Bahamas 33/2000

„Kindermörder“

Noch einmal über Antisemitismus, Zionismus, Deutsche und Palästinenser

von Horst Pankow 
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Wer heute angesichts der Inschrift „Kindermörder“ neben einer Berliner Synagoge nach Antisemitismus in der BRD des 21. Jahrhunderts zu fragen wagte, dem würde möglicherweise der folgende Satz um die Ohren gehauen: „Wir dulden keinen Antisemitismus, keine Schändung von Friedhöfen, religiösen und kulturellen Einrichtungen, keine feigen Übergriffe auf Menschen in unserem Land.“ Ein Satz, der seinen Platz in einem Aufruf zu einer Demonstration hat, mit der die staatstragenden Parteien und Verbände dieses Landes am 9. November den vom Bundeskanzler geforderten „Aufstand der Anständigen“ zu initiieren beabsichtigen. (1)  „Eine Demonstration, die vor der Synagoge in der Oranienburger Straße beginnt, und vor dem Brandenburger Tor, dem Symbol von Teilung und Einheit endet,“ kommentiert der Berliner Tagesspiegel den Aufstandsbeginn, „nimmt den geschichtlichen Spannungsbogen bewusst auf.“ Also eine Art symbolische Heimholung der ermordeten und vertriebenen Juden in eine deutsche Einheit gegen „Rechtsextremismus und Gewalt“?

Wer trotzdem weiter nach Antisemitismus in der „Berliner Republik“ fragte, der würde vielleicht darauf hingewiesen, daß kürzlich bei der offiziellen Feier zum 50jährigen Bestehen des Inlandsgeheimdienstes Verfassungsschutz auch der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland eine von den versammelten Wächtern der FdGO heftig applaudierte Ansprache hat halten dürfen. Wem auch das noch nicht reichte, dem würde gewiß von der Verleihung des Leo-Baeck-Preises an die Witwe des berüchtigten Verlegers Axel Springer berichtet. „Der Leo-Baeck-Preis wird alljährlich vom Zentralrat der Juden in Deutschland an Persönlichkeiten vergeben, die verdienstvoll für den jüdisch-christlichen Dialog wirken.“ (Berliner Zeitung) Der Inhalt all der Auskünfte, die statt einer Antwort auf die Frage nach aktuellem deutschen Antisemitismus gegeben würden, wäre stets der gleiche; er ist identisch mit dem ersten Satz des Aufrufs zur Staats-Antifa-Demo am 9. November: „Wir [alle staatstreuen Deutschen, H. P.] stehen ein für ein menschliches, weltoffenes und tolerantes Deutschland, für das friedliche Zusammenleben aller Menschen in diesem Land, ungeachtet ihrer Weltanschauung, Religion, Kultur und Hautfarbe.“ Und die Inschrift „Kindermörder“ neben der Synagoge?

 

I. Die Preisverleihung an die Verlegers-Witwe schloß im allgemeinen Verständnis das Wirken ihres verstorbenen Gatten ein. „Texte Axel Springers mit heute prophetisch anmutenden Warnungen, vorgetragen vom Schauspieler Uwe Friedrichsen, bestärkten den Eindruck, dass hier politisch demonstrativ auch ein Posthum-Preis vergeben werden sollte.“ (Berliner Zeitung) Springers Prophetie bestand immer in der paranoiden Warnung vor allerlei Feinden von Nation und Verfassung. Feinde, die – zumal wenn es sich um innere handelte – in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer realen Bedeutung als übermächtige halluziniert wurden, gegen deren Umtriebe nur die Geschlossenheit der Volksgemeinschaft, die stets denunziationsbereite Wachsamkeit der Bürger und ein bis an die Zähne mit Repressionsmitteln gerüsteter Staat hilfreich sein konnte. Die Feinde, vor denen die Springersche Prophetie warnte, trugen – und tragen auch unter der Ägide seiner Nachfolger – allesamt die Züge des Juden aus der NS-Propaganda: Zersetzung, Extremismus und Terrorismus fördernde Sympathisanten, die unter der Maske bürgerlicher Reputation ihre Herkunft aus dem Sympathisantensumpf zu verbergen wissen, durch Ausnutzung deutscher Gutmütigkeit Überfremdung betreibende Asylbetrüger, von ehrlicher deutscher Arbeit parasitär existierende Sozialschmarotzer usw.. Anders als es linke Kritiker der Springer-Presse traditionell vorwerfen, manipuliert diese allerdings nicht die Köpfe der geschätzten Volksmassen, sondern artikuliert deren Bedürfnis nach Aussonderung und Eliminierung der als sozial schädlich Begriffenen. Ein Bedürfnis, das wie so manches andere die militärische Niederlage des Nationalsozialismus unbeschadet überstanden hatte.

