erhielten dieses Statement über

Forum Betrieb, Gewerkschaft und Soziale Bewegung Berlin
E-Mail: forumberlin@web.de
Wer wir sind und was wir wollen:
http://www.labournet.de/GewLinke/profile/berlin.html

Der Text selber erschien bei http://www.netzwerkit.de