Ulrich Weiß
Denunziatorische Kapitalismuskritik

aus: Kapitalismus – Sintflut ohne Arche?
Notizen von Ulrich Weiß zum Schwarzbuch des Kapitalismus von Robert Kurz
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Seit 150 Jahren gibt es Marx’ Theorie, auf die sich sowohl die Ideologen des gescheiterten Aufklärungs-„Sozialismus“ wie die der unterschiedlichsten westlichen Avantgarden verbal bezogen und die sie in wesentlichen Grundzügen zugleich ignorierten. In Marx’ Verständnis ist die bürgerliche Produktionsweise mit ihren extremen Gegensätzen, barbarischen Zügen und vernichtenden Krisen ganz und gar nicht absurd, nicht von einer angenommenen Natürlichkeit entartet. Sie ist kein Produkt eines Priesterbetruges, das durch Aufklärung und Erziehung aufzuheben wäre, sondern eine der „progressiven Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformationen“. (MEW 13/9)

Im Kommunistischen Manifest wird geradezu gejubelt über die Fähigkeit der Bourgeoisie, die kapitalistische Produktion beständig zu erweitern und umzuwälzen. Und das Kapital ist keine Aufzählung von Absurditäten, sondern die Darstellung der inneren (sozusagen gerechten, nicht betrügerischen) Logik der kapitalistischen Produktionsweise inklusive ihrer barbarischen Züge. Die Widersprüchiche der kapitalistischen Form der Zivilisation sind nicht das Produkt der Bösartigkeit der Kapitalistenklasse und ihrer Ideologen. Die Eigenschaften dieser Klasse wie die der Proletarier entstehen und verändern sich mit der kapitalistischen Produktionsweise als eine ihrer Bedingungen.

Mit Marx’ Theorie, beginnend etwa mit der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (MEW 1/378-91) und den Thesen über Feuerbach (MEW 3/5ff), sind auch die Grenzen und der letztlich bürgerliche Charakter des Anklagens kapitalistischer Barbarei zu verstehen. Im Sinne des Erkennens von Bedingungen und Wegen des Aufhebens des Kapitalismus ist denunzierende Anklagerei kontraproduktiv. Denunziation bedeutet hier, dass für die Missstände bestimmte soziologische Gruppen (Klassen) und deren Ideologen verantwortlich gemacht werden, dass aber die Empörung nicht zu den Bedingungen des tatsächlichen Aufhebens des Beklagten vordringt.

Die moralisierende Kapitalismuskritik hatte in der Vergangenheit durchaus eine zivilisationsfördernde Funktion. Indem sie kapitalistische Barbarei als Ausdruck von Absurdität, als Abweichung von Natürlichkeit, als Bösartigkeit von bestimmten Personengruppen darstellte, konnten sie tatsächlich Unterprivilegierte mobilisieren. Durch diesen Kampf war auch eine Verbesserung ihrer Lebenslage erreichbar. Eine Erfolgsbedingung dieses Ringens war allerdings die Unterordnung von Teilen der unterdrückten Klasse unter trade-unionistische und avantgardistische Führungen.

Die Grenze dieses Kampfes ist dort erreicht, wo die Sicherung und der Ausbau von Zivilisation bedeutet, die Existenzbedingungen der Klasse(n) und damit auch die Bedignungen ihrer bisherigen Kraft (inklusive der Reproduktion bürgerlicher Strukturen in ihren Kampforganisationen) selbst aufzuheben. Die Denunziation der kapitalistischen Verhältnisse als absurd ist nicht geeignet, diese Tatsache zu begreifen. Es wird so nicht klar, dass es die Lebens-, Arbeits und Denkweisen der Unterpriveligierten selbst sind, also die Bedingung auch ihrer bisherigen Stärke im Klassenkampf, die radikal geändert werden müssen.

Das bedeutet hinsichtlich unserer Suche nach den möglichen Wegen aus dem Kapitalismus: Wer die kapitalistische Barbarei zornig als bösartige Abweichung von einem angenommenen natürlichen vernünftigen Zustand anklagt, kann die im Kapitalismus selbst entstehenden materiellen und subjektiven Voraussetzungen für die Aufhebung dieser Barbarei nicht erkennen. Wer also etwa die angebliche Absurdität der extremen Einkommensunterschiede zwischen Lohnarbeitern und Großspekulanten zum Gegenstand seiner Anklage und seiner Hoffnung auf Gerechtigkeit macht, versteht das Wesen der kapitalistische Produktionsweise, das seiner eigenen Existenz, und damit die Möglichkeiten der Aufhebung von Kapitalismus nicht.

Kurz’ heiliger Zorn auf den Kapitalismus als etwas Teuflisches ist auch deshalb ärgerlich, weil ihm all das Obengenannte bekannt sein müsste. Er kennt sich in der Marxschen Theorie einigermaßen aus. Er selbst hat nicht nur das bürgerliche Wesen des Ostens nachgewiesen (wozu zum Beispiel traditionelle kommunistische Parteien und ihre Nachfolger meist nicht in der Lage sind). Er stellt im Schwarzbuch (289ff) auch dar, wie ein verkürzter, denunziatorischer Antikapitalismus sogar zum mörderischen faschistischen Antisemitismus werden kann. Und er hat seit ca. 30 Jahren persönlich die Geschichte der gescheiterten westlichen Aufklärungsrevolutionäre durchlebt, durchlitten und durchdacht.

All das müsste ihn geradezu für die Erkenntnis prädestinieren, dass Kapitalismus (inklusive seiner real-„sozialistischen“ Variante) eben nicht als Priesterbetrug zu verstehen ist. „Priesterbetrug“ meint hier, dass Kapitalismus als ein künstlich entstandenes und aufrechterhaltenes, aber eigentlich widernatürliches Gebilde begriffen wird, dass also dieser angebliche Betrug wie die von ihr scheinbar böswillig installierten Verhältnisse durch Aufklärung und durch Beseitigung der Priester (hier der kapitalistischen Unternehmer, ihrer Ideologen und Machtmittel) aufzuheben wäre. Für die bürgerliche Ideologie (den ML eingeschlossen) gilt, was Marx seinerzeit für die Religion erkannte: Sie ist nicht als ein von Priestern/Propagandisten verabreichtes Opium für das Volk zu verstehen und aufzuheben. Sie geht vielmehr als „Opium des Volkes“ aus gesellschaftlichen Strukturen hervor. Diese Verhältnisse, die der Religion bedürfen, „produzieren die Religion“. (MEW 1/378f)

Wenn die von Kurz als bösartig kritisierte bürgerliche Ideologie aufhebbar sein soll, dann müssen in der gesellschafltichen Grundlage materielle und ideelle Voraussetzungen für eine solche revolutionäre Praxis im Entstehen sein, die, keiner Ideologie mehr bedarf. Wer also diese Ideologie überwinden will (und die Gesellschaft, aus der sie unvermeidbar hervorgeht), muss sich für die Formen und die realen Keimformen einer solchen Praxis interessieren und sich für deren Durchsetzung engagieren. Mit einem Verständnis des Kapitalismus als Resultat von Betrug und Terror geht das nicht.