Als Arafat und die Seinen hierzulande noch als die Bösen galten, wurden sie in den Karikaturen der Springer-Presse – allerdings nicht nur dort – , mit den aus den antijüdischen NS-Darstellungen bekannten jüdischen Nasen und den entsprechend verschlagenen Augen präsentiert. Ein offenbar automatischer Reflex, der bis zum zweiten Golfkrieg 1991, als die erste Zeichnergeneration, die ihr Handwerk noch bei NS-Blättern gelernte hatte, längst in Rente gegangen war, funktionierte. Gerade an der Springer-Presse ließ sich beobachten, daß deutscher Philosemitismus nichts anderes als ein Zerrbild des deutschen Antisemitismus ist.

Das Springersche Israel während des Kalten Krieges war ein projiziertes Deutschland. Real war Israel, wie auch die BRD, dem Zwang der politischen Weltkonstellation gehorchend, in das politische und militärische System des Westens eingebunden. Ebenso real, jedoch völlig anders als die BRD, wenngleich von der Mehrheit ihrer Bewohner als ähnlich phantasiert, war Israel tatsächlich von einer feindseligen Staatenwelt umgeben. Sich gegen diese erfolgreich zu behaupten, verschaffte dem jüdischen Staat bei den gegen ihren Willen, den ungeniert zu äußern seinerzeit freilich nicht opportun schien, in das westliche US-dominierte System eingebundenen Westdeutschen einen unheimlich anmutenden Respekt. Zutreffend beschreibt Ulrike Meinhof nach dem für Israel siegreichen „6-Tage-Krieg“ 1967 in der konkret die deutsche Stimmung: „Erfolg und Härte des israelischen Vormarsches lösten einen Blutrausch aus, Blitzkriegstheorien schossen ins Kraut, BILD gewann in Sinai endlich, nach 25 Jahren, die Schlacht von Stalingrad. ... die Nichteinmischung der Sowjets wurde als Ermutigung erlebt, es in der deutschen Frage den Israelis gleichzutun; der Einmarsch in Jerusalem wurde als Vorwegnahme einer Parade durchs Brandenburger Tor begrüßt.“ (2)  Über Meinhofs leider nicht sehr glückliche Schlussfolgerungen aus ihren Beobachtungen wird später noch die Rede sein.

Der Kalte Krieg ist vorbei und auch Springers und der Deutschen Israel ist längst nicht mehr die phantasierte Heimstatt der Tapferen, der irgendwie deutsch gewordenen Juden. Die Preisverleihung an die Springer-Witwe durch den Zentralrat der Juden mag dem verzweifelten Wunsch entspringen, die proisraelische Stimmung der späten 60er Jahre in eine Zeit zu retten, in der Israels Existenz mit Recht bedrohter erscheinen kann als seinerzeit. Es ist jedoch ein vergeblicher, ja illusorischer Wunsch. Denn heute ist Israel für die Deutschen bestenfalls ein Land wie jedes andere, und es steht als ein auf internationale Zustimmung und Unterstützung angewiesenes Land zur staats- und menschenrechtlichen Disposition. Des Bundeskanzlers „Sympathie für die nationale Erwartung der palästinensischen Nation“ (FAZ) dürfte wohl von 99,8% der deutschen Nation geteilt werden, denn öffentliche Bekundungen von Politikern und Journalisten sind nach wie vor die maßgeblichen Indikatoren für die Bedürfnisse des loyalen und willigen Publikums.

Wäre der Springer-Witwe und ihrem verstorbenen Gatten der Preis aufgrund der perspektivgebenden Aktivitäten ihrer Blätter verliehen worden, ginge das schon in Ordnung, wenngleich es nicht den wahrscheinlichen Intentionen des Namenspatrons entspräche. Für antisemitische Zuschreibungen aller Art konnte die Springer-Presse über Jahrzehnte eine Avantgarde-Rolle beanspruchen, keineswegs jedoch ein Monopol. Wurden bis in die späten 80er Jahre alle hetzerischen Innovationen der Springer-Blätter von der „seriösen“ Presse alsbald übernommen oder zumindest „zur Diskussion gestellt“, so gilt das in den 90ern und erst recht jetzt längst nicht mehr. Heute ist das, was einmal mit dem Namen Springer als Markenzeichen eines besonders niveaulosen Hetz-Journalismus verbunden war, publizistisches Allgemeingut in Deutschland geworden. Sekten, Serben, Sozialbetrüger ... , wer vermag die von deutschen Massenmedien kreierten infamen Feinde, deren sich Deutschland in den letzten Jahren zu erwehren hatte, noch lückenlos aufzuzählen. „Dies ist die Spinne, die ihre Fäden durch Internet und Gesellschaft webt“, beschwört unfreiwillig grotesk, gleichwohl in bewährter antisemitischer Manier, die Frankfurter Rundschau die kürzlich entdeckte „rechte Gefahr“. Den 35.000 zur Staats-Antifa-Demo am 9. November erwarteten willigen Marschiertrotteln aus dem Berliner Öffentlichen Dienst – „Wer demonstriert, kann früher gehen“ (Tagesspiegel) – dürfte herzlich egal sein, ob die „Gefahr“ nun von „rechts“, von „links“ oder von „echten“ Juden ausgeht. Ausschlaggebend ist: „Am 9. November aber müssen die Bürger Präsenz zeigen. Das sind sie diesem Staat und der wieder gewonnenen Einheit schuldig.“ (Tagesspiegel) Und ihre Pflicht und Schuldigkeit gegenüber dem Staat werden sie als Deutsche wohl erfüllen. Aber wer hat die Inschrift „Kindermörder“ neben der Synagoge angebracht?

 

II. Leider fügt Ulrike Meinhof ihrer treffenden Beschreibung der BRD-deutschen Stimmung anlässlich des israelischen Sieges im „6-Tage-Krieg“ eine recht unglückliche Interpretation hinzu. Zunächst faßt sie die Haltung der veröffentlichten Meinung und der Stammtische polemisch zugespitzt so zusammen: „Hätte man die Juden, statt sie zu vergasen, mit an den Ural genommen, der Zweite Weltkrieg wäre anders ausgegangen, ...“. Dies mag als Auslegung temporären Überschwangs zwangsverhinderter deutscher Strategen berechtigt gewesen sein. Die daran sich anschließende Schlußfolgerung offenbart sich zumindest heute als grundfalsch: „ ... die Fehler der Vergangenheit wurden als solche erkannt, der Antisemitismus bereut, die Läuterung fand statt, der neue Faschismus hat aus den alten Fehlern gelernt, nicht gegen – mit den Juden führt Antikommunismus zu Sieg.“ Was waren die „Fehler der Vergangenheit“ für die 60er-Jahre-Westdeutschen? Zunächst einmal, daß Hitler einen Zwei-Fronten-Krieg geführt hatte, der nach Ansicht der spätberufenen NS-Kritiker von Anfang an zur Niederlage verurteilt war, hinzu kamen Detailkritiken bezüglich des verpatzten Zeitpunktes beim Einmarsch in die Sowjetunion („russischer Winter“), die ganz Schlauen hatten auch damals schon bemerkt, daß der NS keine Demokratie war, und, ach ja, „das mit den Juden war nicht richtig“, das mit den Arbeitsplätzen und Autobahnen aber schon. Daß der Antisemitismus „bereut“ worden wäre, gar eine „Läuterung“ stattgefunden hätte, ist eine maßlose Überinterpretation der damaligen westdeutschen (Zweck-)Loyalität gegenüber den geostrategischen Interessen der USA, in deren Kalkül Israel tatsächlich so etwas wie ein „Brückenkopf“ in der seinerzeit weitgehend prosowjetischen nahöstlichen Staatenwelt darstellte. Diese Überinterpretation stellt freilich auch den schlagendsten Beweis dafür dar, daß „Reue“ und „Läuterung“ auch von den radikalen Kritikern der damaligen BRD niemals eingefordert wurde, da sie ja angeblich schon – initiiert durch politische Sachzwänge – vollzogen worden waren. Weil der „neue Faschismus“ nun „mit den Juden“ gegen den Kommunismus marschierte, brauchte über den Nationalsozialismus und seine Menschheitsverbrechen, über die direkte Beteiligung der ersten BRD-Generationen nicht mehr gesprochen werden. Eine Kritik an den deutschen Verhältnissen konnte so, unter Absehung der die BRD-Verhältnisse wesentlich konstituierenden NS-Volksgemeinschaft, als allgemeine Kapitalismuskritik betrieben werden, so als sei das deutsche Zentrum der NS-Barbarei nichts anderes als ein von Nazis besetztes Land gewesen.

Apropos „neuer Faschismus“: Damit war nicht nur, und letztlich im Gesamtzusammenhang unwesentlich, die korporatistische BRD im Zeichen der Notstandsgesetzgebung gemeint, sondern zuerst einmal das von den USA organisierte westliche politische und militärische Bündnis kapitalistischer Staaten, dem die BRD ihren (Wieder-)Aufstieg zur imperialistischen Macht zu verdanken hatte. Zweifellos eine äußerst üble Angelegenheit, aber warum gleich „neuer Faschismus“? Daß die traditionelle Linke – und dazu gehört weitgehend auch die um „’68“ entstandene „Neue Linke“ – das Schreckbild unmittelbarer, personaler, mithin „faschistischer“ Machtausübung offenbar zur Selbstlegitimation aufgrund ihres Glaubens an die „wahre“ Demokratie brauchte und braucht, ist eine Sache. Eine andere, bislang wenig beachtete, ist der Umstand, daß die deutsche „Neue Linke“ mit ihrem Faschismusvorwurf an die maßgebliche westliche Siegermacht des 2. Weltkriegs die spiegelverkehrte Ergänzung des vom „bürgerlichen“ Lager an die Sowjetunion gerichteten Totalitarismusvorwurf betrieb. So waren „linke“ und „bürgerliche“ Deutsche, ohne es zu wissen, Beteiligte am kollektiven Gesamtkunstwerk der Abspaltung und Projektion des NS in die Sieger über den Nationalsozialismus.

Es waren dann deutsche Linke, die den Faschismus auch auf den Staat der jüdischen Opfer des NS projizierten. (3)  Auch wenn seit 1967, als diese Projektion erstmalig betrieben wurde, noch etwa 25 Jahre vergehen mußten, bis sie und die politischen Schlußfolgerungen daraus begannen, Allgemeingut des deutschen Polit-Mainstreams zu werden, für nicht wenige der damaligen Beteiligten scheint es sich gelohnt zu haben. Als gereifte „68er“ bestimmen sie heute die deutsche Politik, auch gegenüber Israel. Der „Altlinke“ Schröder bekam kürzlich als erster offizieller Nachkriegsdeutscher von Arafat einen Palästina-Orden an die Brust geheftet. Hat etwa jemand von diesen Leuten „Kindermörder“ an die Mauer neben der Synagoge geschrieben?

 

III. Die historische Bedeutung und Notwendigkeit des Zionismus nicht erkannt zu haben, ist einer der verhängnisvollen und kardinalen Fehler der Linken, besonders der deutschen. Eine linke Kritik des Zionismus als bürgerliche Nationalbewegung der Juden war solange angemessen und auch historisch notwendig als die Aussicht auf eine nicht in grauer Zukunft situierte revolutionäre Aufhebung des Kapitalismus auch eine Aufhebung der sozialen und ideologischen Grundlagen des Antisemitismus in Aussicht stellte. Zu fragen ist allerdings, ob das offenkundige Fehlen einer zureichenden Erklärung des Antisemitismus durch die antikapitalistischen Revolutionsbewegungen in der Zeit vor dem Menschheitsverbrechen der deutschen Nationalsozialisten diese Einschätzung nicht tangiert. Antisemitismus wurde von revolutionären Linken traditionell entweder als leicht kurierbare Dummheit, als Relikt vorkapitalistischer Verhältnisse oder als Manipulationsstrategie zur Spaltung der Unterklassen begriffen. Ein Instrumentarium zur Diagnostizierung des Antisemitismus als Ausdruck des durch den „Fetischcharakter der Ware“ bedingten „notwendig falschen Bewußtseins“ (Marx), als Resultat des Bedürfnisses nach Personalisierung der prinzipiell unpersönlichen Funktionsweise von Warentausch und -produktion, als wahnhaften Versuch, die staatlichen Versprechen von allgemeiner realer Gleichheit vor den materiellen Quellen persönlichen Glücks durch Identifizierung und Dingfestmachung vorgestellter Verkörperung prinzipieller Ungleichheit für ihre illusorische Erfüllung zu retten, lieferten fragmentarisch erst die Autoren der „Kritischen Theorie“. Deren Ansätze zu einer materialistischen (4)  Theorie des Antisemitismus kamen freilich zu spät; publiziert und rezipiert wurden sie in Europa erst als der Massenmord an den Juden bereits vollzogen war. Eine die „Kritische Theorie“ notwendig ergänzende, an den Marxschen Überlegungen zum „Warenfetisch“ orientierte grundsätzliche Wertkritik begann nahezu fünfzig Jahre nach der Katastrophe in der antikapitalistischen Linken zaghaft Platz zu greifen.

Bei aller Verachtung gegenüber den politischen Ausdrucksformen des Antisemitismus waren die radikalen Linken vor dem Nationalsozialismus gegen die Struktur der Welterklärungsmuster des antisemitischen Wahns nicht nur nicht immun, sie haben sie – freilich in der Regel ohne Juden als Feindbild – auch selbst mit produziert. Ihre Verklärung der körperlichen – vermeintlich einzig produktiven – Arbeit, ihr Haß auf den Müßiggang und ihre Illusion des Arbeiterstaates – wenn auch nur als Übergangsphase begriffen – prädestinierte sie für die Niederlage bzw. für die Integration in die faschistische Massenbewegung. Nachdem der Antisemitismus in den deutschen Vernichtungslagern nicht nur seinen vorläufigen Höhepunkt und als Ausrottungspraxis endlich zum Kern seiner „Identität“ gefunden hatte, als die Deutschen zumindest ein Ziel ihres Weltkrieges – die Vernichtung zumindest der europäischen Juden – nahezu erreicht hatten, verhielten sich die Linken so, als wäre mit der Massenvernichtung nur ein weiteres unter vielen faschistischen Verbrechen geschehen. Die Linken ignorierten ebenso wie die Parteigänger der nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus scheinbar wieder ins Lot gebrachten herkömmlichen Ordnung, daß das, was sich im Namen Auschwitz verdichten sollte, die bisher bekannte, mittels sozialer und politischer Auseinandersetzungen scheinbar in Richtung einer besseren Zukunft sich entwickelnde Welt grundlegend verändert hatte. Das zeitweise zum billigen Bonmot modisch-linker Zeitgeistsurfer verkommene Rosa-Luxemburg-Zitat, in dem die historischen Möglichkeiten „Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei“ ausdrücklich benannt werden, hatte sich im Sinne des „Rückfalls“ grausig bewahrheitet. Nur war Auschwitz kein Rückfall in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, denn die Entwicklung der bürgerlichen Zivilisation selbst, die im Sinne der Aufklärung und der ihr folgenden revolutionären Ideen mittels Entfaltung der Vernunft und der sogenannten „Produktivkräfte“ die Voraussetzungen für die endgültigen Emanzipation der Menschheit in einer befreiten Gesellschaft schaffen sollte, führte stattdessen zur Barbarei mit den Mitteln dieser Vernunft und auf der Grundlage der Entfaltung dieser Produktivkräfte. Die Ignoranz dessen durch Bürgerliche ebenso wie durch Linke ist ein weiteres Zeugnis dieser Barbarei. Eine Verweigerung dieser Ignoranz hätte auch das Eingeständnis bedeutet, daß Auschwitz die fundamentale narzistische Kränkung eines jeden historischen Optimismus darstellt. Aus der Verarbeitung dieser Kränkung hätte die verbindliche Einsicht entstehen können, daß menschliche Emanzipation nur in grundlegender Negation aller ökonomischer und staatlicher Formbestimmungen sich vollziehen kann.

Die Begründer des Zionismus waren offenbar am Ende des 19. Jahrhunderts ohne es selbst zu wissen weiter als manche Linke noch heute. Der Verlauf bürgerlichen Fortschritts hat ihnen recht gegeben. Spätestens mit Auschwitz wurde der Zionismus als jüdisches Selbstbewußtsein, das sich auch materiell – d. h. hier gewaltsam – zu behaupten weiß, für die Juden zur Überlebensnotwendigkeit. Schließlich hatten die Deutschen unter Beweis gestellt, wozu der Antisemitismus in seiner Konsequenz fähig ist. Wenn ein auf solche Weise gewaltsam zur „Nation“ befördertes Kollektiv sich einen Staat schafft, ist dies in einer Welt, deren Normalzustand die gewaltförmige Organisation in Staaten ist, nicht nur nicht verwunderlich, es ist erforderlich. Die Gründung des Staates Israel war insofern nur konsequent. Israel ist für alle Juden eine Bedingung relativer Sicherheit, solange es Antisemitismus gibt. Gerade antinationale Linke haben daher das scheinbare Paradoxon zu akzeptieren und auf sich zu nehmen, daß es ihre Aufgabe ist, die Existenz des Staates Israel und seiner nationalen Interessen bedingungslos zu verteidigen. O.K., aber wer hat „Kindermörder“ neben die Synagoge geschrieben?

 

IV. Die Existenz Israels ist heute gefährdeter denn je. In allen bisherigen Verteidigungskriegen gegen seine vernichtungswütigen arabischen Nachbarstaaten, konnte es sich letztlich der westlichen Unterstützung sicher sein. Bis zum Ende des Ostblocks waren die USA die wichtigste äußere Garantiemacht seiner staatlichen Souveränität. Im US-amerikanischen Kalkül stellte Israel den Vor- und Wachtposten westlicher – das hieß bis 1990 vor allem US-organisierter – Interessen in einer Region dar, deren Regierungen das Selbstbewußtsein aufbrachten (oder denen es zumindest zuzutrauen angebracht schien) sich in wesentlichen außen- und wirtschaftspolitischen (Öl) Angelegenheiten auch am sowjetischen Interesse zu orientieren. Bis 1990 war auch von der offiziellen BRD kaum Kritik an Israel zu vernehmen. Nach den Zusammenbruch des Ostblocks wurden die Karten in der „westlichen Wertegemeinschaft“ bekanntlich neu gemischt. Weder sind die USA der westliche Hegemon geblieben, noch bedarf es eines westlichen Vor- und Wachtpostens in einer Region, die wie alle Regionen alternativlos dem Diktat des Weltmarktes ausgesetzt ist. Insofern nimmt das US-amerikanische Interesse an Israel merklich ab. Seit Beginn der 90er Jahre gefallen sich US-Repräsentanten in der Rolle des „Vermittlers“, d. h. der territoriale Anspruch der PLO auf israelisches bzw. israelisch besetztes Territorium wird nicht nur anerkannt, auch die Alptraumvision einer palästinensischen Staatsgründung wird damit auf die Tagesordnung gesetzt. Im Oktober dieses Jahres wurde erstmals durch Stimmenthaltung der US-Delegierten eine Verurteilung Israels durch den UN-Sicherheitsrat ermöglicht.

Mit den sogenannten Palästinensern steht Israel das derzeit wohl aggressivste antisemitische Kollektiv gegenüber. Nach dem Überflüssigwerden der sozialrevolutionären Camouflagen palästinensischer „Befreiungs“-Organisationen verdichtet sich ihr politischer Anspruch in dem alltäglich von Minaretten und Rundfunksendern verkündeten „Tod den Juden!“, umrahmt von der bizarren Rhetorik eines islamistischen Klerikalfaschismus. Ähnlich wie der nationalsozialistische Vernichtungs-Antisemitismus scheut auch dessen aktuelle palästinensische Variante kein persönliches Opfer und schreckt auch nicht vor der zynischen Aufopferung der eigenen Gefolgschaft zurück. Wenn es nur das Ziel der Vernichtung der Juden voranbringt, werden selbst Kinder massenhaft in den „Märtyrer“-Tod geschickt. Die palästinensischen Judenhasser treiben dabei eine Methode auf die Spitze, die bereits im Bosnien-Krieg von ihren muslimischen Glaubensbrüdern praktiziert wurde: Muslimische Stellungen feuerten aus Krankenhäusern, Kindergärten und Schulen auf die serbischen „Belagerer“ Sarajewos und wenn diese dann zurückschossen, hatte man die von den westlichen Fernsehteams sehnsüchtig erwarteten „unschuldigen Opfer“. Wenn palästinensische Kinder in den jüngsten Unruhen mit Steinen auf israelische Soldaten losgingen, wurde ihr Steinhagel zumeist von hinter ihnen postierten Scharfschützen mit Kugeln unterstützt, das israelische Gegenfeuer traf dann in der Regel die Kinder. Bisher ist nicht bekannt, daß es auf Seiten der Palästinenser nennenswerten Protest gegen dieses Vorgehen gab, im Gegenteil die Leute scheinen stolz darauf zu sein. Vielleicht entspringt diese abgefeimte Methode der Kinderverheizung ja durchaus auch einem wahnhaften Reflex auf die reale ökonomische Situation und die zu erwartende Zukunft. Unter dem Diktat des Weltmarktes steht bereits jetzt fest, daß ein palästinensischer Staat keinen anderen Status beanspruchen könnte als eine weitere Heimstatt der Überflüssigen, an deren produktiver Vernutzung niemand interessiert sein wird. Ein solcher Staat wird kaum eine andere Überlebensmöglichkeit haben, als seine Bürger beständig für Kriege, die nichts anderes als Raubzüge sein können, in ständiger Mobilisierung zu halten. Für alle Schwierigkeiten, für alles Elend werden wohl die Juden verantwortlich gemacht werden. Solange ein jüdischer Staat im Nahen Osten existiert, wird er also Haßobjekt insbesondere der Palästinenser sein, gleichgültig welche territoriale Größe ein solcher Staat haben wird. Die wird solange nicht ausreichen, wie Israel existiert. Am deutlichsten kommt der palästinensische Judenhaß wohl in der Fotografie jenes jungen Mannes zum Ausdruck, der nach dem Lynchmord (5) an drei wehrlosen israelischen Gefangenen stolz seine blutverschmierten Hände der johlenden Masse und den Kameras präsentiert. Sein verzückter Blick macht deutlich worum es ihm gegangen ist: Mindestens einmal im Leben Juden umgebracht zu haben; egal, was danach mit ihm geschieht. Möglich, daß Freunde diese Leute „Kindermörder“ neben die Synagoge geschrieben haben?

 

V. Der israelische Staat kann sich der palästinensischen Vernichtungswut, die Selbstvernichtung achselzuckend in Kauf nimmt, nur durch äußerste Härte erwehren. Dies einzugestehen fällt schwer, aber mehr noch als durch den Eindruck der fanatisierten Judenhasser wird dies durch den Zeitpunkt der Ende September begonnen Unruhen bestätigt. In den kurz zuvor abgeschlossenen „Camp-David-Gesprächen“ hatte die israelische Seite unter dem Druck der US-„Vermittlung“ den Palästinensern weitgehende, niemals vorher so ausdrücklich formulierte Zugeständnisse bezüglich der Entwicklung von territorialer Autonomie in Richtung Staatsgründung gemacht. Dies ist ganz offensichtlich als Schwäche interpretiert worden. Der israelische Staat ist aber nicht nur mit dem palästinensischen Volkszorn konfrontiert, sondern auch mit dessen internationaler Unterstützung, vor allem aus Deutsch-Europa.

Deutschland war der erste europäische Staat, der ein sogenanntes „Vertretungsbüro“ in der palästinensischen Autonomiezone eröffnete, woran sich nahtlos die vollständige diplomatische Anerkennung des zu gründenden Staates anschließen soll. Hinzu kommt eine finanzielle „Aufbauhilfe“ gigantischen Ausmaßes: „Die pro Kopf geleistete wirtschaftliche Unterstützung der Bundesrepublik ist schon jetzt nirgends so hoch wie in den Palästinensergebieten. Für die 2,9 Millionen dort lebenden Menschen sagte die Bundesrepublik, inklusive der noch in den kommenden Jahren laufenden Projekte, bereits 465 Millionen Mark an finanzieller und technischer Hilfe zu. ... Seit 1993 [dem Beginn der palästinensischen Autonomie, H. P.] bis heute steckte die Bundesrepublik weit mehr als 200 Millionen Mark in den Aufbau der Palästinensergebiete. Dazu kommen Fonds mit noch einmal knapp 100 Millionen Mark.“ (taz) Die Bundesdruckerei hat laut Spiegel bereits Pässe und Briefmarken des künftigen Staates Palästina hergestellt. Auf seiner jüngsten Nahost-Tournee stockte Schröder diese Hilfeleistungen noch um die medizinische Versorgung palästinensischer Straßenkämpfer in Deutschland auf. Der dankbare Arafat heftete ihm dafür einen Orden an die Brust.

Neben dem traditionellen deutschen Interesse an den Feinden der Juden motiviert aber gerade die aussichtslose Zukunft des Palästinenserstaates die BRD-Gratifikationen. Man geht nun im Nahen Osten – angespornt durch das wachsende amerikanische Desinteresse an der Sicherheit Israels – ähnlich vor wie auf dem Balkan. Durch Initiierung aus eigener Kraft nicht lebensfähiger Kleinstaaten, deren einzige Perspektive der Krieg ist, will man sich Trümpfe für kommende imperialistische Neuaufteilungen der Weltregionen in Form abhängiger Satrapenstaaten schaffen. Sollten also Anhänger der gegenwärtigen Regierung „Kindermörder“ auf die Wand neben der Synagoge geschrieben haben?

 

VI. Eine radikale antinationale und antideutsche Linke, die sich der fundamentalen Negation von Staat und Ökonomie verschrieben hat, sollte sich in den Widerspruch, die nationalen Interessen Israels zu verteidigen, nicht nur deshalb begeben, weil Deutschland zunehmend offener und effektiver die Feinde Israels unterstützt. Sie sollte dies vor allem aus zentralen Eigeninteresse auf sich nehmen. Denn ein weiterer Massenmord an Juden, eine Wiederholung von Auschwitz würde alle Hoffnungen auf eine Emanzipation der menschlichen Gesellschaft von Kapital und Staat zunichte machen. Mit dem Bewußtsein ein zweites Mal die wahnhafte Vernichtung eines großen Teils der Menschheit zugelassen zu haben, kann schlechterdings keine revolutionäre Aufhebung der Verhältnisse mit der Perspektive allgemeinen Glücks betrieben werden.

Eine Israel unterstützende Linke wäre freilich in diesem Punkt keine radikale mehr und müßte partiell gegen ihre eigenen Erkenntnisse handeln. Gegenüber dem israelischen Staat hätte sie so etwas wie eine „kritische Solidarität“ zu praktizieren (6) , ähnlich der Haltung von staatstreuen Linksliberalen hierzulande, die ihre gelegentliche Kritik immer nur zum Besten des Staates verstanden wissen wollen. Eine solche Haltung beinhaltete beispielweise durchaus die Kritik an „Mißständen“ – auch grauenerregenden –, die nicht zur Behebung des „Mißstandes“ durch Aufhebung seiner staatlichen Ursache führen will, sondern sich der letztendlich aussichtslosen Bemühung verpflichtet fühlt, den „Mißstand“ zum Wohle des Staates, der ihn erst hervorgebracht hat, zu beheben. Wenn beispielsweise in israelischen Gefängnissen gefoltert wird und dies vom Obersten Gerichtshof juristisch abgesegnet wird ist dies ein solcher „Mißstand“ der für uns auch im Interesse des israelischen Staates nicht hinnehmbar ist, obgleich er auch in Israel das Wesen der Staatlichkeit und ihre grundsätzliche Verworfenheit offenbart.

Bezüglich der äußeren Sicherheit Israels hätten wir kompromißlos zu sein. Israel als Bedingung relativer Sicherheit der Juden in einer Welt, die weitere antisemitische Menschheitsverbrechen zumindest als Möglichkeit bereithält, muß über jedes Mittel verfügen, antisemitische Bedrohungen jeder Art abzuwehren. Einem völkisch-islamistischen Judenhasserkollektiv wie den derzeit in Vernichtungswahn sich gerierenden sogenannten Palästinensern darf keinerlei Zugeständnis gemacht werden. Eine sich aus dieser Einschätzung ergebende sehr harsche Kritik der israelischen Zugeständnisse seit den „Oslo-Verhandlungen“ 1993 wird sich auch auf die Erfahrung der Kapitulationspolitik der europäischen Sozialdemokraten gegenüber dem historischen Faschismus zu beziehen haben. So weit, so gut, aber die Inschrift „Kindermörder“ neben der Synagoge.

 

VII. Niemand vermag zu sagen, wer konkret die Inschrift „Kindermörder“ neben der Berliner Synagoge angebracht hat. Die einen meinen, es seien Rechte gewesen, die anderen sprechen von Linken, wieder andere identifizieren Palästinenser als die Autoren. Selbstverständlich werden auch die üblichen „Betrunkenen“ – also Normalos, die hinterher selbstverständlich nicht mehr wissen, wie sie so etwas hatten tun können – als Täter genannt. Alle Genannten und noch viele andere mehr könnten es gewesen sein. Es ist nicht so wichtig, wer es war, wichtig ist, daß fast alle, die man fragt, den Tätern gewisse nachvollziehbare – wenn auch nicht immer geteilte – Gründe zubilligen oder doch zumindest den Anlaß der Schmiererei irgendwie verstehen können. Schließlich hätten die Israelis doch palästinensische Kinder umgebracht. Dies scheint hierzulande offenbar ausreichend Grund für die Schlußfolgerung „Juden sind Kindermörder“ zu sein. Auch für den Ende Juli in Düsseldorf verübten Handgranatenanschlag auf jüdische Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion bedurfte es nicht des lang erwarteten und bis heute nicht eingetroffenen Bekennerschreibens. Die Tat sprach für sich. Jeder weiß schließlich, in welchem Land wir leben.

Anmerkungen:

1) Über den Verlauf dieser Demonstration kann hier leider nichts gesagt werden; sie findet dummerweise zwischen dem Verfassen dieses Textes (Anfang November) und dem Erscheinen dieser Ausgabe (Ende November) statt.

2) Meinhofs Text „Drei Freunde Israels“, erschienen in konkret Nr. 7, 1967, ist nachzulesen in: dieselbe: Die Würde des Menschen ist antastbar. Aufsätze und Polemiken. Wagenbach, Berlin 1986

3) Dazu ist in anderen Ausgaben dieser Zeitung schon einiges gesagt worden. Siehe dazu insbesondere die BAHAMAS Nr. 20 mit dem Schwerpunkt Elemente des Antisemitismus.

4) Angesichts der üblichen Verwendung des Begriffs materialistisch als rostigen Nagel, mit dem ein naives Gemälde der Gesellschaft als einer von lauter divergierenden Interessen bestimmte Veranstaltung an die schiefe Wand der traditionslinken Weltanschauung gehängt wird, scheint es eigentlich angeraten zu sein, ihn auf dem legendären Schrottplatz der Geschichte den ideologischen Müll-Recyclern zu überlassen. Wenn er hier trotzdem noch einmal verwendet wird, dann hilfsweise als Attribut einer Theorie, die politisch-ideologische Phänomene nicht einfach als Widerspiegelungen handfester Klassen- und anderer „-widersprüche“ bzw. „-kämpfe“ zu begreifen sich bemüht, sondern grundsätzlich die Frage nach der Konstitution der Subjekte unter der unbegriffenen Herrschaft des Kapitals als gesellschaftliches Verhältnis an den Anfang ihrer Überlegungen stellt.

5) Der Begriff Lynchmord trifft eigentlich nur den Aspekt der Selbstjustiz durch die Menge, angesichts der bestialischen Art des Mordens erscheint er fast als Verharmlosung.

6) Auch wenn dies ein abgeschmackter Begriff ist, der von den Freunden des Realsozialismus und sogenannter „Nationaler Befreiungsbewegungen“ bis zum Erbrechen strapaziert wurde.

  Zum Artikel der Ökologischen Linken Wien